45 Frank Heidenreich Sozialdemokratische Arbeiterkultur im »Roten Königreich« Aufstieg einer sozialkulturellen Gegenbewegung »Arbeiterbewegung« in Deutschland erschöpfte sich nicht im Kampf um politische Macht zur Gesellschaftsveränderung (Parteien) und in wirtschaftlicher Interessenvertretung (Gewerkschaften) - sie entwickelte sich seit ihren Anfängen als umfassende soziale Emanzipationsbewegung. Ihre kulturelle Praxis war ausdifferenziert und vielgestaltig. Die kulturelle Dimension machte eine »Besonderheit der deutschen Arbeiterbewegung« 1 aus. Ihr Stammland war Sachsen. Die Gründe waren sowohl ökonomische - der frühe gewerblich-industrielle Entwicklungsgrad - als auch kul turell-konfessionelle wie die protestantische Tradition. Wie entstand hier organisierte Arbeiter kultur, wie bildeten sich in Sachsen bis zum Ersten Weltkrieg mitgliederstarke proletarische Freizeitorganisationen heraus? Anfänge sozialkultureller Selbstorganisation von Arbeitern Gesellige Zusammenschlüsse von Lohnarbeitern lassen sich in Sachsen bereits für die 1840er Jahre nachweisen. Das Gebiet um Chemnitz stellte vor der Reichsgründung die industriell fortge schrittenste Region des Königreichs dar, und Leipzig wurde in der Revolution sogar das politi sche Zentrum der elementaren Arbeiterbewegung 2 in Deutschland. Industrialisierung und Poli tisierung sowie ein entwickeltes Vereinswesen im Vormärz waren Voraussetzungen dafür, daß Arbeiterbildungs- und Gewerkvereine, aber auch von Handwerksgesellen und Fabrikarbeitern getragene Sänger- und Turnervereinigungen entstanden. In den frühen Arbeitervereinen ver knüpften sich Bildung und Geselligkeit aufs engste. So hatten die Arbeiterbildungsvereine von Chemnitz (gegr. 1848) und Meerane (gegr. 1850) eigene Chöre. Der 22jährige August Bebel war 1862/63 zugleich Vorsitzender der Bücherei- und der Vergnügungskommission des Leipziger »Gewerblichen Bildungsvereins für Arbeiter«. Aus Leipzig stammt ein Dokument, das die Existenz des ältesten von Arbeitern, genauer von lohnabhängigen Handwerkern, geführten Turnvereins in Deutschland belegt: ein Mitgliedsaus weis des »Arbeiter-Turnvereins«, ausgestellt am 21. Mai 1850 auf den Schneidergesellen »Bürger Otto Aldag«. 3 Der Verein war Ende März aus dem demokratischen Volksturnverein hervorge gangen, der sich aus Arbeitern verschiedener Gewerbe zusammensetzte, und stand in Verbindung zur »Arbeiterverbrüderung« Stephan Borns. In Chemnitz existierte bereits im Vormärz ein Sängerchor aus Fabrikschlossern, die in Betrieben des dortigen Maschinenbaus arbeiteten. Ein