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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 18.11.1904
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1904-11-18
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19041118026
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1904111802
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1904111802
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1904
- Monat1904-11
- Tag1904-11-18
- Monat1904-11
- Jahr1904
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Abend-Ausgabe. MipMer.TaMalt Anzeiger. Amtsblatt des HSmgliche« Land- «nd -es Löniglichen Amtsgerichtes Leipzig, des Nates «nd des Volizeiamlcs der Ltadt Leipzig. VezugS-PreiS i» der Hauptexpeditton oder deren Ausgabe stellen ab geholt: vierteljährlich 3.—, bei zweimaliger täglicher Zustellung in-Hau- 3.7b. Durch die Post bezogen für Deutsch land u. Oesterreich vierteljährlich ^l 4.50, für die übrigen Länder laut ZeitunqSpreiSliste. Diese Rümmer ksftet auf allen Bahnhöfen und III I bei den ZeitungS-Berkäufern I * Nrdaktion und Expedition: 153 Fernsprecher 222 JohanniSgasse 8. Haupt-Filiale DreSdm: Mariensttatze 34 (Fernsprecher Amt I Nr. 1713). Haupt-Ailtale Berlin: CarlDuncker, Herza l.Bayr.tzofbuchbandlg., Lützowstraße 10 (Fernsprecher Amt VI Nr. 4303). Nr. 588. Freitag den 18 Var Aichligrte vom Hage. * In der Bürgermeisterei von Barcelona sind durch die Explosion einer Bombe 6, nach späterer Meldung 11 Personen verwundet worden. (S. Ausland). * Bor der Hüller Untersuchungskommission für die Doggerbank-Angelegenheit ist wahrscheinlich gemacht worden, daß ein Schiff mit ausgelöschten Lichtern, angeblich das Missionsschisf „Alpha", von den Russen für ein Tor pedoboot gehalten worden ist. (S. den des. Artikel.) * Nach der Russischen Telegraphenagentur sind in Niu- tschwang und Pitsewo je 30 000 Japaner gelandet worveu. (S. russ.-jap. Krieg.) velSttrrellichung Ser gerrllrcdaMicben unä voll»- iviltrcbaktlicben Lebens. Unter einigen Betrachtungen zum „Bußtag" wird die jenige der konservativen „Schlesischen Zeitung" nicht verfehlen, einiges Aufsehen zu erregen und verschiedentlich auch Wider spruch hervorzurufrn, vor allem die Tendenz des Artikels, unsere sozialpolitische Gesetzgebung als eine verfahrene Reform darzustellen, die einen Pfahl im Fleische unseres volkswirt schaftlichen Lebens bilde. Die „Schlesische Zeitung" korrigiert sich aber wenigstens insofern selbst, indem sie schreibt: Kein Deutscher von politischer Einsicht könne daran denken, das einmal Gewährte zurückzunehmen; es gelte aber vor allem, mit der Sozialreform einzuhalten, bevor nicht das Vorhandene zweckmäßig umgestaltet sei. Abgesehen von diesem Haupt irrtum der „Schlesischen Zeitung" enthält ihr Bußtag-Artikel aber eine eigenartige und tief ernste Kritik einiger äußeren Erscheinungen unserer Sozialreformen, an der wir nicht still schweigend vorüberqehen möchten. Nicht ohne Bitterkeit sch-etzt'di- ,',Schles. Ztg." u. a.: In St. Louis haben wir mit der Ausstellung unserer Arbeiter versicherung den großen Preis davongetragen. Als Ehrenzeichen bekam unser Kaiser von den Amerikanern einen schönen Stock geschenkt, dessen Beschreibung seinerzeit durch die Blätter ging. Manchem Deutschen aber will die Freude über diesen Erfolg nicht recht von Herzen kommen. Anders sieht unser preisgekrönter Sozialis mus auf einem Völkerjahrmarkt des Auslandes, anders im eigenen Lande aus, und fraglich ist es, ob die deutsche Bürgerschaft, die ihn näher kennt, ihm die höchste Ehrung zuerkennen möchte. In den amtlichen Schriftstücken, die im „Lande der unbegrenzten Möglichkeiten" ausgestellt waren, erkennen wir das, was uns Er- sahrung des Lebens ist, nicht wieder. Diese Dekomente enthalten alles, was