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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 10.06.1904
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1904-06-10
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19040610028
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1904061002
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1904061002
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1904
- Monat1904-06
- Tag1904-06-10
- Monat1904-06
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Anzeigen-PreiS die 6 gespaltene Petitzeile 25 Reklamen unter dem RedaktionSstrich (4 gespalten) 75 nach den Familiennach richten jt> gespalten) 50 -H. Tabellarischer und Ziffernfatz entsprechend höher. — Gebühren für Nachweisungen und Lssertenannahine 25 Hrtra-Veilagrn .gesalzt), nur mit der Morgen-Ausgabe, ohne Postbesörderung 60.—, mlt Postbeförderung ./L 70.—. Annahmeschlutz ,ur Anzeigen: Abend-Ausgabe: vormittags 10 Uhr. Morgen-Ausgabe: nachmittags 4 Uhr. Anzeigen sind stets au die Expedition zu richten. Die Expedition ist wochentags ununterbrocheu geöffnet von früh 8 bis abends 7 Uhr. Truck und Verlag von E. Pol; in Leipzig (Inh. vr. V.,R. L W. Kliukhardt). Nr. 2S2. Freitag den 10. Juni 1904. 98. Jahrgang. Var Llicbtigrte vom Lage. * Die Königin-Witwe Carola hat ihre Reise nach Sibyllenort mit Rücksicht auf den Zu stand des Königs endgültig aufgegeben. (S. Lachsen.) * Zum Ehrendienst beim König Eduard von England in Kiel wird auf Befehl des Kaisers die erste und zweite Kompagnie des ersten Garde-Regiments von Berlin nach Kiel kommen. * Die Kommission zur Vorberatung der Reform des Strafprozesses tritt am 5. I u l i wieder zu weiterer Beratung in Berlin zusammen. * GrafHoensbroech hat gegen das Urteil des Trierer Landgerichts in seinem Prozeß wider Dasbach Berufung an das Oberlandesgcrichl in Köln eingelegt. * Die Budgetkommission der französischen Kammer bewilligte den außerordentlichen Kolonialetat in Höhe von 25 Millionen Francs. * An Bord des nordamerikanischcn Panzerkreuzers ..Detroit" wurde zwischen den Vertretern der Do minikanischen Regierung und der Rcvo- lutionspartei das Friedensprotokoll unterzeichnet. Die Bedingungen sind derart, das; damit die Schutzherrschaft der Vereinigten Staaten über die Negerrepublik tatsächlich zum Ausdruck kommt. kin trüber Vila. Vor dem Landgericht Saarbrücken wird zur Zeit ein Prozeß verhandelt, der eine Folge der letzten Saar brückener Reichstagswahl ist. Der frühere Bergarbeiter Krämer verbreitete im März als Vertrauensmann des sozialdemokratischen Bergarbeiterverbandes ein Flug blatt, in dein die Bergwerksdirektion der Vergewaltigung und der systematischen Unterdrückung der Arbeiter be schuldigt wurde. Der Vorsitzende der Bergwerksdirektion, Geheimer Bergrat Hilger, stellte den Strafantrag. Ter Prozeß bat nun bereits eine Reihe von Tatsachen zn Tage gefördert, deren Charakter es der Presse zur Pflicht macht, die Oeffcntlichkeit auf sie hinznwcisen. Wir geben in folgendem einige Aussagen wieder, die insofern schon gänzlich unverdächtig sind, als sie vorzugsweise von Geist lichen, also von Persönlichkeiten herrühren, deren Beruf eine gewisse Neutralität bedingt. Selbstverständlich wollen wir damit nicht etwa die übrigen Zeugen ver dächtigen, aber