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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 22.11.1904
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1904-11-22
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19041122029
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1904112202
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1904112202
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1904
- Monat1904-11
- Tag1904-11-22
- Monat1904-11
- Jahr1904
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Bezugs-Preis i, d« Hauptexpebitioa ober deren Ausgabe- stellen ab geholt: vierteljährlich 3.—, bet zweimaliger täglicher Zustellung in» Hau« ,/t 3.7b. Durch die Post bezogen für Deutsch land u. Oesterreich vierteljährlich ^l 4.S0, für die übrigen Länder laut ZeituuqSpret-liste. Diese Nmmuer kostet aus allen Bahnhöfen und 11» Vb I bei den Zeitung»-Berkäufern * -iedaktton un» Gx-edttwu: 1b3 Fernsprecher L22 Johanuisgaffe 8. Haupt-Filiale Dresden. Marienstrahe 84 (Fernsprecher Amt I Nr. 1713). Haupt-Ftliale Berlin: LarlDuncker, Herzgt.Baqr.Hofbuchbandlg„ Lüyowstratze 10 (Fernsprecher Amt Vl Nr. 4603>. Abend-Ausgabe. MMer Tageblatt Anzeiger. Amtsblatt des Aönigkichen Land- und des Königlichen Amtsgerichtes Leipzig, des Rates und des Rolizeiamtes der Ltadt Leipzig. Anzeigen-Preis die 6gespaltene Petitzeile 28 Reklamen unter dem RedaktionSstrich (4grspalten> 7b nach den Familiennmst- richtrn «6 gespalten) bO — Tabellarischer und Ziffernsay werden entsprechend höher b«. rechnet. — Gebühren für Nachweisungen und Ofsertenannahme 2b Anaatz»eschlutz für Nn;etgen. Abend-Ausgabe: vormittags 10 Uhr. Morgen-AuSgabe: nachmittags 4 Uhr. Anzeigen sind stets an die Expedition zu richten. Extra-Beilagen (nur mit der Morgen- Ausgabe) nach besonderer Vereinbarung. Die Expedition ist wochentags ununterbrochen geöffnet von früh 8 bis abends 7 Uhr. Druck und Verlag von E. Pol; in Leipzig (Inh. Or. V., R. L W. Klinkhardtl. dir. 595. Dienstag den 22. November 1904. 98. Jahrgang. Var Wichtigste vom rage. * Die von Gvyot de Villeneuve beim General Florentin, dem Großkanzler der Ehrenlegion, beantragte Maßrege lung AndrLS und der übrigen Unternehmer der ministeriellen Denunziationen wurde abgelehnt. (S. Ausland.) * In Prischtina haben Albanesen das serbische Konsulat in Brand zu stecken versucht. (S. Ausland). * Der „Standard" unterstützt eine Meldung der New Aorker „Sun", wonach ein Engländer Roche einen Tor pedobootszerstörer für Rußland nachLibau gekrackt habe, ungeachtet des Einschreitens der englischen Admi ralität und des deutschen Kanalamts. (S. russ.» jap. Krieg.) * Die Nachricht, daß der „Rastoropny" Meldungen Stössels aus Port Arthur mitgenommen habe, und daß drei russische Torpedoboote, die ebenfalls durch brachen, beschossen woroen sind, wird bestätigt. (S. russ.-jap Krieg.) Vie kinigung der Liberalen. Im großen Saale des „Zentraltheaters" sprach gestern abend der Reichstagsabg. Pachnicke über „Tie Einigung der Liberalen". Eine für Leipzig ganz statt liche Anzahl Besucher war der Einladung des liberalen Vereins gefolgt. In fließender Rede führte Herr Tr. Pachnicke ungefähr folgendes aus: Die konservative Partei, so sichere Aücx Dr. pachnicke aus, hat eine innere Wandlung durchgemacht. Früher die Hüterin des AutoritälSgcdantens und uncntwcgr regie rungsfreundlich, richtet sie jetzt ihre Bestrebungen Hauptfach! ch auf die Erhöhung der Preise für Korn, Fleisch, Spiricus und andere landwirtschaftliche Erzeugnisse. Zwisck'en ihr und dem Vund der Landwirte herrscht Arbeitsteilung. Die grobe Arbeit verrichten die bündlerischcn Agitatoren draußen im Lande, die