unsere Arbeiterfürsorge betrifft: die ungeheueren Ziffern unseres Kostenaufwandes, die schönen Bauten, die Zahl der An stalten, Kassen usw. — nur nichts davon, wie alles dies tatsächlich wirkt zu dem Zwecke, dem es dienen sollte und der allein die aus geworfenen Mittel rechtfertigen könnte: zum Zwecke der allgemeinen Zufriedenheit und zur Erhaltung des Staates. Das offizielle Material beweist in Wirklichkeit nur die unbegrenzte Möglichkeit der Statistik, Zahlen zu gruppieren..... Ein amtliches Schriftstück von Saint-Louis behauptet: das Nebeneinanderwirken von Unternehmern und Arbeitern in einheit lichen Organisationen verhindere die Bildung von Sonderorganisa tionen, die sich gegenseitig bekämpfen; es müsse anerkannt werden, daß die deutschen Einrichtungen sich in dieser Beziehung bestens bewährt und zur Versöhnung der sozialen Gegensätze in außer ordentlicher Weise beigetragen haben; die Folge davon sei auch die Zufriedenheit der Beteiligten mit den bestehenden Einrichtungen der Rechtspflege! — Wir fragen uns, in welcher Welt der Mann lebt, der dies geschrieben hat, und in welchen Regionen die Reichs regierung schwebt, die solche, den Tatsachen entgegengesetzte Be hauptungen amtlich ausstellt. . . Eine Veräußerlichung unseres Wesens, ein Materialismus liegt schon darin, daß man den Zahlen eine Hauptrolle beimißt, wo in erster Reihe doch das Gemütsleben des Volkes in Betracht kommt, und daß man immer wieder rechnet: soundsoviel Millionen Mark macht soundsoviel Zufriedenheit. Zwar verwahrt sich die Aus stellungsschrift des Reichsversicherungsamtes gegen diese Auffassung indem sie erklärt: „Wollte man den ideellen Wert der Arbeiterver sicherung nach Zahlen schätzen, so hätte es sich nicht gelohnt sie ein zuführen." Da sie selbst aber diesen ideellen Wert in der Versöhnung sucht, die aus dem Zusammenwirken von Unternehmern und Arbeitern erwachsen soll, so bleibt wohl nichts anderes übrig, als was sich mit Zahlen beweisen läßt; denn die Versöhnung ist bis jetzt ein Traum geblieben, Tatsache sind nur die verausgabten Milliarden. Daß sie zur Zufriedenheit des Volkes gewirkt hätten, dafür fehlt noch der Beweis. Ob Geldspenden überhaupt nur Zufriedenheit und nicht auch andere Gefühle wecken, ob man mit ihnen nicht oft das Gegenteil der erwünschten Wirkung erziele, das ist ein Zweifel, den Männer von Lebenserfahrung er wägen. . . . Wie die Veräußerlichung im gesellschaftlichen Leben Ausgaben nötig macht, die weder sachgemäß sind, noch den Einnahmen ent- sprechen, so führt sie auch in der Sozialpolitik zur Unwirtschaftlich, kett. Deutschland lebt über seine Verhältnisse mit Ausgaben, die nicht dem Zwecke der sozialen Fürsorge bienen, zum Teil sogar, wie die Beamtung und Versorgung sozialdemokratischer Agitatoren, ihm zuwiderlaufen. Diese Veräußerlichung läßt Prunkbauten entstehen, deren erstaunlichste Beispiele wir noch nicht einmal in Schlesien haben. AlS Maßstab für das, was in der Nei,^ von Berlin zu sehen ist, diene die Tatsache, daß die Kegelbahn eines Genesungs heims 18 500 gekostet hat. In drei Speisesälen sollen dort zum Ergötzen der Pfleglinge drei Orcheslrions zu je 12 000 .>8 stehen. Für 36 000 Musik! . . . Die „Schles. Ztg." weist auch, wie wir dies wiederholt getan haben, auf die Veräußerlichung des gesamten gesell schaftlichen Lebens hin und schreibt dazu: „Prüfen wir uns, ob Genügsamkeit, Disziplin, Pflichttreue und Opferbereitschaft, ob die Eigenschaften, die einer Nation in der Welt- geschichte Bestand verleihen, uns jetzt noch inne wohnen wie zur Heldenzeit unserer nationalen Einigung; betrachten wir die unge heuer angewachsenen Luxusbedürfnisse, die an unserm Marke zehren; erwägen wir, daß gerade in den Schichten des Volkes, die zu Trägern der geistigen und