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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 23.07.1904
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1904-07-23
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19040723024
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1904072302
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1904072302
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1904
- Monat1904-07
- Tag1904-07-23
- Monat1904-07
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Nr. 372. 98. Jahrq. Seivziqer Tageblatt. Sonnabend, 23. Zntt 1904. Pkorafl verwand«», aus d«m nur die Ortschaften als feste Puntte hervorragen. Di« Beschlagnahme der an Vord de» „^prinz Neinrich". Wahrend die „Malakka" Angelegenheit bereit« durch da» Nachreden der russischen Regierung erledigt ist, ist die« mit der Sache de- „Prinz Heinrich" noch nicht der Fall. Der Sachverhalt ist deutscherseits ausreichend sestgestellt, wie gestern schon offiziös mitgeteilt wurde, und inan sollte an nehmen, daß man auch in Petersburg jetzt hinreichend in formiert wäre, um die Erklärung abgeden zu können, daß man den Uebergriff de« „Smolensk" bedauere und dafür gesorgt habe, daß derartige Vorfälle sich nicht wiederholen. Man sollte doch gerade in Rußland nicht gewaltsam die letzten deutschen Sympathien verscherzen. Ver Au»gang de» Ariege». Ein Artikel der neuesten „Zukunft" bietet folgende Mut maßungen über den Ausgang deS Krieges: Der Unbefangene hat den Eindruck, daß den Führern der Gelben in all dem Glanz bänglich zu werden beginnt. Die Russenflotte ist nicht völlig vernichtet, ist sogar unbequem, Port Arthur hä» sich länger, als man erwartet hatte, — und wenn es kapituliert, ist auch noch nichts Entscheidendes erreicht. Den Bahn körper an einem Zentralpunkt zerstören oder dem müden Kuropatkin, bevor neue Massen eintreffrn, rin Sedan bereiten: das allein konnte einstweilen wenigstens den Sieg sichern. Jetzt sind zwei, drei Armeekorps in Rußland verfrachtet worden; frisches Kanonenfleisch für Ostasien. Nicht mehr zusammen gewürfelte Lumpenausklopfer. Jeder Bonnarsch verlängert den Japanern die Verbindungslinie nach ^dcr Heimat und er schwert die Verpflegung der Truppen, die Ergänzung des Materials: und sic haben viel ärgere Verluste gehabt, als ihr Wille zu wohltätiger Lüge je zugab. Hält sich Port Arthur, bis Kuro- patkin drcihunderttausend Gewehre hat, dann geht Nippon die Sonne unter; und die Koreaner warten nur auf eine Gelegenheit, um offen für Rußland gegen den gelben Tyrannen zu meutern. Ausbluten lassen, spricht der Politiker; je schlimmer Eisbär und Gelbfuchs einander zerzausen, nm so besser für uns. Der Rat eines Weisen; wenn in Liautung nur nicht auch unser Geld «»verpulvert würde! Fragt deutsche Großindustrielle und Bank direktoren, ob sie den Asiatenkrieg bis ins nächste Jahr verlängert wünschen, ob nicht jeder den Frieden herbeisehnt. Ein Tauer ver heißender Sieg des Sonnenretchs ist jetzt, da fast sechs Monate mit teurer Glorie, doch ohne rechten Ertrag vertan sind, kaum noch denkbar: und nur Kinder können ihn wie einen Segen vom Ehriftenhimmel serflehen. Der Präsident des Kizokuin, deS japa nischen Herrenhauses, bat im März gesagt: „Auf unser Reich den Bannerstaat asiatischer Kultur, blickt hoffend der ganze Osten; und wir fühlen die heilige Pflicht, allen, die uns vertrauen, China, Indien, Korea, jedem zivilisierten Asiaten, die Helferhand hinzu- zusrrecken, als Freunde sie aus dem Joch zu befreien, das Europa diesen einst mächtigen Völkern ausgezwungen hat, und der Welt zu beweisen, daß der Orient sich auf jedem Kampfplatz mit dem Okzident messen kann." So denkt jeder Japaner. Nach den Russen kamen Franzosen, Deutsche, Briten an die