feine die Parteiführer in den Gesellschaftszimmern der Minister, (te übertriebener die Forderungen des Bundes find, um so angenehmer die Stellung der Fraktion, die noch nn Licht der Mäßigung erscheint, sobald sic sich mir Zugeständnissen begnügt, die hinter den bündlerischcn Forderungen um ein Weniges zu- lückLleiben. So wurde die konservative Partei zu einer Per- irctung des Großgrundbesitzes, insbesondere des onelbischen Kleinadels, und hat es verstanden, eine nicht unberräckiliche Zahl von Mandaten fcstzuhalren oder zu gewinnen. Ter Um- 'äiwung Ivar so erheblich, daß sic sogar in ihrer traditionellen Haltung zu Landcsverteidimmgs-vorlagen wankend wurde. 2onst legte sic auf nichts so sehr Wert wie darauf, der Krone zu zeigen, daß in Machtfragcn allein auf sie Verlaß sei. Leit einiger Zeit aber blickt sie scheel auf die Entwickelung der see- gemalt, der „gräßlichen Flotte". Für sich allein ist die konservative Partei indes nicht stark genug: darum hält sic gute Nachbarschaft mit dem Zentrum. Tas Zentrum ist ein unnatürliches Parteigebildc. Sonst nützen sich Parteien auf bestimmte Gescllschaftsschichten. deren Wunsch und Willen sie zum Ausdruck bringen. Hier aber ist es die Konfession, die alle zusammcnschließt. So ver schieden die Interessen des industriellen Westens und des agrarischen Ostens sind, das katholische Bcivußlsein überbrückt üe doch; und so schwer bisweilen der Ausgleich werden mag, man findet ihn, weil man ivciß, daß aus der Einigung die Kraft erwächst, und das Zentrum nur so lange da? Zünglein an der Wage darstcllr, als cs sciize Getreuen geschlossen ins Feld führt. Seine Organisation ist gegeben: die Kirchen gemeinde bildet den Rumpf, der (Geistliche das Haupt. Jedes Pfarrhaus ist ein Agitationszcntrum. Mackst's der mild g'- wordenc alle Pfarrer nicht, dann macht es der Kaplan. Aller dings wird auch das Zentrum vom Finger der Sorge berührt; es schaut mit Bangigkeit dem Wachstum der Sozialdemokratie zu, die den Interessen der Kirche das Jnreresse des Arbeiters gegenüberstellt. Die Sozialdemokratie will als die alleinige Ver- tretuim der Arbeiterschaft betrachtet werden. Dieser Anspruch ist nicht ganz gerechtfertigt; denn erstens streben auch bücger- liche Sozialrcformer unter dem Gesichtspunkte des Gesamt wohls eine Hebung der unteren Gesellscijaftsschichten an, und zweitens gibt es allein unter den gewerblichen Arbeitern noch immer etwa zwei Millionen, die nicht sozialdemokratisch wählen. Doch so viel ist richtg: eine einseitige Intcressenvcrtreiung be- treibt die Sozialdemokratie; der Klaisentampf ist ihr L e b e n s e l e m e n t. Noch der Dresdener Parteitag ver urteilte auf das entschiedenste „alle Bestrebungen, welche darauf abziclen, die bisherige bewährte und siogge krönte, auf dem Klasscnkampf beruhende Taktik in dem Sinne zu ändern, daß an Stelle der Eroberung der politischen Macht durch lieber. Windung der Gegner eine Polirik des Entgegenkommens gegen über der bestehenden Ordnung der Dinge trete". Ten gleick-en Standpunkt hat Bebel ent neuerdings vertreten und mit 'hm alle leitenden Organe der Sozialdemokratie in Berlin wie in Leipzig und Hamburg Bürgcrlule, wclckrc erklären, nicht zu wissen, ivas der Begriff der Lohnarbeirerklasse besagen will, und die deshalb die Sozialdemokratie von dem Boden des Klassenkampfcs abdrängcn wollen, werden von ihr mit Spott und Hohn überschüttet. Allerdings hat sich auch in der Sozial demokratie ein Entwickelungsprozeß vollzogen. Revolutionär ist sie nichr mehr; sie arbeitet im Reichstag, in den Landtagen und Gemeindeverwaltungen mit. Aber der Charakter der Arbeiter-, also der Klassenpartei, wird nicht