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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 05.11.1904
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1904-11-05
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19041105021
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1904110502
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1904110502
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1904
- Monat1904-11
- Tag1904-11-05
- Monat1904-11
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werden aber die schuldigen Hottentotten, besonders wenn sie erst bei langsamem Vorgehen unserer Truppe Zeit zum Auseinanüerlaufen gefunden haben, sich in kleinen Gruppen in die fast unzugänglichen Berge verkriechen. Hoffentlich gelingt es. ihnen rechtzeitig den Weg nach dem Gebirgszuge der berüchtigten Nankluft zu verlegen. Bataillon Feltz-Regt». Nr. 2. Das vierte Bataillon des zweiten Feld-Regiments ist jetzt in der Formierung begriffen: BataillonSkommandeur wird, wie schon gemeldet, Major von Kamptz vom 75. Infanterieregiment in Bremen, der sich bereits in den Kolonien vor dem Feinde ausgezeichnet hat. Tie drei Kompagniechefs unter ihm sind die Hauptleute von Zwehl vom 71. Regiment (Erfurt), von Erckert vom 92. Infanterieregiment (Braunschweig) und Anders vom 1. Regiment (Königsberg). Vier Ober- leutnantS, von Bulow (18. Dragoner), Oster- meyer (77. Infanterieregiment), Hunger (176. In fanterieregiment), Gallwürk von Wenzel st ein (4. Jäger), wahrscheinlich Adjutant, und zwölf Leutnants vervollständigen das Offizierkorps. Unter den letzteren sind zwei Bayern: Peter (8. Infanterieregiment) und Fischach (9. Infanterieregiment), sowie ein Württem berger, Frhr. von Gaisberg-Halfenberg. Zwei Aerzte treten zum Bataillon über, Stabsarzt Dr. Krebs (59. Infanterieregiment) und Dr. Clemm, Assistenzarzt im 1. Westpreußischcn Feldartillerie-Regi- ment Nr. 85. Eine größere Anzahl dieser mit dem neuen vierten Bataillon nach Südwestafrika abgehenden Offi ziere hat sich, wie der Bataillonskommandeur selbst, be reits vor dem Feinde bewährt. »er rurrired-iapanlrcde Krieg. Ei« zerrs-rierter Bericht über Fort Arthur. Der Berichterstatter Reuters telegraphiert mit Geneh migung der Zensur aus Port Arthur einen ausführlichen Bericht über die Belagerung, über deren verschiedene Stadien bisher nur äußerst verirrte Ideen aus den Schilderungen chinesischer und anderer mehr oder weniger zuverlässiger Flücht linge gebildet werden konnten. Erst jetzt gewinnt man ein Bild von der Größe der den Javanern gestellten Auf gabe. Eine der schlimmsten Wochen war danach die vom 19. bis »um 24. August, in welcher die Japaner 14 000 Mann an Verlusten hatten. DaS ganze Resultat des sechstägigen Angriffs war die Besitznahme des Forts Banjusan. Die Japaner unterschätzten augenscheinlich Stössels Geschick und den entschlossenen Geist der Besatzung. Bis »um 8. Sep tember versuchten die Russen täglich die Banjusanforts wieder zu erobern. Die Japaner nahmen Zuflucht zu Kriegslisten und erbauten ein System von par allelen Belagerungsarbeiten. Als die japanischen Laufgräben sich den Verhauen am Fuße der Hügel näherten, auf welchen die Forts stehen, wurden die Ausfälle häufiger und entschlossener. Pardon wurde weder gewünscht noch gegeben: selbst Krankenträger wurden ßetötet.» Keine Flagge wurde später mehr anerkennt. In einigen Fällen gingen die Pioniere vor, fielen wie tot dicht bei den Verhauen nieder und blieben regungslos liegen, bis die Aufmerksamkeit der Russen nachließ. Dann schoben sie sich, auf dem Rücken liegend, unter den Drähten durch und durchschnitten diese mit langen Scheeren. Wenn dies mißlang, wurden Pulversäcke au Bambusstangen unter die Verhaue geführt und entzündet, so daß