wirtschaftlichen Kultur berufen sind, ein eingebildeter Zwang zum repräsentativen Wohlleben herrscht, der sie mit schwereren Steuern belegt als irgendwelche Staats- oder Ge meindelast, und daß vielen von ihnen, die vor allem die Träger des guten, staatserhaltenden Geistes sein sollten, aus dem Miß verhältnis ihrer Wirtschaft eine innere Unzufriedenheit erwächst; ziehen wir das Fazit unseres eigenen Lebens, so finden wir, daß Anzeigen. Preis die 6gespaltene Petitzeile 25 Reklamen unter dem RedaktionSstrich <4gespaltrn) 75 -H, nach den Familiennach- richien >6gespalten» 50 -H. — Tabellarischer und Ziffernsatz werden entsprechend höher br- rechne». — Gebühren für Nachweisungen und Osfertenannahme 25 Annahmeschlutz für Anzeigen: Abend-Ausgabe: vormittags 10 Uhr. Morgeu-AuSgabe: nachmittags 4 Uhr. Anzeigen sind stets an die Expeditton zu richten. Extra-Beilagen (nur mit der Morgen- Ausgabe) nach besonderer Vereinbarung. Die Expedition ist wochentags ununterbrochen geöffnet von früh 8 bis abends 7 Uhr. Truck und Verlag von E. Polz in Leipzig (Inh. Dr. «., R. L W. Klinkhardt). 88. Jahrgang. Feuilleton. Die heilige Caeeilie. 28j Roman von Marie Bernhard. Nachdruck verboten. „Verehrer meinst du? Na ja, ohne wird sic nicht sein, — k a n n sie gar nicht sein mit dem Gesicht! Man munkelt da so dies und das." „Was denn? Wer denn? Seit wann und mit wem ist" — Jetzt fiel sogar dem bis dahin ganz harmlosen Direktor die seltsame Art und Weise des Sohnes auf. „Tu scheinst dich ja sehr dafür zu interessieren!" sagte er langsam. „Und wenn schon," — machte der junge Mann un- geduldig und begann seine nervöse Spielerei mit dem Bilde von neuem. „Was also hast du gehört?" „Nichts bestimmtes, — hier und da eine Andeutung, als sei die Kleine gelegentlich in Herrenbegleitung auf der Straße gesehen worden, — auch 'mal ein Gerücht, sie lasse sich malen oder werde gemalt" — „Als was? Von wem?" „Weiß ich nicht! Amerikaner glaube ich, — kann's aber nicht genau sagen!" „Und ob — ob ein bestimmter Galan — meinetwegen Freier — Chancen bei ihr hat, das weißt du auch nicht?" „Auch nicht! Aber das wird alles ans Tageslicht kommen, verlaß' dich d'rauf! Was unsere Damen wissen wollen, das erfahren sie l Bei uns übrigens benimmt sich die kleine Annemarie äußerst korrekt, man kann es nicht anders sagen. Tie Zurückhaltung selbst, — so daß sogar Malwine Vollmar und die Tanten ihr nichts an hängen können, trotz ihrer sechs Luchsaugen!" Der Vater legte den Kopf auf die Seite und sah nach dem Sohn hinüber, gespannt, was dieser jetzt antworten würde. Aber Oswald schwieg, — schwieg eine ganze Weile, — offenbar war er in Gedanken versunken! Und diese seine Gedanken zeigten ihm mit guälender Deutlichkeit Annemarie Lombardi, die er sich hatte erobern wollen in gewohnt leichter, siegessicherer Manier und die ihn zurückgewiesen hatte,.... ja, zurück gewiesen, — ihn, den schönen, verwöhnten, begabten Oswald Mentzel, — sie, das obskure kleine Mädchen aus der Provinz! — Er sah sie vor sich in dem leichten Blusen kleidchen, in dem großen runden Hut mit Maßliebchen und Veilchen, trotzdem er sie in dem Kleide und mit dein Hut nicht kannte er sah das süße Gesicht mit den wunderschönen Augen, das rote, schwellende Mündchen mit den weichen, leicht aufgeworfenen Lippen, — es kam ihr keine, keine gleich von allen, die er gesehen und be gehrt und besessen! Er war verliebt gewesen, wie ein Unsinniger, und, wenn er es recht bedachte, so war er das heute noch, — denn hier dies Getändel, das hier und da einen Anstrich von jäh aufflackernder Leidenschaft gewann, .... was war es anders gewesen, als ein Ge- waltmittel, die eine zu vergessen, die ihm fort und fort im Sinn gelegen hatte? — Eine Episode hatte sie sein sollen in seinem