64 Carsten Schmidt Dresden im Ersten Weltkrieg In den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts hatte sich Dresden endgültig zu einem der bedeu tendsten Verkehrs- und Wirtschaftszentren des Deutschen Reiches entwickelt. Neben Groß betrieben dominierten insbesondere Betriebe kleinerer und mittlerer Größe auf dem Gebiet der rohstoffimport- und warenexportabhängigen Fertigungsindustrie die Wirtschaft der sächsischen Residenzstadt. 1 Der wirtschaftliche Aufschwung lockte viele Zuwanderer aus dem In- und Aus land nach Dresden; die Stadt wurde zu einem »Schmelztiegel von Menschen unterschiedlicher Tradition und Kultur«. 2 Als die dichtbewohnten umliegenden Gebiete 1903 eingemeindet wurden, war die Residenzstadt nach ihrer Einwohnerzahl die viertgrößte Kommune im Reich. 1914 zählte Dresden 567 000 Einwohner. Von der arbeitenden Bevölkerung war rund die Hälfte in der Indu strie und rund ein Viertel in Handel und Verkehr beschäftigt. 3 Am 5. Juli 1914 feierten die Dresdner ausgelassen den Sachsentag. Oberbürgermeister Beutler pries stolz die Vorzüge seiner Stadt und deren Einwohner. 4 Niemand ahnte, daß sich das Leben in ihrer Stadt schon bald dramatisch verändern sollte. Breits die Mobilmachung Österreich- Ungarns am 28. Juli machte sich in Sachsen bemerkbar. Im Königreich lebten 162 000 Österrei cher, die Hälfte davon Männer. Auf die Kreishauptmannschaft Dresden entfielen immerhin 70 000 (allein in Dresden fast 25 000), darunter 9 000 -10 000 Wehrpflichtige. 5 Einige Betriebe in der Grenzregion mußten plötzlich auf wichtige Arbeitskräfte verzichten. So war die Stimmung der Bevölkerung bei Bekanntwerden der Kriegserklärung Deutschlands an Rußland am 1. August 1914 sehr verschieden. Daß es eben keine kollektive Kriegsbegeisterung gab, zeigte sich auch in Dresden. »Vielmehr fielen die Reaktionen der Bevölkerung auf die Nachricht vom Kriegsausbruch, je nach gesellschaftlicher Schicht, sozialer Lage und politischem Bewußtsein, recht unterschied lich aus.« 6 Vor allem in der Arbeiterschaft, die gerade in Dresden den Großteil der Bevölkerung ausmachte, wurden Sorgen über das zukünftige Auskommen laut. Wie sollten Arbeiterfrauen ihre Familien ernähren, wenn der Mann zum Kriegsdienst eingezogen wurde? Die Ungewißheit hatte panikartige Hamsterkäufe in den städtischen Geschäften zur Folge, an denen nicht nur Frauen, sondern auch Männer beteiligt waren. 7 Erst nachdem die SPD-Fraktion im Reichstag am 4. August den Kriegskrediten zugestimmt hatte und erste Siegesmeldungen von der Westfront eingetroffen waren, keimten auch bei den sonst von der Obrigkeit gescholtenen Arbeitern patriotische Gefühle auf. Quer durch alle Gesellschaftsschichten war man sich einig, daß der vermeintliche Angriff auf das Vaterland nur mit vereinten Kräften zurückzuschlagen sei. Wie im Reich, so verständigten sich auch im Königreich Sachsen die Parteien für die Zeit des Krieges auf einen politischen »Burgfrieden«, d. h. sie verzichteten auf politische Auseinandersetzungen, um den deutschen »Schicksalskampf« nicht zu gefährden. In diesem Sinne umging man auch die im November 1915 anstehenden Wahlen