so die Verhaue zerstört wurden. Wenn die Ver wendung von Handbomben unmöglich war, gebrauchten die Japaner improvisierte Bombenmörser, die Bomben 50 bis 100 NardS weit schleuderten. Die schwersten Geschütze, welche die Japaner anfangs zur Stelle hatten, waren 4,7-zöllige Schiffsgeschütze, aber gegen Ende August kamen 6-zöllige Geschütze hinzu: am 14. September trafen 11-zölligc Hau bitzen ein. Lehr bemerkenswert ist, daß trotz der ständigen mörderischen Zurückweisung stets zahllose Freiwillige zu den verwegensten Unternehmungen, ja zu sicherem Tode bereit waren. Am Abend des 19. September begannen die Japaner den Angriff auf de» 203 m-Hügel und den Namaokaianiahügel, aber trotz mehrerer Stürme an den folgenden Tagen, die 2000 Mann kosteten, konnten die Japaner das vorgeschobene Fort auf dem 203 m-Hügel und die außerordentlich starke Stellung mit Drahtgeflecht und Schanzgräben nicht einnehmen. Der letzte Teil des Berichts beschäftigt sich mit den Beschießungen der Forts durch die Japaner und die Ausfälle der Russen bis zum 27. Oktober. Berichte ohne Aenfur. Aus Tschifu kommt eine die bekannten Merkmale wagende Londoner Zeitungsdepesche, wonach der letzte Sturm der Japaner vollständig gescheitert ist. Die Verluste vor Port Arthur seien tatsächlich enorm. Die Explosion der Flatterminen sei bis Dalny gehört worden. Die Japaner hätten zwar die Laufgräben der östlichen Befestigungen erobert, nicht aber die Forts selbst. Der ganze süd liche Teil der Halbinsel sei noch immer im Besitz der Ruffen, von der Taubenbai bi« zum Goldenen Hügel und dem Telegraphenberge. Wie der „Standard" aus Shanghai meldet, sollen die Japaner da« Fort und da« Proviantlager von Peijuschan in die Luft gesprengt haben. — Die vor einiger Zeit dementierte Nachricht, daß der japanische Kreuzer „Jashoma" auf eine Mine ge raten und untergegangen sei, wird nunmehr amtlich von der japanischen Regierung, wenn eine Depesche ans New Jork nicht täuscht, zugegeben. Japanischer ^atristirinn«. Der „Standard" berichtet aus Tokio vom Freitag: Am 3. November versammelten sich die ältesten Staats männer, die Kabinettsminister und andere hervor ragende Bürger der Stadt mit einer Volksmenge von etwa 50 000 Köpfen im Park Hibya. Nach be geisterten Kundgebungen für den Mikado, das Heer und die Flotte wurde eine Resolution angenommen, daß jeder in seinem Berufe nach seinen besten Krästen tätig sein solle, um die Mittel zum Kriege zu beschaffen, damit das nationale Ziel, wie lange Zeit dazu auch beansprucht werde, er reicht werde. PMircde cagrrrcba«. * Leipzig, 5. November. Herr Scherl, der neue deutsche Heros. Nun hat Herr August Scherl also seinen großen Tag gehabt, ein Traum seiner Nächte ist erfüllt — man wird nickst mehr sagen können, der Name Scherl sei unparlamentarisch. Das preußische Abgeordnetenhaus hat ihm einen ganzen Lag seiner übrigens nicht sehr kostbaren Zeit gewidmet, und der Geist Scherls erfüllte das hche Haus mit seinem süßen Gerüche von Weihrauch für alle Mächtigen dieser Welt und selbstverständlich für alle Abonnenten des Lokal-Anzeigers, der Woche und des Tages. Und der Geist war mächtig und drang bis in die Tiefen der menschlichen Seelen. Er rührte die Besitzer der Ministerbank und die Orakel des „Tages" in gleicher Gewalt. Es war unbeschreiblich schön. Aus der Stimmen Gedröhn löste sich in Intervallen der Klang des einen Namens Scherl, und die Pho tographen der Woche und des Tages stan den hoffentlich bereit, die großen Scenen der flrach. Welt aufzubewahrcn. Am Regierungstisch erhob sich zu Scherls Gunsten Herr von Hammerstein und stellte seine rühmlich bekannte Eloquenz in den Dienst der guten Sache. Der Gedanke des Herrn Scherl ist von uns wiederholt eingehender Kritik unterzogen worden, und so