bunten, hübschen, abwechselungsreichen Leben, die süße Annemarie Lombardi, — eine sehr reizende, vielleicht auch ziemlich lange Episode, .... weiter natürlich nichts! Wenn er geschickt und vorsichtig die geübte Hand, die schon so manches scheue Vögelchen gefangen, ausstrccktc, dann flatterte ihm wohl auch diese süßflötende Nachtigall hinein, — so hatte er gemeint und danach seine Maßregeln ge troffen! Es hatte ihn stutzig, — es hatte ihn böse, — es hatte ihn schließlich wütend gemacht, als seine altbewährte Vogelfängermethode ihn diesmal im Stich ließ! Kein Erscheinen beim Rendez-vous, — nicht einmal eine Zeile Antwort, eine Aufklärung, eine Bitte um Entschuldigung! — Er hatte nochmals geschrieben, — dringender, stürini- scher — er hatte, — unerhörte Sache! — seine Abreise nach . November 1904. der Grund unseres Mißbehagens in unS selbst liegt und daß wir es selbst in der Hand haben, ihn abzustelleu." Daß im deutschen Bürgertum selbst ein großer Teil der jetzigen unerquicklichen sozialen Entwicklung ruht, ist ihm schon oft vorgehalten worden, ohne tieferen Eindruck zu hinterlassen. Bevor es sich nicht politisch zu organisieren vermag, ohne dabei in die kleinlichsten Interessen gegensätze zu verfallen, können unmöglich auch seine ethischen Kräfte so zur Geltung kommen, uin manchen beklagenswerten „Veräußerlichungen" unseres nationalen Lebens mit nach haltigem Ernst entgegen zu wirken. ffoerber vor arm Parlament. Aus Wien wird uns v. 17. d. M. geschrieben: kV Unter dem Eindrücke der Rede Dr. v. Koerbers, mit dec heute die erste Sitzung dec neuen Session des österreichischen Abgeordnetenhauses eröffnet wurde, sei die Schilderung der politischen und der parlamentarischen Lage versucht. Unter dem Eindrücke — hier stock' ich schon. Sie haben, mag man noch so eifrig horchen und beobachten, eigentlich keinen Effekt gemacht, die Aus führungen des cisleithanischen Premiers. Sie waren nämlich so allgemein gehalten, um keine Partei zu irri tieren; so befriedigten sie aber auch niemanden. Ach, diese alte Praxis, diese Befolgung der Regierungsdoktrin „Nur kein klares Programm", sie wird ein böses Ende nehmen. Freilich, man muß gerecht sein, so lange sich nicht die Parteien geeint haben, muß eine jode, und gar eine Beamtcnregierung, lavieren. Ihr Los ist, im Brack wasser zu bleiben; sie darf nicht mit vollen Segeln auf das Meer hinaus, sie kann nicht auf stillem, beladenen Kahn ins Innere des Landes steuern. Und das ist die Situation: die deutschen Parteien stehen Gewehr bei Fuß. Und die Tschechen obstruieren weiter, ruhig und unauffällig. Auch sie warten ab, ob nicht die Deutschen irgend einen Schritt unternehmen, einen aggressiven natürlich, der das Kräfteverhältnis verschieben würde. Man mußte nur soeben Zeuge sein, wie vergnüglich die Tschechen und wie gutgesittst sie die Ausbrüche der. all- deutschen Abgeordneten gegen den Ministerpräsidenten zur Kenntnis nahmen. O, dieses Innsbruck! Wenn dort nur nicht Blut geflossen n>äre! Wahrlich, Blut ist ein besonderer Saft; darüber koinmt man nicht hinweg. Berechtigtes nationales Empfinden ist es, Genugtuung zu fordern. Und da hat heute Dr. v. Koerbereinen Fehler begangen. Er tat ein kluges und unter ließ ein kluges Wort. Er kündigte an, daß in dem nächsten Semester die italienischen Parallel kurse in Innsbruck nicht mehr eröffnet werden. Das war der kluge, richtige Entschluß. Er fand aber kein Wort, um dem Gefühlsmoment, um der Erregung der Deutschen über den gewalttätigen Ausbruch der italienischen Studenten vor dem Inns brucker Gasthofe „Zum weißen Kreuz" Satisfaktion zu geben. Das war die Unterlassung, und die wurde ihn» auf deutscher Seite verübelt. Mit Fug und Recht. Auch Unterlassung erzeugen Uebles. Der Abgeordnete von Innsbruck, Dr. Erler, wetterte