preisgeg.bcn. Außer dem Klasseninslinkt der Arbeiter kommt der Sozial- demokrarie die R ü ck st ä n d i g ke i t unserer poli. rischen Verhältnisse zu gute. Die Verteuerung der Lebensmittel durch staatliche Maßregeln wirkt verbitternd. Tas Billigteitsgefülst wird schwer verletzt, wenn Arbeiter aus Staatsbetrieben wegen ihrer politisci)en Uebcrzeugung entlassen werden, wenn man über Oiastwirrc den Militarbohkott ver hängt; wenn immer neue Ducllgcschichtcn verraten, lvclch' tiefe Kluft zwischen den Ehrbegriffen der Militär- und Zivilbevölke- rung liegt, wenn die McheslätSbelcidigungsprozesse über- wncl)crn. wenn Richtcrsprüä)c ergehen, die dem cinfacl-cn Manne uirvcrständlich sind. In der Tat, für die Sozialdemokratie mn ihre Gogmer und vor allem die Regierungen so viel, daß diese selbst nur die Hände nach den Frühsten auSzustrecken braucht, zu denen jene die Keime gelegt haben und immer von neuem legen. Tic politisckte Luft wimmelt von Unzufricdenh.iis- crrcgern. So vergrößert sich die Partei, die nachher in inter nationalen Fragen völlig versagt und sich auch sonst der Ueber- nehinc einer volitiscbcn Verantwortung so ivelt wie irgend möglich entzieht, oie die cKegenfähe zwilchen Arbeitgebern und Arbeitnehmern nach Möglichkeit verschärft und statt der monarcknschcn die republikanische Staatsform vertritt. Zwischen diesen Gegnern steht der Liberalismus. Rechts arbeitet die Interesscnpolitik des Großgrundbesitzers, links diejenige der Sozialdemokratie, in der Mitte die Kirckicn- Politik des Zentrums. Kein Wunder, daß er nach allen Seiten a„ Boden abgcben mußte. Die Schwierigkeiten vermehrten sich noch dadurch, daß die Rcgieruiig, statt Neutralität zu beob achten, gegen ihn Partei ergriff. Ter Staat verfügt über un geheure Nkachtmittcl; fast jedes Gesetz gab der Verivaltung neue Vollmachten. Sic hat Gewalt über das Schicksal von Millionen; sic kann Vergünstigungen gewähren oder versagen. Dieses Ncbcrgewicbt benutzt Ne zu llnguniten des Liberalismus und übt einen Truck aus, der sich bis in die kleinste Landsrad:, und da vielleicht am allcrstärkstcn, fühlbar macht. Nicht selten ge hört geradezu ein Heroismus dazu, für die freisinnige Partei offen civzutrcren. In dieser Ungunst der Verhältnisse liegt ein Hauptgrund für den Rückgang dcS Freisinns. Obwohl indes die Basis, die den Liberalismus trägt, schmäler geworden ist, sic reicht als Grund lage für eine ansehnliche Partei uniter be stimmten Voraussetzungen noch i m m e r a u s. Wir stützen uns auf den ländlichen Mittel- und Kleinbesitz, auf die städti schen Gewerbetreibenden, und zwar gleichmäßig auf Hand werker und Kaufleute, auf die Industrie, die einen Schutz des Anßcnchandels wünscht, auf Handel und Scknffahrt und auf liberale Berufe, wie diejenigen der Lehrer, Aerzte, Künstler, Schriftsteller. Das sind bedeutsame Volksclcmente, die über dies an Zahl zunehmcn. Sie zusammenzufassen und durch richtige Behandlung zusammen zuhalten, i st unjereHauptausgabe. Eines der Ntittel, um diesen Zweck zu erreichen» ist die Friedfertigkeit. Man sei duldsam in Unterfragen, rücke nicht immer das in den Vordergrund, waS zum W.der- spruche reizt. Im Lande ist inan längst des Srreites müde, der unter den Liberalen so viel Unheil angerichtet hat. Die Wählersck-aft kümnrmcrc die Finessen nicht, um die sich die Fraktionen streiten; sic kennt die großen Grundgedanken; sie fragt danach, ob der Mann, dem sic ihr Vcrrraucn schenken soll, aufrichtig liberal ist. Ist er das, so genügt es ihr. Das ist auch das allein Richtige. Zuletzt sind die hervor tretenden Verschiedenheiten doch mehr solche der Taktik als des Prinzips. Alle bekämpfen wir die