können wir uns damit begnügen, noch einmal daraus hinzuweisen, daß wir in dem Projekt erstens eine finan zielle Schädigung des einzelnen Sparers, zweitens eine der ethischen Aufgaben des Staates widersprechende An reizung des Spieltriebes, und drittens — durch Gründung einer Sparzeitung — einen Verdummungs versuch allergrößten Stils erblicken. Die beiden ersten Bedenken brachte der freisinnige Abg. Fischbeck mit einiger rhetorischer Uebertreibung, aber um so drastischer zur Geltung. Nach einer Rede des nationalliberalen Abg. Fritsch, der dafür eintrat, die Post zur Anlegung von Spareinlagestellen heranzuziehen, begann dann Herr von Hammerstein, preisend mit viel schönen Reden. Sein Spruch gipfelte in der folgenden Aeußerung, die von schönster Selbsterkenntnis zeugt und wohl als Huldigung an die allerhöchste Stelle betrachtet werden darf: „Wir alle, die wir hier sind, vier Minister als erste an der Spitze, bedürfen eines gewissen Im pulses, eines gewissen Anreizes und dieses Anreizes bedürfen wir auch im Leben." (Ganz recht: dieser Im puls, dieser Anreiz fehlte damals, als Herr v. Hammer stein die Mirbach-Interpellation nicht zu beantworten vermochte: als er aber gegeben war, da öffnete sich dem Minister der Zaun der Zähne.) Herr v. Hammerstein gab dann dem Herrn Scherl das Leumundszeugnis, daß er nur beabsichtige, „der Gesamtheit zu nützen" und stets bereit sei, „mit seiner Person nach Möglichkeit zurückzu treten." Die Kritik des Abgeordneten Fischbeck zu wider legen, darauf verzichtete der Redner. Er ließ nun deut- lich erkennen, daß der Gedanke des Herrn Scherl aufge schoben, aber nicht aufgehoben sei und bat das Haus, sich in dieser Beziehung nicht zu binden. Nach dem Minister erzielte dann noch der Frankfurter Abg. v. Woyna einen Heiterkeitserfolg. Er nannte zwar den „Tag" die „Wasch küche der deutschen öffentlichen Meinung", aber dann teilte er dem verblüfften Hause mit, Herr Scherl sei „ein genialer Mann, der eine ungeheure Umwälzung im deut schen Geistesleben hervorgerufen habe". Damit ist der Mann, der das Prinzip der Prinzipienlosigkeit zur Basis seiner journalistischen Unternehmungen gemacht hat, in den hehren Kreis der deutschen Heroen erhoben worden. Nun aber bleiben: Luther, Grothe, Bismarck, Scherl, diese vier, aber Scherl ist derGrößeste unter ihnen. Zu den HandelSvertragSverhandlungeu. Der neue deutsch-schweizerische Handels vertrag soll am 1. Ianuar 1906 an die Stelle des bisherigen Vertrages treten. Als Dertragsdauer sind zwölf Jahre vorgesehen. Der Inhalt des Ver trags wird geheim gehalten, bis Deutschland sich mit Oesterreich-Ungarn verständigt hat. In einem Zusatz- Protokoll wurde bestimmt, falls die Schweiz den Erfin dungsschutz nicht auf chemische Produkte und Verfahren ousdehne, sei Deutschland befugt, die Zölle auf chemische Produkte beliebig zu erhöhen. Dieselbe Befugnis steht auch der Schweiz zu. Zu regeln sind nach der „Frkf. Ztg." noch einifle Einzelheiten des Grenzverkehrs. Da der Vertrag mit der Schweiz am 1. Januar 1906 in Kraft treten, eine Unterbrechung des Dertragsverhält- nisses aber auf alle Fälle auch hier vermieden werden soll, so muß der alte Vertrag spätestens am 81. Dezember d. I. gekündigt werden. Dies kann aber wieder nur geschehen, wenn der Vertrag — oder sagen wir gleich die Handelsverträge — vor Weihnachten vom Reichstage erledigt worden sind. Nun tritt der Reichstag am 29. November zusammen, es bleiben ihm also bis zum 16. Dezember — länger wird das Parlament nicht tagen — gerade sechzehn Arbeitstage. In diesen soll doch mindestens noch die erste Lesung des Etats, für die sehr reichlicher Stoff vorliegt, erledigt werden, was bleibt dann aber noch für Zeit zur Erle digung sämtlicher Handelsverträge in allen drei Lesungen