dann zwei Stunden lang gegen die Regierung. Und die Deutschen horchten mit gemischten Empfindungen, weil sie, nun weil sie eben die gespannte Aufmerksamkeit der Tschechen, der Slawen überhaupt, wahrnahmen. Die gestrige Kundgebung der rallnerten deutschen Parteien spricht ja Bände; wer lesen R. um einen Tag verschoben, nur um sie noch zu sehen, um, wie er schrieb, ihre Verzeihung zu erflehen, sein Ver halten ihr gegenüber aufzuklären, die Beruhigung mit auf den Weg zu nehmen, daß sie ihn verstehe, ihm nicht zürne! — Nichts! — Von R. aus, nachdem sein erster Zorn gegen dies eigenwillige Geschöpf verraucht war, hatte er wieder und wieder geschrieben, in einem Ton, so ehrerbietig, so de- und wehmütig, wie er sich dessen in seiner ganzen reichen Erfahrung nicht entsann, .... es hatte ihm alles und alles nichts geholfen! Keine Zeile, — kein Wort von ihr! — Da war sein gekränkter Stolz, seine Empörung so groß gewesen, daß er Annemarie Lombardi fortan „zu den Toten" geworfen, daß er sich schleunigst, schleunigst in andere Arme gestürzt und sich eine Zeitlang eingebildet hatte, er habe das Mädchen mit dem süßen Gesicht und mit der süßen Stimme vergessen! — Und jetzt, heute, hier loderte bei dem Gedanken, ein anderer könnte sie haben, ein so wilder, eifersüchtiger Zorn und Grimm in ihm auf, daß er zu ersticken meinte an dieser Flamme, daß seine Hände sich ballten in ohnmäch tiger Wut, die Zähne sich fest aufcinandersetzten, die Adern an seinen Schläfen schwollen. Es klirrte und splitterte plötzlich im Zimmer; das Damenbildnis im Rahmen war vom Tische gefallen und lag in Scherben am Boden. Vater Mentzel drehte sich erschreckt um. „Ist es entzwei?" fragte er. „Ja," entgegnete Oswald mit bedeckter Stimme, „es ist in Stücke gegangen." Sechzehntes Kapitel. Nur noch drei Wochen bis zu Melanie Brückners Hoch- zeit mit Hans Joachim Freiherrn von Bassewitz! Zu l-cute mittag vier Uhr hatte sich der Bräutigam, samt einem Regimentskameraden, den er schon mehr mals zu feinen Schwiegereltern gebracht, angemeldet; kann, muß es verstehen, daß die Deutschen jetzt nicht Opposition machen können, ohne den Tschechen den Er folg der tschechischen Obstruktion zu garantieren. Denn das ist zweifellos, eine Opposition der deutschen Parteien zwänge das Ministerium zum Rücktritte, und die Bahn märe frei für die slawische Majorität, die Regierung»- bänke einzunehmen. Man wird einwenden: Vielleicht ist dieser Effekt aber so wie so nur aufgeschoben und nicht aufgehoben, und es wäre männlicher, entschiedener, be freiender, wenn die deutschen Parteien ihre Sache aus nichts stellen würden. Das ist möglich; aber das Mög liche ist eben nur ein Mögliches, und die Rücksicht auf die Erhaltung des nationalen Besitzstandes lähmt die Ent- schließungsfähigkeit, den Mut zur Rücksichtslosigkeit. Wie es weiter gehen wird? Man wird eine Debatte über die Erklärungsrede des Ministerpräsidenten ab führen; dann wird obstruiert werden, von Seiten der Tschechen, und nebenbei wird unter den Parteien ver handelt werden, wie das Parlament aktionsfähig ge halten werden könnte. Vorläufig ist das Ministerium noch frei von den Tschechen — welchen Preis verlange» aber die Jungtschechen für das Aufgeben der Obstruktion, und welchen Preis vermögen die Deutschen zu con- cedieren? Darüber wird viel beraten werden, und in den Couleurs und in den Klubzimmern und im Vor zimmer des Kabinettschefs debattiert werden, und viel leicht wird knapp vor Weihnachten sich die schwache Aus- sicht auf eine Aussicht eröffnen, daß das Abgeordneten- l>aus nach Neujahr sittsam und brav seine Agenden er ledigen wird. Vielleicht, vielleicht auch nicht. Es können ja auch Zwischenfälle eintreten. Mehr aber als diese knappe Skizze vermögen auch die kundigsten Thebaner