Intcressenpolitik. Alle wollen wir dem Einzelnen die Freiheir erstreiken, die zu dessen Kraftcntfaltung nötig ist, die Volksschule und damit die Volksbildung auf eine höhere Stufe heben» ein Vereins- und Wahlrecht erringen, das die Beteiligung am öffentlichen Leben erleichtert, das Koalirionsreckt ausgestaltcn, die Handels beziehungen zwisclicn den Nationen sichern. Keiner von uns lvill bewußt die nationale Wehrkraft schwächen; denn das Land, das cs zu schützen gilt, ist unser Vaterland. Das zu seiner Verteidigung nachweisbar Erforderliche geben wir her und ver langen dafür um so energischer die Abstellung der Mißbräuche auf militärischem Gebiet. Was will es da besagen, ob der Eine ein paar Schiffe, ein paar Regimenter mehr oder weiniger bewilligt! Wie klein sind die trennenden Momente gegenüber der Größe der Aufgabe! Man blicke nur umher. Mit Riesen- schritten geht Deutschland dem Jndustriesystcm entgegen. Immer nnchr Schlote erheben sich, immer mehr Schienenzüge legen sich über das Land, eine neue Welt will sich entfalten. Wogendes Leben allüberall. Zeitungen und Zeitschriften schütten täglich, wöchentlich Schätze vor uns hin. Wie in einem Prisma bricht sich hier die Sonne der Kultur und wirft nack- allen Seiten leuchtende Strahlen. Am Büchermarkt herrscht eine kaum zu überbietende Regsamkeit; davon gibt Leipzig das beste Beispiel. Was die Universitäten in Herz und Kopfüber Jugend pflanzen, wächst und refft heran; die bessere Saat trägt beszerc Frucht. Die in der Industrie, im Handel, in der Literatur, im Erzichugswesen tätigen Schichten werd.m immer wertvoller und dürfen deshalb auch eine ihrem Werte ent sprechende Macht im Staate beanspruchen. Der Gutsbesitzer mutz sein Herrenbewußtsejn mäßigen und die Vertreter dieser emporstrebcndcn Bcvötkerungskrcise, den Fabrikbesitzer, den, Handelsherrn, den Arbeiterführer, den Lehrer und Gelehrten neben fick, dulden. Eine neue gesellschaftliche Oberschicht kommt herauf, eine neue Aristokratie, und fordert für ihre Ideen Spielraum in der Politik. Ein Ausdruck dieses Kul turfortschritts soll und will derLibcralis- mus sein. Tic Mahnung, Großes als groß und Kleines als klein zu sehen, das Trennende zurück-, das Einigeftde voranzustellen, richrct sieb nach allen Leiten. Zum Trennenden gehört die Idee eines Bündnisses mit der Sozialdemo kratie. Man sollte sich bei diesem Thema schon deshalb nicht ereifern, weil zur Zeit seine allgemeinen Wahlen bevorstehen, ein praktischer Anlaß zu generalisierender Behandlung also fehlt. Wo die lokalen Verhältnisse auf ein Zusammentvirkcn Hinweisen, da wirke man zusammen; wo dies nicht ratsam er scheint, da marschiere und schlage man getrennt. Was in Dessau und Eutin möglich war, ist darum noch nicht in Preußen, Sachsen und Bauern oder Württemberg oder gar Mecklenburg möglich. Die Verhältnisse liegen verschieden, und dieser Verschiedenheit muß ein Politiker, der Lein Hitzkopf ist, doch Rechnung tragen. Auch unter dem Gesichtspunkte der parlamentari sch e n ' A k t i o n s f ä h i g k e i t ist die Eintracht unbedingt notwendig. Wer die Stimmen hat. der bat die Macht Zuletzt entscheidet im Parlament die brutale Ziffer. Zu Mandaten aber gelangt man, nur, wenn man die Wählerschaft zu fasten und forrzureisen vermag, sie mit Mut, mit Zuversicht erfüllt. Auch in der Politik sind Glaube, Liebe, Hoffnung unentbebr- lich. Diese Regungen der Lccle aber werden nur auswlöst, wem- Eintracht herrscht. Im übrigen ist das sicherste Mittel, eine Volksvertretung zur Ohnmacht zu verurteilen, die Zer splitterung der Parteien. Darum heraus aus der Zersplitte rung! Darauf kommt es doch an, daß Grundsätze nicht nur her