Reihe, und der Osten würde von den rotborstigen Barbaren gründlich gesäubert. In London hat man die Gefahr früh erkannt und wünscht dem gelben Mann längst schon nicht mehr den Sieg. In Tokio würden die klügsten Leute sich jetzt mit dem gemehrten Prestige be gnügen und froh sein, wenn die Mißgunst großmächtiger Reis- nnd Baumwollvroduzenten sie beim Fricdensichluß nicht auch noch um Korea prellt . . . Und was soll unsere nüchterne Dernunit wünschen? Was die Börse wünscht: daß bald Friede wird. Ein haltbarer Friede würde aber nur möglich, wenn Ruß land vorher ein paar Erfolge hätte, die ihm demütigende Be dingungen ersparten. Auf Jahre hinaus wäre es, mit seinen zer rütteten Finanzen, auch dann noch unschädlich gemacht und konnte, wenn Witte nicht etwa selbst in Kriegsnöten noch schlauer als Bülow ist, ein Prachtkundc unserer Industrie werden. Denn es muß Heer und Flotte reorganisieren nnd eine »eine Milliarde für Eiscnbabnmaterial verwenden. Wundert sich nun noch einer, daß alle Börsen des Kontinents, trotz Kischiucw, jede den Russen Halb wegs günstige Meldung mit einer Hausse feiern? Und ihr Wunsch wird wahrscheinlich erfüllt werden. Wer hält die Wette? Wenn Port Arthur noch vier Wochen widersteht, haben wir vor Mariä Geburt, wenn Kuropatlin erst im Herbst siegreich vorrücken kann, nm die Zeit des ChristsesteS Frieden. fvMstckr Lagerrrdau. * Leipzig, 23. Juli. Graf Bülow und der rveutuellc Rücktritt des Justiz ministers. Ter bündleriichen „Deutschen Tageszei tung" geht^cs sehr wider den Strich, daß der Justiz minister lsi-, S ch ö n st e d t nach dem Königsberger Die Schlacht am Motivnpatz. Fiasko und nach dein Fiasko mit dem preußischen Kon - trattbruchgesetz „lediglich wegen stoben Alters" zurücklrcten will. Tas Organ des Bundes der Land wirte meint: Sollte das Kontraktbruchgcsetz zurück gezogen werden, so würde nicht nur der Ressortminister t>r. Schönstedt, sondern wie beim Volksschul gesetz, auch der Ministerpräsident „gewisse Konsequenzen ziehen müssen". — Die „Deutsche Tages zeitung" verlangt also zum mindesten, daß unter der erwähnten Voraussetzung Graf Bülow auf das Ministerpräsidium verzichte. Der Vergleich mit den Vorgängen beim Volksschulgesetz des Grafen Zedlitz hinkt aber ein wenig, denn Graf Bülow ist für das preußische Kontrattbruchgesetz parlamentarisch über haupt nicht eingetreten. Die Harmlosen von Schneidemühl. Unter dieser Ueberschrift bringt die „Königsberger Alla. Ztg." einen Artikel, dem wir folgendes entnehmen, wobei wir Wert auf die Schlußbetrachtung legen: Vor der Strafkammer zu Schneidemühl erschien dieser Tage eine erlesene Gesellschaft edler Polensöhne, alle aus altem Adel. Zwei von ihnen nahmen den niemals er wünschten Platz auf der harten Anklagebank ein, die übrigen, waren Zeugen. Graf Boleslaus Buinski, Herr zu Dombke, ist als Besitzer wildrcicher Jagdgründe in seinen Kreisen geschätzt und beliebt. Hatte man sich an edlem Weidwerk ergötzt und in frischer Win terluft mit geröteten Wangen dem flüchtigen Wild nach gestellt, so erquickte ein gastliches Mahl in den strahlend erleuchteten Sälen des Grafen Boleslaus die ermüdeten und durchfrorenen Lebensgeister der Jäger, und zum Schluß wurde das Glück, das beim Weidwerk den Herren hold gewesen war, noch im Spiel erprobt. Hier nun lächelte die flatterhafte Göttin mit einer folchen Bestän digkeit dem Neffen des gastfreien Hausherrn, dem Grafen Johann Bninski, daß die von ihr nicht Begünstigten, wie das häufig geschieht, Verdacht schöpf ten, und der Rittergutsbesitzer von Poninski schleuderte eines Nachts dem Grafen Johann den Vorwurf des Falschspielens in das aristokratische Antlitz. Alsbald schlug die bekannte polnische Leideilschaft in Hellen Flam men auf, die schön frisierten Köpfe