es ist natürlich, daß die Aussagen un- beteiligter dritter Personen besonderen Anspruch auf Be achtung haben. Pastor Müller erklärte, bei der Ersatzwahl im Juli 1903 seien den Arbeitern nationalliberale Stimmzettel in einer Weise überreicht worden, daß sic diese in die Urne werfen mußten. Stimmzettelvertciler für den Zentrums kandidaten seien nicht geduldet worden. Invalid Dekkan erklärte, daß bei der Ersatzwahl 1901 40 Berg leute in geordnetem Zuge zur Wahlurne geführt worden seien. Als ein Stiminzettclvcrteiler ihnen Stimmzettel geben wollte, sei dies mit den Worten zurückgewiesen worden: „Die Leute haben bereits Stimmzettel." Pastor Schütz erklärte, der Steiger Becker habe genau über- wacht, ob die Wähler dem Wahlvorsteher den ihnen ein gehändigten nationalliberalen Stimmzettel übergaben. Küster K arsten führt aus, es sei ein Aufpassersystem geübt worden. Nach den Wahlen von 1898 haben einige Wähler weinend beim Pastor Schütz Klage darüber ge führt, daß sie nicht so wählen könnten, wie sie wollten. Pastor Alberts erklärt, daß der Bergmann Schcpp auf die Aufforderung, Stimmzettel zu verteilen, geantwortet habe: „Wir sind nicht hier, um Stimmzettel zu verteilen, sondern um zu beobachten, ob die Leute auch die national liberalen Stimmzettel abgeben." Anfpasserscenen sind mehrfach photographiert worden. Kaplan Thomä er klärt, die Bergleute zitterten, wenn sic bloß einen Vor gesetzten sahen, und getrauten sich alsdann kaum aufzu schauen. Als der Bergmann Koster zur Leistung des Zeugeneides aufgcfordert wird, unterbricht er den Vor sitzenden mit der Frage: „Wenn ich nun hier die Wahr- heit sage, kann ich dann abgelegt (entlassen) werden?" Mehrere Arbeiter sind der Ansicht, daß ihnen nach den Wahlen durch allerhand dienstliche Benachteiligungen, ja sogar durch Entlassungen die Unzufriedenheit ihrer Vor- gesetzten kundgegeben worden sei. Bergmann Engel bekundet, im Januar 1903 sei er Mitglied des Gruben- ausfchusses gewesen. Er habe kurz vorher auf einer Strecke einem Unfall beigewohnt, der zwei Arbeitern das Leben kostete, und habe dann in das Zechenbuch ge- schrieben: „Da die nötigen Vorsichtsmaßregeln vielfach außer acht gelassen werden, halte ich eine öftere Kontrolle ohne Abteilungssteigcr für angebracht." Darauf habe ihn der Bergrat Stöcker vor sich kommen lassen und zu ihm gesagt; „Wie kommen ^e dazu, solche Dummheiten Zechenbuch zu schreiben? Wir brauchen niemanden, um Kritik zu üben." Bergmann Heinz: 1903 sei er ge wählter Vertrauensmann der Bergleute gewesen. Als solcher hatte er die Pflicht, einmal monatlich die Strecke seiner Steigerabteilung zu befahren und etwaige vor gefundene Mißstände in das Zechcnbnch im Obersteiger, bureau einzutragcn. Obersteiger Rieß habe ihm aber die Eintragung mit den Worten verboten: „Das ist Frech- heit, das kommt mir nicht hinein." Zeuge Lehmann erklärt, der Steiger Grieseniann habe ihm einmal gesagt: „Wenn Sie sich beschweren, dann bekommen Sie eins mit dem Stock auf den Kopf, daß das Blut hcrabspritzt, Sie haben sich nicht zu beschweren." Als er einmal auf seine Frau und Kinder hingcwiescn habe, habe Bergwerks- inspektor Käther erwidert: „Was geht mich Ihre Familie, Ihre Frau und Kinder an?" Zu dieser Aus- sage müssen wir ausdrücklich hcrvorheben, daß der Steiger Griesemann ans