3 Vorbemerkung Es ist ein altes Thema der menschlichen Gesellschaft und eine der Urfragen des Christen tums: wie geht eine Gemeinschaft mit den Verlierern im Konkurrenzkampf um, mit ihren Ausgegrenzten, ihren Armen. Die Wohlstandsgesellschaft der Gegenwart hat sich lange dem Glauben hingegeben, angesichts der Segnungen der sozialen Netze mindes tens in Mitteleuropa das Problem gelöst zu haben. Erst die schmerzlichen Einsichten in die offenbar strukturell bedingte Krise der modernen bürgerlichen Welt mit Massen arbeitslosigkeit und wachsender sozialer Ungleichheit hat breite Kreise sensibilisiert für das Gefahrenpotential der Misere: Wer ist noch vor Absturz gesichert in jene fatale »Unterschicht«, die es ja schon deshalb geben muss, weil wir gern von Oberschichten reden. Der wohlhabende Westen und der ärmere Osten der Republik treffen sich neu erdings in der gleichen Angst. Seit Herbst 2006 bewegt das Armuts-Thema verstärkt auch Öffentlichkeit und Politik des Landes: wie Armut zu definieren sei in der reichen Bundes republik, welche soziale Typik zu ihr gehört, wie ihr beizukommen wäre und ob die Krise neue Totalitarismen provoziert. Die prekäre Lage hat die Wortfindung vom »Prekariat« hervorgebracht - was heißen soll, wenn auch das Proletariat als traditionelle Armen schicht in der alten Rolle längst nicht mehr existiert, der soziale Abstieg kann heute die ganze Mittelschicht erfassen (4% der Bevölkerung im Westen, 20% im Osten rechnen Soziologen zu den »Ausrangierten«). Der Ursprung des vorliegenden Heftes liegt mit der o. g. Eingangsfrage weiter zurück als die zitierte Debatte, die ihr freilich Aktualität verleiht. Armut, in der Vergangenheit für den Einzelnen meist von absoluter Durchschlagskraft, ist im Wohlfahrtsstaat eine relative Größe, die oft stärker kulturell denn ökonomisch zu fassen ist. Das Heft geht die sen Wandlungen nach von der mittelalterlichen Armenpflege der Dresdner Klöster und Kirchen und den Ausgrenzungen der Epoche über das Bettlerwesen im 18. Jahrhundert bis zu den Verlierern der Industrialisierung und dem Massenelend der Inflation. Sonder formen paradoxer Verkehrungen im Wohlstands- und Bildungsgefälle sind bei den »Kul tur-Assis« der DDR genau so zu finden wie in der Sprachakrobatik ratloser Politiker von heute, die mitsamt aller ganz realen Definitionsveränderung der Analyse unterzogen wird. Leider wurde uns kurzfristig ein Text zur Arbeitslosensituation der 1920er Jahre abgesagt, so dass hier drei Berichte assoziativ für das wichtige Thema stehen; wie über haupt die vorliegenden elf Aufsätze nur beispielhaft die Entwicklung einer fundamen talen Kulturfähigkeit spiegeln können: solidarisches Verhalten. Für Unterstützung bei diesem Konzept dankt die Redaktion Konstantin Hermann. Hans-Peter Lühr