gesagt, sondern in die Gesetzgebung und Verwaltung cingcführ' werden Tie wirtschaftliche und geistige Bedeutung der hinter uns stehenden Kreise in politische Macht umzuwandeln, das ist's. Nickt regiert werden — mitregieren lbollen wir. ' Tie Ministcr rechnen mit Realitäten. Sie gehen dahin, wo die Mehrheit steht; sic treiben die Polrik, für welche sie im Parlament die Ltützen finden. Wächst die Zahl der libe ralen Mandate, kommt der Liberalismus für die Mehrheits bildung in Betracht, dann muß auch mir ihm gerechnet werden, dann, kann er. lvcnn er Zugeständnisse macht, zugleich Be dingungen stellen. So würde sich der Schwerpunkt der Politik von selber mehr nacb links verschieben Von unten also muß die Besserung kommen. In unserer eigenen Brust sind unseres Schicksals Sterne. Zu diesem Ziele führt nur ein einziger Weg: Vereini gung der Kräfte und damit Erhöhung der Energie. Die liberale Politik muß wieder, wie in früheren Zeiten, einen großen Zug be kommen, alles Kleinliche und Gehässige ausickeiden — dann lernt das Bürgertum von neuem an die Sacke der Frei heit glauben und sich am politischen Kampfe nachdrücklicher als jetzt beteiligen. Mit der Gesundung des Liberalis mus ist die Förderung des Gesamtwohls, der Aufstieg des ganzen deutschen Volkes, der Fortschritt der Kultur untrennbar verbunden. In der Debatte ergreift zuerst Herr Reichsgerichtsrat Boedke das Wort. Er wünscht ein allgemeines Wahl bündnis unter den liberalen Parteien, ein Bündnis von Fall zu Fall oder besser von Wahl zu Wahl. Es müsse wieder der große Zug in die liberale Partei hineinkom- men. Sodann besteigt Herr Fabrikbesitzer Graf die Rednertribüne. Die Sehnsucht nach liberaler Einigung bestehe schon seit langer Zeit. Der alte Fraktionshadcr müsse überwunden werden. Das deutsche Volk denke frei heitlich. Um die Reaktion erfolgreich bekämpfen zu kön nen, müsse sich die liberale Partei erst einigen. Ein Zu sammengehen mit der Sozialdemokratie aber sei unter ihren jetzigen Führern vollkommen aussichtslos. Tas Losungswort müsse heißen: Einigung der liberalen Par teien. In längerer humordurchwürzter Rede ergeht sich Herr Handwerksmeister Fischer über die Notwendig keit des Befähigungsnachweises. Der Handwerkerstand siehe schlecht da. Daran schuld sei die Gewerbefreiheit. Sobald die kleinen Meister zu existieren aufhörten, gäbe es ein paar hunderttausend Sozialdemokraten mehr. Die liberale Partei habe viel gesündigt; sie sei zum großen Teil an den heutigen Mißständen schuld. Mora- lisch müsse jeder Fabrikbesitzer verpflichtet sein, seine Ar beiter auszubilden. Zum Schluß wünscht er unter all gemeiner Heiterkeit alle Sozialdemokraten nach Süd afrika. Herr Justizrat Haber verspricht sich im Gegen- satz zum Vorredner von der gesetzlichen Regelung der Lehrlingsausbildung garnichts. Obgleich nicht national sozial, hält er die Idee, von der Naumann ausging, für groß. Die Sozialdemokraten, sollen zwar bekämpft, aber nicht als „vatcrlandslose Gesellen" hingestcllt wer den. Auch er ist der Ansicht, daß mit ihnen, solange sic ihr heutiges Programm vertreten, nicht zu paktieren ist. Man solle sich aber auch nicht weiter von den Massen ent fernen, als unbedingt nötig sei. Mit ziemlich heftigen Feuilleton. Die heilige Caecilie. äls Roman von M a r i e B c r n h a r d. Nachdruck »ertöten. Wenn einer meiner „Gönner" oder gar „Gönne - rinnen" mir jetzt über die Schulter sehen würden, . . . . ich erschiene ihnen reif fürs Irrenhaus! Vielleicht ist cs auch gefährlich für mich, solchen Phantasien nachzuhängen! Es ist aber dafür gesorgt, daß sic nicht ausartcn! Ich blicke mich in meinem Pensionsstübchen um, und ich sehe eine