die Frage des Verteidigers, ob ec einmal den Bergmann Lang mit einem Stock mißhandelt habe. die Antwort verweigert. Pfarrer Schmitz erklärt, in Wemetsweiler seien die Wohnungen der Bergleute dir- artig, daß sie allen gesundheitlichen und sittlichen An- fordcrungen geradezu Hohn sprächen. Auch die Lebens haltung der Bergleute sei äußerst schlecht. Tie Bergleute seien nicht in der Lage, täglich Fleisch zu essen. Hier fragt Geheimrat Hilger: „Sind Sic denn der Meinung, daß die Leute täglich Fleisch essen wollen?" Zeuge: „Jawohl!" Geheimrat Hilger: „Ich glaube das nicht!" (Große Heiterkeit im Zuhörerranm.) Mit dec letzten geistreichen Frage des Herrn Geheim rats möchten wir die übeldnftende Blütenlese schließen. Der Herr Geheimrat ist augenscheinlich Vegetarianer. Er kann sich gar nicht denken, wie jemand auf Fleischkost Wert zu legen vermag. Natürlich könnten die Bergleute bei ihrem Einkommen sehr gut Fleisch essen. Daß sie es nicht tun, geschieht aus purer Bosheit, und demnächst werden wir hören, ihre Enthaltsamkeit sei lediglich eine Folge der sozialdemokratischen Verhetzung. Selbst wenn man die Aussagen der Bergleute und der klerikalen Geistlichen insofern mit Vorsicht aufnimmt, als sie bei aller subjektiven Wahrheitsliebe doch durch Parteigeist und Klassenhaß gefärbt sein mögen, muß man doch zu gestehen, daß das Bild, welches diese Verhandlung ent rollt, ein überaus unerfreuliches ist. Daß zahlreiche Wahlbeeinflussungen vorgekommen sind, ist ganz äugen- scheinlich. Aber auch im inneren Dienst scheinen überaus schwere Mißstände vorzuliegen. Wir haben nicht den Ein- druck, daß der Ton, in welchem die Vorgesetzten mit ihren Untergebenen verkehren, der modernen Airkmssnng des Verhältnisses zwi'^en Arbeitgeber nnd Arbeitnehmer ent- spricht. Die Gleichgültigkeit, mit der ein hoher Beamter sich über die Lebenshaltung der Leute äußert, ist zum mindesten befremdend, und selbst körperliche Miß- Handlungen scheinen vorgekommcn zu sein. Wir sind noch weit entfernt von der selbstverständlichen Anerkennung der verfassungsmäßigen politischen Rechte und, was noch viel trpuriger sit. nicht minder weit entfernt von einer wahrhaft menschlichen Auffassung dienstlicher Be ziehungen und von einem freudigen Zusammenwirken Aller :m Dienste einer Sache. Der Ruktanä Oer Herero. Die Geretteten vsn Waterberg. Es war bisher, auch nach der Veröffentlichung des Be richtes des Missionars Eich in dem amtlichen Deutschen Kolonialblatt, nickt bekannt geworden, wie sich die Schicksale der Geretteten von Waterberg, nämlich der Witwe des am 14. Januar ermordeten Kaufmanns Sonnenberg und ihres Kindes, einer bei ihr im Haus beschäftigten früheren Kranken- sckwester, nnd des Missionars Eich und Frau vom 24. Februar an, dem Tage, wo sie Waterberg verlassen durften, bis zum 11. April, dem Tag ihrer Ankunft in Okahandja, gestaltet hatten. Die „Braunsckw. N. Nachr." bringen eine Schilderung der jetzt in Wendeburg bei ihren Eltern weilenden Frau Sonnenberg, welche diese Lücke ergänzt. Tast Frau Sonnenberg und ihr Kind, so lautet im wesentlichen der aufgenoiiimene Bericht, den wir in einigen unrichtigen tatsäch lichen Angaben und in der Reihenfolge ändern müssen, von den Herero verschont blieben, hat sie ihrer Bastarddienerin zu ver danken, die sich vor die