einschließlich der Kommissionsverhandlungen, die nun doch einmal nicht zu vermeiden sind? Für eine Durch- peitschung der Verträge würden sich bei ihrer hohen Be deutung für unser wirtschaftliches Leben aber wohl alle Parteien bedanken, und deshalb bezweifeln wir vorläufig noch, daß die neuen Handelsverträge am 1. Januar 1906 in Kraft treten können. Die Krawalle von Innsbruck. In Innsbruck tobt ein wahnsinniger Straßenkampf. Während des ganzen Freitags haben deutsche Studenten, Bürger und Arbeiter die Stadt durchzogen, italienische Geschäftsschilder zerschlagen. Sie haben die Fenster am Gebäude der italienischen Fakultät eingeworfen, die Tore erbrochen. Hunderte stürzten nach Telegrammen hinein, dann zog die Menge pscifend und johlend vor die Staat halterei. In der Wohnung des Barons Schwartzenau, vor der Rufe: „Meuchelmörder!" erschallten, wurden ebenfalls die Fenster zertrümmert, desgleichen im Hause des Grafen Trapp, des Schwagers des Statthalters. Am gefährlichsten wurde die Lage, als die Scharen vor die Kaserne der Kaiserjäger zogen. Zur Säuberung des Platzes wurden Patrouillen abbeordert. Nachmittags dauerte der Aufruhr fort: eine tausendköpfige Menge, der nicht Einhalt getan werden konnte, demolierte das Gasthaus Stencck in der Vorstadt Mitten, wo die Italie ner verkehrten, und den italienischen Konsumverein. Da bei wurden der Statthalter, sowie Ministerpräsident v. Koerber unflätig beschimpft. Don den in letzter Nacht Verwundeten sind zwei gestorben. Das Schild der Zeitung „Tiroler Stimme" wurde abgerissen, die katholische Vereinsbuchhandlung demoliert. Nachts sollte das Bild des Statthalters in der Maria Lheresiastraße gerichtet werden. Unter un beschreiblichem Tumult ist Schwartzenau nach Wien ab gereist: eine Kavallerieeskorte mußte, zum Gefecht bereit, den Bahnhof schützen. Der Innsbrucker Gemeiirderal hat eine außerordentliche Sitzung abgehalten, worin Bürgermeister Greil dem Zorn der Deutschen gegen Schwartzenau und Koerber die schroffste Formulierung gab: an den Ministerpräsidenten wurde ein leidenschaft liches Telegramm geschickt. Zwei deutsche Opfer sind be reits vorhanden, der Maler Peccey, der erstochen worden ist und durch die Stadt ein imposantes Begräbnis erhalten wird, und der Beamte Engelbrecht, der seiner Ver wundung erlegen ist. Nach der „Neuen Freien Presse" wurde dem Korpskommandanten, Erzherzog Eugen, der anfangs die Gewährung militärischer Hülfe verweigert und sie nur auf schriftliche Requisition des Statthalters bewilligt hatte, Huldigungen dargebracht. Die italieni- scl)en Abgeordneten forderten von der Regierung schütz: auch italienische Erdarbeiter waren genötigt, die Arbeit einzustellen. Der Wiener Berichterstatter italienischer Blätter. Dr. Goldbacher, wurde in Innsbruck verhaftet, der Berichterstatter Albertini entkam. Im Grazer Land tage. in den« Klerikale und Slovenen gegen das Budget obstruieren, wurde eine Sympathiekundgebung für dir deutsche Bevölkerung in Innsbruck beantragt. Ueber dieser elementaren Wut der deutschen Bevölkerung beginnt das Kabinett Koerber zu erwachen. Nach einer Wiener De pesche des „B. T." hielten die Minister nachmittags eine Besprechung über die Innsbrucker Vorgänge ab und kamen überein, daß weder die Innsbrucker Universität noch die italienische RechtSfakultät geschlossen werden soll. Die Regierung werde aber umfassende Vorkehrungen zur Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung in Innsbruck treffen lassen. Die Unterrichtsverwaltung sucht sich mit stümpferhaften Ausreden zu helfen. Don den Wiener Zeitungen urteilt die „N. Fr. Pr.": „ES ist der alte Fluch der österreichischen Politik, daß sie niemals recht- zeitig und organisierend eingreift, sondern zögernd mit stümperhaften Lückenbüßern