grelle, scheußliche Tapete, einen abgetretenen Teppich, verblichene Vorhänge, wacklige Möbel, — ich blicke an mir selbst herunter und sehe ein billiges blaues Crepon- Kleid, — aber es steht mir wenigstens gut zu Gesicht und sitzt wie gegossen an mir! — Manche von den jungen Mädchen, die bei Frau G. Gesangunterricht nehmen, sind reich, sie haben noble Toiletten und eigene Equipage. Selten aber verstehen sie cs, bannt umzugehen! Um der Mode willen tragen sic Kleider, die nicht für sie Passen, frisieren sie sich so, daß sie entstellt aussehen. Sie stehen schlecht, sie gehen schlecht, sie steigen schlecht in die Equi page, — viele singen auch schlecht! Keine Musik fürs Ohr und fürs Auge! Kein Rhythmus d'rin? — Ein paarmal war ich im Theater! Ninghaupts denken zuweilen daran, daß mir dies für meine künftige Karriere doch nur nützen kann! Abgelegte Konzertbillets hatte ich genug im vergangenen Winter, — wem es aus irgend einem Grunde nicht paßte, zu gehen, der erinnerte sich meiner, war sein Billett los und tat noch ein gutes Werk dazu. Immer war es kein gutes Werk! Ich habe solch' unglaublich feines Ohr für jeden leisesten Miß- klang, ich merke so scharf auf, ob gut geatmet, gut Text gesprochen, gute Tonverbindung gehalten wird, — es mag arrogant sein, aber ich glaube, ich könnte Kritiken schreiben; sic würden nicht die schlechtesten sein? Ich lese ja auch kolossal viel und studiere für meine theoretischen Stunden so fleißig, daß mein Lehrer neulich sagte, ich mache Nicscnfortschrittc. „Tristan und Isolde", — Webers „Oberon", — „Der Sommernachtstraum", — das ist alles an meinen entzückten Augen und Ohren vorübergczogen. Ich saß mit Ringhaupts in deren Loge, und nacheinander kam Leutnant Brückner, Melanie mit ihrem Verlobten und dieser Graf Härter hinein, uns zu begrüßen; letzterer kam meinetwegen, ich weiß das! Ich wäre eine affektierte und noch dazu verlogene Gans, wenn ich cs mir selber nicht eingestehen wollte, daß ich den Männern gefalle, — den jungen, wie den alten! Frau Direktor Mentzel hat gut Predigen, mir äußerste Zurückhaltung empfehlen! Ich tue das ohnedies, es liegt nicht in mir, sonderlich kokett zu sein, wenn mir auch die Bewunderung, die man mir allgemein entgegcnbringt, schmeichelt! Was hat niir denn aber meine Zurückhaltung Herrn Oswald Mentzel gegenüber genützt, verehrte Frau? Nichts, nichts kann ich mir vorwerfen in incinem Benehmen gegen ihn, und er hgt nicht nachgelassen, mich zu verfolgen mit seinen Liebesbeteuerungen, seiner Reue, seinen Ver sprechungen, sich zu bessern. Alles, alles habe ich unbe- achtet gelassen, — und es ist mir nicht ganz leicht ge worden, ihm seine letzten Briefe nicht zu beantworten. Er hat niir eigentlich gut gefallen, Oswald Mentzel, und er hat so schön gespielt, damals bei Brückners! Einige Kritiken las ich über ihn, die nicht günstig lauteten, — wie oft aber ist da persönliches Empfinden, Neid und Eifersucht im Spiel! Das weiß ich jetzt auch zur Ge nüge; ich glaube, es ist nirgends so schlimm damit, als unter Künstlern, — da lernt man erst, wie klein die Menschen sind! Und ich hatte immer bis dahin gedacht, es sei etwas so großes um die Kunst, sie müsse die Leute veredeln und sie hoch emporheben über den alltäglichen Kleinkram und die persönlichen Schwächen! Ich muß zuweilen an Oswald denken, — wie es fein wird, wenn er wieder hier ist — und ob ich ihn oft sehen werde, — und wie er sich mir gegenüber benehmen wird. Er kommt in wenigen Tagen zu Melanies Hochzeit, — selbstredend bin ich zu diesem „feudalen" Fest nicht ge laden! Herr Hans Joachim von Basiewitz bekommt es zwar fertig, mir hinter dem Rücken seiner Braut süße Augen zu