erglühten, nnd kre pierende Wortgranaten wie „Lump" und Bedrohungen mit der Reitpeitsche durchsausten die vom Havannadampf erfüllte Luft. Die Sache sollte natürlich auf dem üb lichen Wege des Ehrenhandels ausgetragcn wer den. Ein Ehrengericht aus polnischen Aristokraten sprach sich zugunsten des Grafen Johann Bninski aus, der nun seinen Widersacher vor die Pistole fordern ließ. Allein, von Poninski lehnte die Forderung ab, weil ein maß gebenderes Ehrengericht aus Offizieren, dem Grafen Johann die Satisfaktionsfähigkeit abgesprochen hatte, statt des Austrags mit der Waffe im grünen Walde kam die Sache zum Austrag mit den Paragraphen des Strafgesetzes im ernsten Gerichtssal, und Graf Johann Bninski wurde als Falschspieler zu drei Monaten Ge fängnis und 3000 Geldstrafe, wegen Herausforde rung zum Zweikamps zu einem Monat Festungshaft ver urteilt; sein Oheim Graf Boleslaus, der seinen Neffen aut der Anklagebank Gesellschaft geleistet hatte, wurde freigesprochen. An sich ist der Vorfall ziemlich belang los und häufig genug dagewesen. . . . Was aber an diesem besonderen Fall auffällt, ist das Ehren- ge richt polnischer Aristokraten, das für die Ehrenhaftigkeit des Grafen Johann Bninski entschieden hatte und sich dann sowohl vom Offiziersehrengericht wie von der Strafkammer des Landgerichts eines Besseren belehren lassen mußte. ... In der Gerichts verhandlung wurde durch einen Zeugen bekundet, daß dem Grafen Johann Bninski von seinen Stammes- und Standesgenossen uahegelegt worden war, für zwei Jahre aus Deutschland zu verschwinden. . . . „Dieses Gemeinschaftsgefühl des Polentums, das nicht nur dem Adel eigen ist, das auch im Bürgertum stark ausgeprägt lebt und wirkt, und zu dem das niedere Volk von den Geistlichen erzogen wird, stellt dem Deutschtum jene feste Brustwehr entgegen, die durch nichts anderes als durch eine gleich starre Brustwehr deutschen Gemein sinns überwunden werden kann. Dinge, wie sie im Kwi- das Polcntum nicht täuschen. Dinge, nüe sie im Kwi- leüi-Prozeß und jetzt in Schneidemühl an die Oeffent- liclckcit gedrungen sind, bezeichnen nicht das Polentum an sich, nicht einmal die polnische Aristokratie. Und wandelte selbst diese Aristokratie kulturell auf der ab steigenden Bahn, so ist doch längst ein unter den Wohl taren der preußischen Herrschaft erstandener und erstark ter Mittelstand an ihre Stelle getreten und hat die Führerschaft im Vernichtungskampf gegen das Deutsch tum übernommen. Nicht das Minderwertige aus den Slandalprozessen dürfen wir uns zum Trost dienen lassen, sondern das im Wust des pikanten Beiwerks fast verschwindende Kraftmoment, den Gemeinsam keit s t r i e b , der die Stärke dieses kämpfenden Volks tums ist, müssen wir herausschälen, uns ganz klar vor Augen halten und daran den starken Gegner erkennen, gegen den wir unser VolkStmn und unser Vaterland zu verteidigen haben." Von Onkel SamS Flotte. Bekanntlich hat Admiral Tewey die amerikanische Flotte schon wiederholt für die erste der Welt erklärt, so weit die Tüchtigkeit ihrer Schiffe, Offiziere und Mann- schäften in Betracht kommt. Nun hat aber eine von den Marinebehörden des Bundes angcstelltc Untersuchung er- geben, daß sich die Torpedoboote des Bundes in einer schauderhaften Verfassung befinden. Nur eins Her Boote soll seetüchtig sein. Besonders schlecht soll cs um die Maschinender Boote bestellt sein. Die Untersuchungs behörde hat sich deshalb entschlossen, eine schwerere Ma schine einzuführen. Tic Beamten sind der Meinung, daß es besser sei, eine Maschine zu haben, von welcher man überzeugt sein kann, daß sic dem Boote unter allen Um- ständen und in jedem Wetter eine Geschwindigkeit von 25 Meilen verleihe, als eine Maschine, welche 'dem Boote eine Geschwindigkeit von 30 