zu helfen sucht." Die „Zeit" befürchtet, das Verhältnis zwischen den beiden höchst kultivierten Völkern Oesterreichs sei durch die gedanken lose Politik und die Nachlässigkeit der Regierung nun ver giftet. Ihre Befürchtung scheint nicht irre zu gehen. Die Schlacht im Palais Bourbon. Am gestrigen Freitag, am 4. November, hat das Ministerium Eombes, dem also auch Herr Lndr« erhal ten wird, mit 343 gegen 236 Stimmen ein Vertrauens votum empfangen. Die Kammer hat durch die von Martin und Jaurss eingebrachte Tagesordnung ihre Ueberzeugung bekundet, „daß eS Pflicht eines republi- konischen Staates sei, arme und ergebene Diener des Landes gegen den Kastengeist und die Reaktion zu schützen uiid zwar mit allen Mitteln der Kontrolle, über die die Regierung verfüge." Die Kammer „rechnet darauf, daß die Regierung das Avancement der Offiziere sicherstelle". Unmittelbar vor der gestrigen Sitzung hatte unter den republikanischen Fraktionsdelegierten Etienne gefordert, daß Andrs, wie auch die Entscheidung falle, seine Demission gebe. Die Intervention Millerands, die man erwartete, hatte Jauris dadurch abzuwehren versucht, daß er in der „Humanitä" auseinanüersetzte, der Exsozialist werde sich durch so etwas unmöglich machen. Der „Figaro" hatte geschrieben: „Die heutige Sitzung entscheidet über das Schicksal der Armee: die Armee erwartet schweigend, aber ungeduldig das Vo tum, das die schuldigen Minister fcrtweisen oder die Schuld der Deputierten zu der Schuld der Regierung fügen wird." Wie es technisch zuging, bis das mini sterielle Resultat erreicht wurde, haben wir zum Teil schon gemeldet. Die Reihenfolge war, daß Guyot de Villeneuve seinen Angriff mit der Konstatierung schloß, Andr« habe am Freitag nicht die Wahrheit gesagt, und daß der Kriegsminister behauptete, er habe für die po litische Ueberwachung des Offizierskorps das Einver ständnis Waldeck-Rousseaus gehabt. Herr Andre will auf sein Portefeuille nicht verzichten: die Verteidigung der Republik hat er rhetorisch und unwahrhaftig als sein Ziel bezeichnet. Dann kamen Berteaux und Jaurös, die ministeriellen Interpellanten, und als Oppositionel ler Herr Leygues, der frühere Minister, der radikale Republikaner, welcher das vom sozialistischen Häuptling empfohlene System das demoralisierendste und gefähr- lickffte von allen nannte. Es kam dann Ribot mit einer dritten antiministeriellen Rede und mit einer antiministeriellen Tagesordnung, deren Be- gründung Combes zur Einsprache herausforderte; er sprach als ehrenwerter Monn. Die Aktion Millerands l>atte keine Resonanz: sein Verfahren in der Kongrega- tionsdebatte erwies sich als nicht patentiert genug, um auch diesmal eine Wirkung zu erzwingen. Mit 2 Stim- men Mehrheit war die von Combes refüsierte einfache Tagesordnung abgelehnt worgen: mit 107 Stimmen Mehrheit wurde das Vertrauensvotum durchgedrückt. Daß es dahin getrieben werden konnte, war die Schuld des nationalistischen Abgeordneten Syveton vom zweiten Pariser Arrondissement, der feig über Andr6 herfiel und ihn ohrfeigte. Nach einem telegraphischen Bericht über diese Tat stürzte dem Minister das Blut aus Nase und Mund, er sank um, erholte sich wieder und mußte aus dem Saale getragen werden. Nun entstand ein Hand- gemenge zwischen Abgeordneten der Rechten und der Linken. Es dauerte etwa 5 Minuten und fand erst ein Ende, als Militär einschritt und die Haupträdelsführer aus dem Saal schaffte. Auf Verlangen der Regierung wurde über die Wiederaufnahme der Sitzung abgestimmt; der Antrag drang mit 75 Stimmen Mehrheit durch. Be einflußt wurde die Verhandlung durch Brisson, der als Präsident während Andres Rede Schweigen gebot; die „peinliche Debatte, die das ganze Land erregt", müsse mit Würde beendigt werden. Trotzdem hatte schon