Hütte, wo sie untergebracht waren, legte und erklärte, daß der Weg zu ihrer Herrin nur über ihre Leiche gehe. Sobald Sonnenberg erschlagen war, stürzten die Mörder an die Schränke, rissen die Kleider heraus, beraubten die Leiche, demolierten und plünderten das Haus. Im Hause des Missionars begann unsere Gefangenschaft, die bis zum 24. Februar währte. David, der Sohn eines verstorbenen, einfluß reichen Häuptlings, ein Zögling des Missionars Eich, schützte uiiS; er wollte nicht, daß seinem alten Lthrer, der 31 Jahre unter de» Schwarzen gewirkt, etwas zu Leide geschehe, und gab sich auch tatsächlich Mühe, uns vor seinen eigenen Leuten uud vor dem Blutdnrste anderer zu bewahren. Die Ge fangenschaft war sehr streng. Die Bewohner des Hauses durften nachts kein Licht machen, die Fenster mußten dicht verhängt sein, ebenso Ivar ihnen verboten, sich aus dem Hause zu ent- sernen. Am 24. Februar mußte der Missionar mit den Genannten das Haus verlassen nnd sich dem Hererostamm anschließen, der sich nach wochenlangcn Kreuz- und Querzügen durch die Wildnis mit dem Hanpttrnpp Samuel Mahareros vereinigen sollte. Diese Wochen mit ihren Strapazen nnd Entbehrungen waren die fürchter lichsten für die weißen Gefangenen. Gegen das Todesgrauen waren sie allerdings schon so ziemlich abgestumpft; sie ahnten nicht, daß sie noch einmal die Heimat Wieder sehen würden. Man hatte nur den einen Wunsch, daß die Martern nicht zu lange währen möchten. Die Häuptlinge ver langten oft Tee nnd Kaffee von ihnen, der, solange sie noch Vorrat hatten, gern gewährt wurde. Stück für Stück ward ihnen weg genommen; man ließ ihnen zuletzt nur noch 14 Ochsen. Daß das Kind, das trotz dieser Strapazen munter blieb und das von all dem schweren Leid nichts fühlte, so gut unter der afrikanischen Sonne gedieh, ist dem Umstande zuzuschreiben, daß man ihnen Kühe gelassen, mit deren Milch der Kleine ernährt werden konnte. Aber auch die nahmen ihnen die Herero mit Wissen und Willen Samuels später noch — am Tage ihrer Entlassung — weg, nachdem David, der Protektor, schon bei Oviumbo die schönsten Trcckochfen mitgehen geheißen. Wenn die Lage besonders kritisch wurde, genügten die Ermahnungen des Missionars, seine eindringlichen Worte, die Herero von dem Schlimmsten abzuhalten. Eines Tages rief ihnen Missionar Eich im Lager zn: „Warum quält ihr uns so lange, wenn ihr uns töten wollt? Macht uns tot, aber laßt uns nicht f» lange leiden. Quält ihr euer Vieh so lange, wenn ihr es schlachtet? Ihr sagt: Nein! Wohlan denn, seid auch gegen uns so menschlich!" Diesen Worten folgte ein seltsames Schweigen seitens der Herero, bis einer langsam antwortete: Wer sagt dir denn, daß wir dich umbringen wollen! Tann zog sich die sogenannte Kriegspartei beschämt zurück. Endlich, am 7. April, schlug die Befreiungsstunde. Nachdem die Häuptlinge noch einmal großen Rat abgehalten, wurden die Gefangenen bei Oviumbo in Gnaden entlassen. Frau Sonnen berg erzählt darüber: Nachts um 12 Uhr hinter Otjosatu ver ließen uns die letzten Bastards. Wir standen nun allein in der afrikanischen Wüste. Von neuem begann die beschwerliche Ochsensahrt. Ta wollte es ein unglücklicher Zufall, daß die wenigen uns gebliebenen Ochsen in eine Erdspalte gerieten, aus der sie trotz aller Mühe nicht herauszubringen waren. Mir blieb keine andere Wahl, als mit dem Bastardmädchen nach Okahandja, das noch Stunden entfernt lag, aufzubrechen und Hülfe zu holen. Der Missionar nnd seine schwer leidende Frau sollten fo lange Zurück bleiben. Ich nahm mein Kind auf den Arm und begann die Feuilleton. Tamms Garten. 