James Retallack 13 Wahlrechtskämpfe in Sachsen nach 1896 Das Anliegen, die »rote Flut« der aufsteigenden Sozialdemokratie einzudämmen, hielt Liberale, Konservative und Regierungsvertreter während des gesamten Kaiserreichs in Atem. Insbesondere nach 1900 fanden sich diese Gruppen in äußerst heftige Debatten verwickelt, die letztlich für alle Seiten schwächend wirkten. Selten jedoch nahmen diese Auseinandersetzungen härtere Formen an als im Zusammenhang mit Wahlen und Wahlrechtsfragen. Gleichwohl schwand die Option einer grundlegenden Konfrontation mit der Sozialdemokratie gegen Ende der auf Reaktion gestimmten 1890er Jahre. Mit Beginn des neuen Jahrhunderts wurde vielmehr klar, daß eine Lösung nur in der Suche nach einem modus vivendi mit der SPD bestehen konnte; dies gilt vor allem für die deutschen Territorien außerhalb Preußens. In den vergangenen eineinhalb Jahrzehnten hat die internationale Forschung die Annahme widerlegt, wonach eine nationalistische Sammlungsbewegung antisozialistischer Parteien ein durchweg feststellbares Phänomen in der Geschichte des Kaiserreichs darstellte. 1 Der kanadische Historiker Brett Fairbairn konnte u. a. zeigen, wie wenig gewillt die politischen Eliten des deut schen Kaiserreichs waren, ihre Meinungsverschiedenheiten im Verlauf der Reichstagswahlkämpfe von 1898 und 1903 beizulegen. In beiden Wahlkämpfen weigerte sich die Reichsregierung, sich zugunsten irgend eines aktuellen Wahlprogramms der verschiedenen Parteien auszusprechen. Sie zeigte noch nicht einmal Interesse daran, Gruppierungen der Rechten im Parlament zu unter stützen. Konservative und Nationalliberale ihrerseits erwiesen sich als unfähig, die öffentliche Auf merksamkeit von Fragen allgemeinem Interesses wie Nahrungsmittelpreise, Steuern und Wahl rechtsfragen abzulenken. Gewiß riefen Wahlen zur Zeit des Wilhelminischen Reichs oft Gefühle von »Pessimismus und Zukunftssorge, Verständnislosigkeit und Empörung« 2 hervor. Doch diese Begriffe umschreiben nicht die Stimmungslage von Sozialdemokraten, sondern die von Regie rungsmitgliedern und konservativen Politikern, die um die Jahrhundertwende mit den Heraus forderungen der politischen Massengesellschaft und einer schwindelerregenden Bandbreite von konstitutionellen Möglichkeiten konfrontiert wurden. Zwischen 1896 und 1909 strebten die Nationalliberalen in Sachsen danach, die Oberhand über eine konservative Mehrheit im Landtag zu gewinnen. Spätestens 1909 jedoch war das Wahl bündnis dieser Gruppierungen, das »Kartell«, zerfallen. Beide Parteien - die sogenannten »Ord nungsparteien« in Sachsen - hatten ungewollt klargemacht, daß ihre internen Streitigkeiten ebenso wie ihre Kampagnen gegen die Sozialdemokratie im Endresultat geeignet waren, ihr eigenes politisches Überleben in Frage zu stellen. Es ist natürlich möglich, das Glas eher als halb voll denn als halb leer anzusehen. So hob Gerhard A. Ritter in einem bahnbrechenden Essay den erfolgrei chen Zusammenschluß der »Ordnungsparteien« ebenso hervor wie ihre Fähigkeit, gemeinsame