nicht zu geben. Nur eines sei erwähnt: Das Schicksal Cisleithaniens — hat man dies etwa schon vergessen — wird nicht in Wien geschmiedet; es existiert bekannt lich auch ein Ungarn. Gelingt es dem Grafen Tisza, die Hausordnungsreform im ungarischen Parlament durch zusetzen, eostte gus (wüte, dann fallen die Würfel der innerösterreichischen Politik. Tas würde Effekt machen, ganz gewaltigen. Was in Ungarn möglich ist, der parla mentarischen Anarchie Herr zu werden, sollte in Oester reich ein Unerreichbares sein? Und die Krone ist un geduldig. Das kann man heute überall hören; nicht nur als Hofgeheimnis vorsichtig gelispelt, nein, laut heraus- gesagt wird es, daß der Monarch mit allem Nachdrucke ein arbeitsfähiges österreichisches Abgeordnetenhaus er- wünsche. Und ich bitte Ihre Leser, diese Randglosse nicht als eine leere Arabeske zu betrachten. Wenn Ihre Leser aber fragen: wie stellen sich die Deutschen zur Parla mentsreform, dann sei daran erinnert, daß sie wiederholt erklärt haben, bevor nicht ein Nationalitätsgesetz ge schaffen ist, darf der Möglichkeit einer Ob struktion nicht das Parlamen t stör ver schlossen werden. Und nun nochmals die Preisfrage: Wer hat den Ariadnefaden, um aus diesen Wirrnissen herauszuführen? * * * Aus der „Franks. Ztg." sei, zur Vervollständigung, die Fassung zitiert, in der dort die tumultarischen Auf tritte erscheinen. Nach diesen Depeschen erklärte der Ministerpräsident, daß sich eine Sensibilität bei allen Parteien zeige, die vermieden werden müsse. (Stür- mische Unterbrechungen bei den Deutschen. Rufe: Pfui, Koerber!) Die nächste Aufgabe des Abgeordnetenhauses sei die Rückkehr zur Arbeit und zur gemeinsamen Be ratung. (Rufe: „Das nützt nichts! Sie kommen dann mit dem Paragraph 14. Wozu brauchen Sie uns?" die Kadetten Paul und Peter kamen auf Urlaub. In Eile hatte man noch einige von der Familie und Anne marie Lombardi dazu gebeten, — sie hatte in letzter Zeit des öftern nach Tisch singen müssen, das hatte sich immer recht hübsch gemacht. Sicher waren genug musikalische Elemente in der Familie vertreten, allein die konnte man immer haben und hatte sie immer gehabt. Dies war etwas neues; außerdem gewährte es einen gewissen Reiz, von Zeit zu Zeit festzustellen, wieviel das musikalische Pathenkind der Familie inzwischen wieder dazugelernt batte. Annemarie studierte jetzt Kompositionslehre, er wies sich auch auf diesem Gebiet als sehr begabt, Madame G. machte schon oft Parade mit dieser Schülerin. — Die Empörung über den Vorschlag eines Lehrerwechsels glimmte noch in einigen Mitgliedern der Familie fort, — die meisten dachten jetzt nicht mehr daran, obschon sie alle zusammen das Benehmen des jungen Mädchens da- inals „unerhört taktlos" gefunden hatten. Beliebter war Annemarie Lombardi im Laufe der Zeit bei ihren hohen Gönnerinnen nicht geworden, — sie war ihnen zu hübsch, zu selbständig, zu individuell. Sie sollte ein gutes, bescheidenes, demutsvoll-dankbares, vor allem ein unscheinbares Wesen sein, — dann wäre sie den Damen recht gewesen! Die Gönner dachten viel besser und ganz anders über sie, behielten aber ihre Meinung wohlweislich für sich! — Die Tafel war in» Balkonziminer, dessen Türen weit zurückgeschlagen waren, gedeckt, die Gäste fanden sich nach und nach ein. Die Dame des Hauses machte in einem Nebenraum mit dem fremden Gardeoffizier und mit Vollmars Konversation, Rolf Hennig hatte seine Cousine Margot Wessel mit Beschlag belegt, der Oberst war in ei»» Gespräch mit Bankier Ringhaupt vertieft und winkte eben die beiden Kadetten zu sich heran, die unablässig un« das Brautpaar herumhuschten, um womöglich etwas von geflüsterten Bemerkungen oder ausgetauschten Zärtlich keiten zu erspähen. 4
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