Guyot de Villeneuve zum Kriegsminister hinaufgestikuliert und geschrieen: „Sie'sind em anonymer Denunziant", und der ehemalige General Jacquey rief: „Sie haben ge logen". Doch warf erst Syvetons Roheit alles über den Haufen. Nach einem Wolfftelegramm berichten die De putierten, daß Syveton Andrs mit solcher Heftigkeit ge schlagen habe, daß das Gesicht ganz angeschwollen sei. Andrs fiel dem Ministerpräsidenten in die Arme, der aufgesprungen war, um dem Angegriffenen zu Hülfe zu kommen. Das nunmehr entstandene Handgemenge war allgemein: wildes Rufen und schrankenloses Hin- und Herlaufen tobte in den Reihen der Deputierten. Der. seht, — das sind so meine Erlebnisse! Mehr weiß ich nicht! Ich bin und bleibe nun 'mal so'n erzprosaisches Menschenkind! Angehende Künstlerinnen erleben ganz andere Dinge, nicht wahr, Annemi?" „WaS denn für welche? Was soll ich wohl erleben?" - „Na, in deinen großartigen Familien" — „Die sind eben viel zu großartig für mich, — da zähl' ich gar nicht mit! Denkst du denn, daß die mich für gleichberechtigt ansehen? Wer mit „mein liebes Kind", — wenn'S hoch kommt mit „liebe Kleine" an geredet wird, der steht gesellschaftlich auf einem total andern Niveau!" „Auch für die männlichen Mitglieder deiner Familien?" fragte Hans lächelnd. „Denn es sind doch Männer dabei, — auch junge, nicht wahr?" „Auch junge sind dabei, — aber nicht immer zu- gegen!" gab sie fröhlich zurück. „Den Leutnant Brückner sehe ich fast nie, und der Sohn von Geheimrat Wessel läßt sich auch selten blicken, — ein schrecklich wortkarger Herr, Kaufmann, glaube ich, soll hübsch die Klarinette blasen. Mir hat er noch nichts vorgeblasen, er sieht mich kaum an, ich denke, er ist damenscheu. Oswald Mentzel treffe ich noch am häufigsten an!" „Das ist das musikalische Genie!" „Das Genie!" bestätigte Annemarie kopfnickend, und dabei fiel ihr daS Benehmen des Genies neulich in der Fensternische ein, und sie wurde verlegen, was den Ge schwistern Kühne nicht entging. „Und deine Studien? Dein Gesang?" „Damit geht es mir gut! Ich sagte dir schon, Asta, wie ich einmal vor der ganzen Klasse gelobt worden bin, — das hat sich neulich wiederholt, .... ich muß nur immer d'rauf denken, daß niemand neidisch auf mich wird, — daS macht' ich nicht gern! Mir wird alles so leicht, was andern Schwierigkeiten macht, — zweite Stimme treffen und prima vista singen und trans ponieren — ich bin meinem lieben Mütterchen so schreck lich dankbar dafür, daß sie mir ihre musikalische Be gabung vererbt hat! Wenn i ch nicht vorwärts käme, — das wär' geradezu eine Schande für mich!" „Da werden deine hohen Gönner sehr zufrieden sein!" „Die haben mich ja noch nie singen gehört! Frau Direktor Mentzel machte letzthin eine Aeußerung, es sei jetzt wirklich hohe Zeit, daß man etwas von meinen Studien merke, — ich war ganz still dazu! Ich kann mich doch nicht hinstellen und sagen: Jetzt, bitte, fordert mich auf! Ich will Euch etwas Vorsingen!?" „Aber uns singst du etwas vor!" „Mitten im Cigarettenrauch? Das würde etwas Schönes werden! Jetzt erzählst du, Hans!" „Ich? Nun, — ich weiß wirklich nicht" — «Aber Hans!" rief Asta vorwurfsvoll dazwischen. „Du wirst Annemarie doch nicht vorenthalten wollen, was du neulich erlebt hast!" „Erlebt? Du, Hans? Wo? Mit wem?" Mit beiden Armen lehnte sich Annemarie über den Tisch, ganz Feuer und Leben und Anteilnahme. Da fing er an zu erzählen. Zuerst ganz sachlich und kühl, — gleichsam über den Dingen stehend. ES dauerte aber nicht lange, da war er mitten darin, so subjektiv und persönlich, wie nur möglich. HanS konnte gut und anschaulich reden, wenn es ihm irgend darum zu tun war. Jetzt freute ihn seiner kleinen Freundin warme Anteilnahme, — es freute ihn der Blick der wundervollen Augen, der