40 Susanne Schötz Familienideal und Geschlechterfrage in einer neuen Lebenswelt In ihren Visionen und Konzepten zur Schaffung einer besseren Gesellschaft legten bürgerliche Meisterdenker im letzten Drittel des 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jh. nicht nur vielfältige Überlegungen zur Reform der Staatsverfassung, der Rechtssysteme, der Wirtschaftsordnung und Bildungssysteme vor, sondern unterbreiteten oft auch detaillierte Vorstellungen über angemessene männliche und weibliche Rollen wie über das Verhältnis der Geschlechter zueinander. Mit diesem Nachdenken über die Platzierung von Mann und Frau reagierten sie seismographisch auf den gesellschaftlichen Wandel im Verhältnis von Familie und Arbeitswelt sowie von Bürgern und Staat. Immer erkennbarer kam es zur Ablösung der jahrhundertelang dominierenden kleinen familienwirtschaftlichen Produktion durch großbetriebliche Formen der Arbeitsorganisation in Manufaktur und Fabrik. Sie führte zur räumlichen Trennung von Erwerbs- und Familienleben in den wachsenden Gruppen der Lohnarbeiter und Unternehmer und bedeutete fundamentalen Wandel von Lebens weisen und Mentalitäten. Auch die Prozesse der Bürokratisierung und Ausdifferenzie rung staatlicher und kommunaler Verwaltungen bewirkten, dass sich für eine zunehmend größere Zahl von Beamten Arbeits- und Familienleben trennten. Vieles aus dem Gedan kengut der Aufklärung kam nun auf den Prüfstand: die Ideen von der natürlichen Gleichheit aller Menschen und ihrer Fähigkeit zur Vernunft, ihrem Recht auf persönliche Freiheit und individuelle Lebensführung gerieten in Spannung zu den auf Unmündigkeit und Abhängigkeit abzielenden wirklichen Verhältnissen. Auch die Rolle der Frau gehörte dazu: Wo sollte ihr Platz sein? Im Familien- oder im Berufsleben oder in beiden Bereichen? Welche Bildung sollte sie erwerben, um auf ihre Existenz gut vorbereitet zu sein? Welche Rechte und Pflichten sollten ihr zukommen? Sollten Frauen, wie Olympe de Gouges es während der Französischen Revolution in ihrer »Erklärung der Menschen- und Frauenrechte« forderte, teilhaben an der Gesetzgebung eines Landes? Durften das überhaupt Wesen, die unter der Vormundschaft ihrer Väter, Ehemänner oder Brüder standen und nur eingeschränkt geschäfts- und rechtsfähig waren? Solche Fragen erhielten grundlegende Bedeutung für die Ausgestaltung der neuen bürgerlichen Gesellschaft - viele Schlüsseltexte spiegeln das. So äußerte beispielsweise Carl Weicker, Mitherausgeber des »Staats-Lexikonjs], Encyklopädie der sämmtlichen