22f Roman von Wilhelm Jensen. . Nachdruck verboten. Die Nacht ließ ihn lange schlaflos, an seinen Augen und Ohren zogen immer wieder die jäh hcreingebrochcuen Vor gänge des Nachmittags vorbei; er sah das trünennassc Gesicht Amellas, hörte ihre Stimme in unvcrhaltbarer Verzweiflung schluchzen. Dazwischen trug die Stille von der Stadtkirche her die Schläge der Uhr l-cvübcr, derselbe Glockenton war's, Her ihn ein Jahrzehnt hindurch am Morgen aufgetrieben, ost im Dunkel durch Wintcrsturm und Schnccgewirbel zur Schule gerufen hatte. Unbcmetz- bare Zeit schien ihm vergangen, seitdem das zum letzten Male geschehen, und nicht glaubhaft, daß die Nachrechnung nur eine kleine Anzahl von Wochen ergab; eine Zeit, in der er noch ein unerfahrener Knabe gewesen und zum lcbenskundigcn Manne geworden. Zweite, dritte und vierte Nachtstunde klang vom Turm, danach schlug die Uhr nicht mehr, sondern sagte mit einem summenden Ton: „Morgen". Der Schlaf lmtte sich endlich seiner bemächtigt, doch seinen Sinnen das Treiben der Bilder und Empfin dungen nicht weggclöscht, eher noch deutlicher gestaltet uud verstärkt. Denn nun brachte der Traum ihn wieder mit Amella zusammen, in ihre Kammer, wo er neben ihr saß, von ihren Armen beim ungestümen Schmerzausbruch so heftig umschlungen ward, daß sein Kopf haltlos zurückficl, und er sah, hörte, fühlte nochmals alles, nach Traumesart zugleich noch leibhaftiger nnd geheimnisvoller als in der Wirklichkeit. Kaum atcmsähig, wie unter einem Albdruck, lag er, und verworrene Laute rangen sich von seinem Munde; nur dämmerte ein hülfreiches Bewußtsein in ihm, er habe von einer Fee in Tamms Garten einen goldenen Zauberstab in einer Lederumliüllung erhalten, Amella und sich damit aus der Gemalt einer Schlange zu erlöse«, die ihn vom Kopf bis znm Fuß. fest angeschmiegt, mit ihren Gliedern umringelt hatte. Daraus gewann seine Brust das Vermögen zurück, nach Luft zu ringen, so daß er sich aufrichten konnte, vielmehr in einen unruhigen Schlaf verfiel, aus dem ihn erst der schon weit vorgeschrittene Morgen erwachen ließ. Sich rasch ankleidcnd, sah er jetzt zum ersten Mal seine Mutter, die bei seinem Anblick nur in laute Wehklagen ausbrach, daß ihm nicht möglich sei, Theologie weiter zu studieren, und jammerte, was nun aus seiner Zukunft werden solle. Zweifellos ging's ihm d raus hervor, sie denke nicht an die seinigc, sondern allein an ihre eigene, der die Aussicht auf das bequeme Lebvn im Pfarrhaus zer stört worden; unabweisbar übetkam ihn die Erkenntnis, es bestehe kein Verband des Geistes und Gemütes zwischen ihnen, und er machte baldmöglichst dem Zusammensein mit ihr ein Ende. Doch war aus ihren Reden ein Antrieb in ihn geraten, sogleich die nötigen Schritte für den Beginn seines neuen Studiums zu tun; er begab sich deshalb zur Stadt in die Universität, um bei dem Dekan der medizini schen Fakultät seinen Uebcrtritt in diese anzumelde». Hier mußte er erst auf den Schluß eines Kollegs warten, bei dem Betreffenden Vorlatz zu erhalten; als