36 Mike Schmeitzner »Deutsche Wacht« und »Tintenjuden« Antisemiten und. Sozialdemokraten im Kampf um die politische Macht in Dresden (1893-1903) Im Rückblick erscheint die Tatsache, daß sowohl die antisemitische Reformpartei als auch die SPD vor mehr als 100 Jahren als stärkste und wählerwirksamste Dresdner Parteien galten, kaum mehr vorstellbar, wird doch die antisemitische Springflut landläufig erst mit dem Vormarsch der NSDAP vor 1933 angesetzt. Tatsächlich gab es jedoch zur nationalsozialistischen Massenbewe gung eine Art Vorspiel, das organisationspolitisch und wählerwirksam vor allem in Sachsen und Hessen von Bedeutung war. Zwar lagen die sächsischen Hochburgen der Reformpartei in der Zeit von 1893 bis 1903 eher im ländlichen Osten des Landes, doch konnte sie auch in den zwei Dresd ner Reichstagswahlkreisen erhebliche Stimmenanteile auf sich vereinen und eigene Kandidaten durchsetzen. Der Kampf um die politische Vorherrschaft in der sächsischen Residenz wurde end gültig erst im Jahre 1903 entschieden. Dem vorausgegangen war ein Machtkampf, den vor allem der organisierte Rasse-Antisemitismus mit besonderer Härte ausgetragen hatte. Die soziale Basis der Kontrahenten konnte dabei nicht unterschiedlicher sein: Während sich die 1879 in Dresden gegründete Reformpartei auf den Mittelstand stützte, den sie gegen angeb liche existenzielle Bedrohungen durch eingewanderte osteuropäische Juden zu verteidigen vor gab, verstand sich die Sozialdemokratie als Stimme der Arbeiterschaft. Diese Konstellation erhielt noch dadurch eine besondere Dramatik, daß von Seiten der Reformer Forderungen erhoben wur den, die denen der späteren Nationalsozialisten ähnelten und sogar in Vernichtungsdrohungen gegen die Juden gipfelten. So hatte die Reformpartei im Jahre 1895 zuerst die Unterstellung des »stammfremden Judenvolkes« unter ein »besonderes Fremdenrecht« 1 und vier Jahre darauf die Lösung der »Judenfrage« durch die »schließliche Vernichtung des Judenvolkes« gefordert. 2 Ummäntelt wurden derart radikale Vorstellungen durch Bekenntnisse zu Kaiser und Reich sowie zu Sozialreformen und einer Ausweitung des demokratischen Wahlrechts auf alle deutschen Län der. Mit diesen Programmvorstellungen versuchten sich die »Reformer« scharf von der damals sozialrevolutionären SPD abzugrenzen. Die antisemitische Agitation gegen die »Sozial-Schmuhlokratie« In der Wahrnehmung der Dresdner Reformpartei existierten seit den frühen 90er Jahren zwei mehr oder weniger ernst zu nehmende politische Gegner: die Konservativen und die Sozialdemo kraten. Während die Reformer die Konservativen als Fleisch vom eigenen bürgerlichen Fleisch