Meilen verleihen soll, aber bei jeder Gelegenheit versagt. Rechnet man nun noch das häufige Platzen der Geschütze, das Desertieren und Mangel an geschulter Mannschaft hinzu, so ist es mit Ad- miral Deweys Behauptung allerdings schlecht bestellt. vrutscvrs Keich. * Leipzig, 23. Juli. Ein neue» Programm Ser evangelischen Arbeitervereine? Im „Sächsischen Evanael. Arbeiterblatt", dem offiziellen Organ der evangelischen Arbeitervereine in Sachsen, erläßt Pastor Liebster-Leipzig, der Hauptführer der sächsischen „Evangelischen Bereinigung", einen Appell an die Arbeitervereine, mit der Evangelischen Vereinigung gemein same Sache zu machen und zu diesem Zwecke ihre absolute politische Neutralität zu erklären. Er schreibt: Die Evang. Arbeitervereine dürfen gegen die Arbeiterschaft nicht feindselig auftreten. Ein Evang. Arbeiterverein, der eine sozial demokratische Kandidatur bekämpft, wird von der Mass« der Arbeiter als Keil im eigenen Fleische gefühlt und seinerseits mit allen Mitteln bekämpft. . . . Der Evang. Arbeiterverein darf daher nicht mehr für bürgerliche Parteien Wahldienste tun. Diese politische Neutralität, heißt es weiter, sei nach außen hin durchaus vereinbar mit dem 8 2 der Satzungen, der verlange, daß die Liebe zum Vaterlande und zum angestammten Fürstenhause gepflegt werde, aber es sei Pflicht, „um der reli giösen Verkündigung willen von der öffentlichen Ver breitung dieser Gesinnung abzusehen. Diese hohe Auf gabe müsse man den „Juristen und anderen Staatsmännern" überlassen. In einem Nachwort zu diesem Aufruf stellt der Heraus geber des „Evang. Arbtrbl.", Pastor Kruspe-Dresden, eine eingehende Darstellung dessen in Aussicht, woriu „Arbeiter verein" und „Bereinigung" Zusammengehen und worin sic abweichen, sagt aber jetzt schon, waS die Unterstützung der bürgerlichen Parteien anlangt, die evangelischen Arbeitervereine müßten sich so stark machen, daß um ihret willen von den Ordnungsparteien Vertreter einer energischen Sozialreform aufgestellt würden, oder daß die Sozialdemokratie ihre revolu tionären und materialistischen Gedanken immer weiter in de» Hintergrund schiebe, bis sie zum alten Eisen geworfen würde». Ferner Wahldienste für die bürger lichen Parteien werden also nicht ohne weiteres abgelehnt; absolute politische Neutralität also nicht zugesagt. Eigen tümlich mutet das Zugeständnis an, die Zusammenarbcitung von „Evangelisch-Sozial" mit „National" sei nicht Sacke der evangelischen Arbeitervereine. Man will also, damit die internationale, vaterlandslose Sozialdemokratie nickt „religionslos" und „kirchenfeindlich bleibt", von einer kräf tigen Betätigung der Vaterlandsliebe absehen. Hierin stimmen „Arbeiterverein" und „Vereinigung" vollständig überein. Und das wäre dann allerdings der Punkt, wo auch diejenigen übrigen bürgerlichen politischen Faktoren, wie Parteien und Presse, die eine ehrliche und kräftige Weiterführung der Sozialresorm am wärmsten wünschen und am kräftigsten vertreten, nicht mehr mitmachen können. Voraussetzung für Zusammenarbeit ist ein gemein schaftlicher Boden, und den kann einzig und allein das Gefühl der Staatsgemeiuschaft und Staatsbürgerverpflichtung abgeben. Ohne ehrliche und furchtlose Betonung und Betätig ung der Vaterlandsliebe ist nicht einmal an Sympathie für derartige Bestrebungen zu denken. Mit der Vaterlands liebe Verstecken zu spielen, dünkt uns kein besonders würdiges Beginnen. O * Berlin, 23. Juli. * Der Kaiser wird, wie die „Truth" meldet, wahrschein lich die zweite Hälfte des Monat« November in England zubringen und in diesem Falle der Gast des Königs und der Königin im Schlosse zu Windsor und von Lord und Lady kurzen Urlaub benutzen, um dringende Geschäfte in Paris zu ordnen und dann durfte ich dienstlich