machen und mich so vertraulich anzulächeln, als stünden wir auf dem freundschaftlichsten Fuß, während wir tatsächlich noch keine zehn Worte zusammen gesprochen haben, .... aber er ist und bleibt eben ein adliger Kavalier, und ich bin eine kleine Kopistentochtcr aus einem obskuren Nest! Um diese Hochzeit ist es mir wahr lich nicht zu tun, ich würde doch nur eine klägliche Rolle dort spielen, habe auch keine passende Toilette zu solchem Fest. Nur würde ich gern sehen, wie Oswald Mentzel sich dabei benimmt und welcher Dame er sich jetzt zu wendet. Die Cousinen treffen alle gewaltige Vorbe reitungen für ihn. Seine neue Stelle, die ihm nicht ohne große Schwierigkeiten zugcsprochcn ist, soll sehr gut dotiert sein, — die Eltern und Schwestern haben ihm eine hübsche Wohnung in Cbarlottenburg in der Kant straße gemietet und, bis auf die zwei schönen Zimmer einrichtungen aus seinem elterlichen Hause, neu und elegant möbliert. „Es ist alles viel zu geräumig und zu großartig für einen Junggesellen!" sagen die Cousinen und sehen einander lächelnd und bedeutungsvoll an. Sie beeifern sich alle, ihm schöne Sachen zum Zimmerschmuck zu sticken, zu malen, zu brennen, — „künstlerisch" natür lich! Ich tue so, als hörte ich bei derartigen Gesprächen gar nicht hin, aber innerlich gebe ich genau acht. ES kann mir doch nichts gleichgültig sein, was einen jungen Mann angeht, der mich vor kurzer Zeit „meine weiße Rose, meine kleine Göttin, meine Mignon" genannt, der in allen Re- gistern leidenschaftlicher, flehender, bettelnder Liebe zu mir geredet hat O, wenn das die Cousinen wüßten! Dor allem aber sie, die mir, trotz der Bosheit der „Tanten", trotz des Geizes von FrauDollmar, die unleidlichste ist von allen meinen Beschützerinnen, — seine Mutter! Ist es zu hoch gegriffen, wenn ich sage, daß ich sie basse, diese Frau? Mit ihrem erhabenen Tugendstolz. ' ihrer unfehlbaren Selbstgerechtigkeit, mit diesem Maß- stab, der für den lieben Nächsten so unglaublich knapp, für sich und die Ihrigen so dehnbar ist! Mit diesen Augen, die so eiskalt an mir Herumtasten, auch, wenn es ihnen so gefällt, hochmütig über mich hinwegsehcn, als wäre ich ein luftleerer Raum, mit dieser Stimme, die so ver ächtlich knarren kann, daß cs meinem Ohr weh tut, es anhören zu müssen, — und nun dies apodiktische Urteil über Musik, über Kunst, über olles und jedes, wovon sic oft keine Ahnung hat, wozu Jahre angestrengten, ein gehenden Studiums, liebevollen Vertiefens gehören, . . . das wird dann mit einem souveränen Lächeln und irgend einem beliebigen modernen Schlagwort abgetan und hat einfach nicht mehr zu existieren, da Frau Direktor Mentzel es ja nicht in den Strahlenkreis ihrer hohen Beachtung zieht! — Und vor dieser Frau mit dem engen, kleinen, mali- riösen Geist — das Wort „Geist" ist überhaupt viel zu schade für sie! — beugt sich die ganze Familie, zittert der Mann, zittern die Töchter, .... der einzige, der nicht zittert, ist der Sohn! Er kann mit dieser Mutter machen, was er will, trotzdem sic ihni die größten Opfer gebracht, ihm nahezu ihr ganzes beträchtliches Vermögen hinge geben hat! Es mag kleinlich von mir sein,.... aber eine Wonne wäre es mir, dieser Frau, eben dieser, ein- mal den Fuß fest auf den Nacken setzen, sie meine geistige und moralische Ueberlcgeuheit fühlen lassen zu dürfen! Es wird sicher nie dazu kommen, und es ist wobl auch gut so! Man wird nicht bester durch solche Gelüste, — mau wächst auch nicht innerlich durch solche Umgebung, die uns herabwürdigt vor uns selbst, uns oft zwingt, mit den gleichen Waffen zu kämpfen, mit denen wir befehdet wer-
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