erwartungsvoll und glänzend auf ihm ruhte, es interessierte ihn, zu sehen, wie Licht und Schatten abwechselnd über dies ausdrucksvolle Ge sichtchen glitt, und wenn, halb unbewußt, bewundernde oder erstaunte Ausrufe von des Mädchens Lippen fielen, so machte ihn, dem Unterbrechungen total verhaßt waren, dies merkwürdigerweise nicht ungeduldig; er beant wortete sogar ein paar dazwischen gestreute Fragen ganz eingehend «Aber Hans, — Hans, — das ist eine wichtige, große Sache! Das ist — das ist ein großes Stück Zukunfts- frage für dich!" Annemarie sprang auf, es litt sie nicht mehr in der Sofaecke. „Ich verstehe zwar noch nicht ganz, .... wenn du diese Macht in dir hast und kannst die Leute beruhigen und beeinflussen, was sollst du dann noch in Paris?" „Studien machen auf einschlägigem Gebiet, — sehen, wie andere es treiben und was dabei erreicht wird, — Vergleiche anstellen, — bei den verschiedensten Kranken verschiedenster Beanlagung zu wirken suchen! Das Feld ist dort ein ungleich größeres, der Boden viel mehr vor bereitet, — die Chancen, etwas zu erreichen, unendlich vielversprechender!" „Das sagt der alte Medizinalrat auch?" „Eben der betont es am meisten!" „Ja, dann mußt du doch nach Frankreich! Nicht wahr, Asta, — das muß er?" „Er müßte schon .... nur — eine einfache und doch sehr wichtige Frage: wer soll es bezahlen? Die Eltern können es nicht, darüber find wir unS ganz klar, Hans und ich" .... Es hatte draußen geschellt, — keiner der drei in ihr Pariser Thema vertieften Menschen hatte es beachtet. — Jetzt trat AgneS, nach vorsichtigem Klopfen, inS Zimmer: „Da iS wieder noch 'n Herr gekommen, — auch 'n junger Herr! — der sagt, er kennt alle drei Herr schaften, und er möcht' Fräulein Lombardi sprechen!" „Wer kann denn das sein?" verwunderte sich Anne- marie. „Hier iS de Karte!" Agnes war bis an den Teetisch herangekommen und legte die große, elegante Visiten karte mit einer Gebcrde vor die kleine Gesellschaft hin, als habe sie den besten Trumpf erst jetzt auszuspielen. „Frank W. Holbein — Maler" las Asta laut. „Das ist ja dein Freund, Hans!" „Jawohl!" bestätigte Hans stirnrunzelnd. „Er hat mich gebeten, ihn bei Annemarie einzufllhren, und ich schlug es ihm natürlich ab, da sie kein eigenes Heim hat und" er verstummte, mit einem Blick auf die junge Agnes, die ganz hingebungsvolle Anteilnahme war. „Ich muß es nun selbstverständlich dir, liebe Anne marie, überlassen, ob du ihn empfangen willst oder nicht!" „Gewiß will ich! Das ist doch der Amerikaner, den wir neulich in der Leipziger Straße trafen? Zurück schicken können wir ihn unmöglich! Ich laste bitten, Agnes!" „Also 'n Amerikaner!" dachte das Zöschen, während cS behend den Korridor heruntcrtänzelte. „Seh' einer diese kleene Provinzrose an, — was die alles für nette Männer uf'n Kieker hat! Diesen neuen find' ich nun einfach süß!" Der „neue Süße" betrat, nach hastigem Anklopfen, das kleine Zimmer. „Bitte, bitte, mein gnädiges Fräulein, verzeihen Sie mein Eindringen!" begann er mit einer eleganten Ver beugung gegen Annemarie. „DaS kommt davon", wandte er sich strafend an Hans Kühne, „daß du mir meine Bitte, mich mitzunehmcn, nicht erfüllt hast. Wie steh' ich nun da?. Darf ich näher treten?" „Aber ja doch, — bitte!" Annemarie mußte lachen, — die halb zerknirschte, halb vorwurfsvolle Miene ließ dem „Eindringling" zu drollig. Dicht bei der Tür stehend, fixierte er sie von unten auf mit einem Blick, der sehr viel vom Schelm, noch mehr vom Bewunderer hatte, — es lag aber nichts Beleidigendes in dieser Be wunderung. „Darf ich nach frischem heißem Wasser für Sie klingeln, daß ich Ihnen eine Tasse Tee zurechtmachen kann? Cigaretten sind auch noch da!" (Fortsetzung folgt.)
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