er danach wioder vor das Gebäude hinaustrat, traf sein Blick in einiger Entfernung auf zwei, Arm in Arm die Straße ent lang schreitende weibliche Gestalten, von denen die eine sich zufällig kurz umwendete und die frühere Scrvantc in der Fortuna, die schwarzhaarige Paula erkennen ließ. Ihre Begleiterin trug einen eleganten Wintermantel uud Hut, die Dieter schon einmal gesehen zu haben glaubte, so daß ihm flüchtig der Gedanke austauchte, cS seien die neuen Kleidungsstücke, die er für Amella gekauft hatte. Doch mußte das selbstverständlich ans einer Täuschung beruhen, denn sic konnte um diese Zeit aus der Wirtschaft nicht fort sein und wäre fraglos auch nicht in solcher Vertraulichkeit mit der anderen gegangen. Die Vorstellung, daß gegen wärtig vermutlich kein Gast in der Fortuna anwesend lei, erfaßte ihn mit einem Helligen Drang, sich schon jetzt dort hin zu begeben; aber er leistete willenSkräftig Widerstand, seinem festen Vorsatz, dem Abwarten der gewohnten Nach mittagsstunde, nicht untreu zu werden. Auch etwas an deres konnte er nicht mehr aussührcn; es hatte in seiner Absicht gelegen, so bald als möglich seinen Vormund aus zusuchen, nm diesem mitzutcilcn. was er gestern eigen mächtig getan nnd weshalb er dazu gezwungen gewesen. Doch ein Blick auf die Uhr zeigte ihm. es sei jetzt dafür zu spät, er müsse seinen Gang dorthin bis zum Nachmittag anfschicbcn. Der Justizrat saß voraussichtlich schon bei Tisch, und die Anzeige drängte auch nicht so sehr, da er jedenfalls noch nichts von dem Fehlen des GoldbcutelchcnS wahrgcnommen hatte. Durch den langen Schlaf war Dieter der Vormittag so zusammcngeschrnmpsl, daß er sich eilfertig zum Esse» wieder nach Haus aufmachen mußte und dabei auf hundert Schritte an Petzold nnd Ellendsheim vvrübergeriet, ohne sic zu bemerken. Gleichfalls Arm in Arm gehend, sprachen sic über Korpsangelegenheiten und der erstere sagte: „Also vertritt mich als Senior so lange, wie s notig wird — wie lange das „so lange" dauert, kann ich augen blicklich noch nicht sagen — bis die Langeweile an fängt." Sein Standesgenosse versetzte lachend: „Die, denk' ich mir, wird diesmal ziemlich auf sich warten lassen und ich muß mich wohl für gute Zeit aus deine Stellvertretung gefaßt machen — in Familien angelegenheiten, sagtest du." Ausblickend brach Wichard Ellendsheim ab und setzte nach kurzem Anhalten hinzu: „Ouri-nca 6X tabula — du sagtest auch, daß du für sein Bestes sorgen wolltest." Nun lachte Detlev Petzold ebenfalls: „Tu' ich das etwa nicht, indem ich ihn abhalte, einen unsinnigen Streich zu machen? Uebrrgcns deine Tante meine Tante, so zu sagen, »in den ehrwürdigen Namen soorus nicht zu mißbrauchen, halt' sic, mo abgeute, gut unter Kuratel fort! Familienangelegenheiten sind meistens kostspielig — wenigstens kann man's nicht vor her wissen — und sie mntz für etwaige Notfälle mit ihrem Silbertopf haushalten. Kein Vergnügen ohne Pflichten, das ist ein tief moralisches Prinzip." Die beiden ckvgcn vom Weg ab, ans dem Dieter seinem Dorf zugiug. Seine leibliche» Augen »ahmen heute kaum etwas von den Dingen nm ihn gewahr, doch die geistigen hielt er klar in die vor ihm liegende Zukunft vvranfgerichtet und gab sich keiner Täuschung darüber hin, daß er Jahre mühevoller Anstrengung aller seiner Kräfte zu