noch einige Zeit in Toulon festgebalten sein." „Aber Sie werden dock) Ihren Abschied nehmen?" „Oh nein. Ich denke nicht daran." „Heiraten —" .Tos will ich nicht in Abrede stellen." Mich wundert es übrigens, Herr Vicomte — Sie ver zeihen, daß ich mir die Bemerkung erlaube —", fiel jetzt Herr Belotti ins Gespräch, daß Sie nicht schon längst ver heiratet sind. Wenn ich mich recht besinne, war das immer der Wunsch Ihres seligen Herrn Papa." „Ich weiß nickt. Ich glanbe nicht, Herr Belotti, ich glaube Sie irren", entgegnete der Vicomte etwas zögernd. „Papa redete viel, kümmerte sich aber doch ziemlich wenig uni mick. Ich habe sogar den Eindruck, daß ich ihm einen großen Gefallen getan habe, als ich nach Tongking ging. Er war froh mich los zu sein " „Oh! Ich glaube, darin täuschen Sic sich doch." Herr Belotti wußte ganz genau, daß sich der Vicomte nicht täuschte. Ter alte Vicomte war ein sehr miß trauifchcr Herr gewesen, worunter nicht nur fein Sohn, sondern ganz besonders seine Gemahlin zn leiden gehabt. Inwieweit Grund zu Mißtrauen gegen letztere vor handen, darüber batte Herr Belotti ebenfalls seine Ver mutungen, ober natürlich sprach er nicht davon. „Wir wollen davon nicht weiter reden, fuhr der Hicomte fort. Jedenfalls rvor Papa gegen mich immer etwas absonderlich. Er hat mir während meines Ausent Halts ml Tongking nur zweimal und zwar beide Male sehr kurz und trocken und geschäftsmäßig geschrieben, das erste Mal kurz nach meiner Ankunft in Haiphong und das ketzte Mal kurz vor seinem Tode, als er mir in großen Zügen den Inhalt feines Testamentes mittciltc. „Nun, gerade das letztere sollte Ihnen beweisen, .Herr Licomte, wie nabe Sie Ihrem Papa gestanden haben. Sic können es doch gar nicht besser, nicht günstiger für Sie wünschen. Und wenn Sie es selbst gemacht hätten, Sic hätten es nicht günstiger für Sie machen können." „Ich sage nichts dagegen, aber doch lassen wir das. Wozu die alten begrabenen Sachen aufwühlend" Tie Wahrheit war, daß der alte Vicomte lange Jahre von seiner Gattin getrennt gelebt und die lieben Mit menschen daraus mancherlei Folgerungen gezogen hatten, die nicht einmal vor der ehelichen Treue der Vicomtesse Halt gemacht. Natürlich waren diese Folgerungen leeres Geschwätz. Hätte irgend ein Beweis vorgelegen, so wäre der Vicomte selbst der erste gewesen, der der Wahrheit auf den Grund gegangen wäre. Aber es lag eben keiner vor und Vicomte Andr6 hatte Recht, im Grabe ruhen zu lassen, was begraben war. Nach dem Essen batte Frau Belotti die unglückliche Idee, die musikalisck-cn Talente von Fräulein Florence leuchten zu lassen und die ganze Gesellschaft in den Musik salon einznloden Sie batte in dieser Beziehung offenbar keine Erfahrung und wußte noch nicht, daß cs kein sichereres Mittel gab, einen zufälligen Besuch entweder zu Tode zu martern oder aus dem Hause zu jagen, als diese soge nannte Musik nach dem Essen, wo man stillsitzen und an dächtig zuhören soll und doch nicht cinschlafen darf. E« dauerte denn auch gar nicht lange, so verschwand Victor obne weiteres und ging nach der Stadt. Sein Vater sah alle ziaei Minuten nach der Uhr nnd dachte offenbar an ganz andere Sachen, als an die musikalischen Genüsse seiner Tochter, so daß schließlich auch der Vicomte auf merksam wurde und erklärte, noch einen Besuch im Klub versprochen zu haben. Fünf Minuten später rollte er in Begleitung des Herrn Belotti, der dringende Geschäfte vorfchützte, in dessen Wagen nach der Stadt und Fmu Belotti saß wütend mit Florence allein im Musiksalon. kV. Das Wetter hatte sich inzwischen verändert. Der Mistral blies lebhaft über die Stadt hin, wühlte das Meer anf und drohte mit Regen. Herr Belotti saß in einen weiten Mantel gehüllt neben dem Vicomte im Wagen und wollte