4 Reinhardt Eigenwill Wachstum und Wandel - Dresden in der Gründerzeit Ein Überblick In den ersten reichlich einhundert Jahren des Industriezeitalters vollzog sich die »gründ lichste Umwälzung menschlicher Existenz in der Weltgeschichte«. 1 Am Anfang des »langen« 19. Jahrhunderts standen die Französische Revolution und die frühe Phase der Industrialisierung in England. An seinem Ende waren große Teile der westlichen Welt und ihre von althergebrachten Traditionen und Herrschaftsverhältnissen geprägten Gesellschaften in der Moderne angekommen. Die Industrialisierung war dabei der alles beherrschende Prozess. Eine ihrer wesentlichen Voraussetzungen war - neben den technologischen Innovationen - das signifikante Bevölkerungswachstum in weiten Teilen Europas seit der Mitte des 18. Jahrhunderts. Während sich in vorindustriellen Zeiten ein in der Regel bescheidenes Wrtschaftswachstum und ein Anwachsen der Bevölkerungszahlen schnell gegenseitig aufhoben, löste sich dieser Zusammenhang nun auf. Zum ersten Mal in der Geschichte ermöglichten jene, die menschliche Arbeitskraft in bisher nicht gekanntem Maße ersetzende Maschinen in Verbindung mit neuen Ener giequellen und neuen Rohstoffen eine sprunghaft steigende Produktivität. Die wachsende Nachfrage nach Nahrungsmitteln, Waren und Dienstleistungen konnte nun von einer sich allerdings zyklisch entwickelnden Wirtschaft - zumindest prinzi piell - mühelos befriedigt werden. Anhaltendes Bevölkerungswachstum und ökono misches Wachstum bedingten einander. Um den Industrialisierungsprozess in Gang zu setzen und um ihn zu forcieren, waren gewaltige finanzielle Mittel notwendig, d. h., es musste eine ausreichende, von Banken und vom Staat betriebene Akkumulation von Kapital erfolgen. Die Konsequenzen dieses grundlegenden ökonomischen Wandels waren einschnei dend - verband er sich doch mit Transformationsprozessen in praktisch allen anderen Bereichen der menschlichen Gesellschaft. Der landwirtschaftliche Sektor verlor an Bedeutung, soziale Veränderungen traten ein, die die alten ständisch geprägten Struk turen ablösten und zur Entstehung ganz neuer Gesellschaftsschichten - der Industrie arbeiterschaft, eines neuen Mittelstandes und neuen Wirtschaftsbürgertums - führten. Wanderungsbewegungen trugen zur Verstädterung, zu einer in ihren Auswirkungen folgenreichen Urbanisierung erheblich bei. Und nicht zu vergessen: es entstanden neuartige Kommunikationsmöglichkeiten und Verkehrsmittel, die der Mobilität des Menschen und dem Austausch von Waren und Informationen ganz neue Dimensionen