bestehe» habe» werde. Aber dieser Tag hatte mit 'der Anmeldung seines Uebertrittes zur medizinischen Fakultät den Beginn dazu geinackt, und er fühlte un- wankbaren Mitt nnd Stärke in sich, für den vor ihm leuchtenden höchsten Lebensprcis jedes Hemmnis zu überwinden. Als nnabwcislich stand die äußerste Be schränkung seiner Ausgaben und die Notwendigkeit seines Austritts aus dem Korps vor ihm; durch ein günstiges Geschick hatte er noch die Mittel besessen, seine Brant vor der über sic hcreingebrochcuen entsetzlichen Gefahr zu behüten, mußte nun aber sich durch Unterricht geben die Möglichkeit zur Vollendung seines neuen Studiums erwerben. Das mußte, doch das konnte er auch; ihn rührte ein freudiger, stolzeinflößender Gedanke an, er hebe sich damit innerlich über seine Genossen empor, die genügend mit äußeren Mitteln versehen, nicht zu der Befriedigung gelangen konnten, durch eigene Kraft ihr Ziel erreicht zn haben. Ihr Denken ging kaum über den heutigen Tag hinaus, und sie lebten mühelos nur für sich allein; der höchste Loh», den unverzagter Kampf zur Erringung des Glückes für eine Lebensgefährtin ein- trng, blieb ihnen unbctannt. In ihrem Ucberfluß bc- dünkten sic ihn bedauernswert; eine ernste, feierlich gehobene Stimmung erfüllte ihm die Seele. Nur eine körperliche Unruhe vermochte er nicht zu beherrschen, sie durchrüttclte seine Glieder ab und zu wie ein jäher Fieberansall, jedesmal, wenn ihm die Vorstellung seiner Zusammenkunst mit Amella am Nachmittag austauchte. Zittern befiel ihn bei dem Gedanken, daß ein Umstand sie nötigen könne, um ungehört zu sprechen, ihn wieder in die kleine Kammer zu fülwen; säst drängte sich ihm ein bangender Wunsch auf, er wäre schon bei ihr gewesen, stände wieder allein draußen vor der Tür. Ein wider sprechender Gegensatz lag darin zu der seelischen Ruhe und Klarheit, mit der er sich das Bild des Verlaufs der nächsten Jahre, ihres Gebotes zu unterlatzloser Arbeits tätigkeit gestaltet hatte. Doch war's so und ließ sich nicht erzwingen; diese Erkenntnis war ihm unabweisbar auf gegangen. Es gab Augenblicke, in denen der Körper dem Geiste den Gehorsam versagte. Wenn das Fieber ihn überwältigte, blieb er Hem Willen nicht mehr unter tan, sondern gab dem Ansturm nach wie ein vom Wind stoß gefaßter und haltlos nmgewirbelter Nohrl-aUn. Sv fühlte Dieter es zwiefckltig und gegensätzlich in sich, als die Nachmittagsstnnde gekommen war und ibn zur „Fortuna" hingebracht hatte. Sicher lag ihm alles auf der Zunge bereit, was er seiner Brant sagen, wie er ihr tröstlich seinen neuen Leckensplan entwickeln, sie mit festester Zuversicht in ihre gemeinsame Zukunft erfiillcn wolle, und dock stand er zugleich zitternd vor der Tür, fast einer körperhafte» Anwandlung, nickt weiter zu gel>cn, unterliegend. Aber dann gewannen t^sti't nnd Wille in ibm die Herrschaft zurück und er stieg die Treppe hinan. Wie beinahe stets um diese Zeit war das HanS laut los und leer, und gleicherweise empfing ihn die Schenk stube; auch Amella befand sich im Augenblick nicht drin anwesend. Das verhalf ihm zn ruhigeren, Atemholen, er konnte nock einmal überdenken, was er zu sprechen beabsichtigte, sogar geraume Zeit lang, denn graue Dämmcrsäden finge» schon an, den Raum zu durchsetzen,
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