durchaus erst seinen Gast an Ort und Stelle absctzen, nm dann seine dringenden Geschäfte zu besorgen. Am Klubhausc in der Rue de Lyon stieg der Vicomte aus, verabschiedete sich von Herrn Belotti und dieser fuhr weiter nach der Rue Cannebidre bis in die Nähe des Hafens. Hier, wo eine kleine dunkle Gasse nach dem Kai Voltaire hinab führte, ließ Herr Belotti halten, stieg aus und rief dem Kutscher zu: „Fahren Sic nach Hause!" Tas schien dem Kutscher sehr angenehm zu sein, denn er hatte vermutlich befürchtet, wer weiß wie lange auf der Straße warten zu müssen und vielleicht sehr spät nach Hause zu kommen. Gleichwohl wartete Herr Belotti auf der Stelle, wo er ausgestiegen war, eine ziemliche Weile, qls ob er sich überzeugen wolle, ob der Kutscher auch seinem Befehl nachkam. Erst als dieser im Dunkel ver schwunden war, lenkte er seine Schritte nach dem Hafen zu, an dessen Kai er zunächst langsam hinging. Ob gleich nur sehr wenige Leute um diese Zeit am Kai waren, schlug er doch den Mantelkragen hoch und zog den Hut ins Gesicht, als ob er vermeiden wolle erkannt zu werden. Belebter war eS schon in den kleinen Gassen und Gäßckxms, welche auf der anderen Seite des Kais ab zweigten und in die sog. alte Stadt hinaufführten. Sie waren wenig appetitlich und wenig vertrauenerweckend und lagen meist in einem scheuen Dunkel da, als ob man sich geniert habe, die feuchten Winkel und Schmutzhaufen, die verkommenen, schwarz gerußten, Häuserchen und Spelunken zu beleuchten. Nur wo Kneipen und kleine Loqierhänser sich befanden, glänzte vor dem Hause eine rote oder weiße Laterne, um die mehr als zweideutige Kundschaft anzulocken, die aus Matrosen aller Herren Länder, Reisenden, die auf dem Meer angekommen oder abfahren wollten, Bummlern, Spielern, Gelegenheit-; machern, Dieben und ähnlichem Nachtgelichter bestand, wie es mehr oder weniger alle Mittelmeer-Hafen aufzu- weisen haben. Herr Belotti wußte offenbar nicht recht Bescheid in dieser Gegend, wollte aber auch nicht fragen, um nickt die Neugier Müssiger auf sich zu lenken. Es fiel ihm ein, daß sein Sohn Victor, nach der kurzen Bemerkung bei Tisch über die Krokodile in Marseille zu urteilen, hier jedenfalls besser bekannt war. Es wäre nicht übel gewesen, wenn er hier oder gar im „Grünen Krokodil" unverhofft mit diesem zusammen getroffen wäre. Tas konnte ja eine nette Familienscenc werden. Was war überhaupt das „Grüne Krokodil" für eine Sorte von Spelunke? Herr Belotti wußte, daß in Marseille ebenso wie in Nizza und Monte Carlo und an der ganzen Riviera sehr stark und sehr hoch gespielt werde. Die Südsranzoscn sind nun einmal die geborenen Spie ler. War das „Grüne Krokodil" vielleicht auch diesen: edlen Sport gewidmet? Jedenfalls war die ganze Sache Herrn Belotti in der Seele zuwider, aber er mußte mit seinem Bruder, der dieses .Haus als Rendezvous angegeben, sprechen, wenn er nicht riskieren wollte, daß sich dieser in der vornehmen Rue Cannebidre in seinem Bureau präsentiere. Tas hätte für ihn und für die Firma I. B. Belotti L Co. gerade jetzt von ganz unberechenbaren Folgen werden können. Endlich blieb er an der Ecke eines solchen Gäßchens stehen. Es war nock nicht das schmutzigste, aber immer schmutzig genug. Im Dunkel der nächsten Häuser sah er zwei Männer stehen, die dort heimlich flüsternd Gott weiß welche geheimnisvollen Geschäfte besprachen. .Herr Belotti, der sich nickt mehr anders helfen konnte, trat hinzu. „VerzeihungI" sagte er, „bin ich hier recht auf dem Wege zum grünen Krokodil?" Die beiden sahen ihn finster «nd mißtrauisch prüfend an und mochten sich fragen: Wie kommst du hierher? Wie kommt Saul unter die Propheten? War er ein Polizei spitzel? (Fortsetzung folgt.)
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