3 Vorbemerkung Gemessen am Interesse der Medien hat das Thema Genossenschaften heute nur mar ginale Bedeutung, gemessen an der Statistik freilich ist die genossenschaftliche Idee überraschend aktuell: 140 Millionen Menschen gehörten 2004 zu einer der 300000 registrierten Genossenschaften in der EU. Auf unspektakuläre Art beweist das Modell also noch nach 150 Jahren seine Funktionstüchtigkeit. Vielleicht gerade wegen der Anonymisierung in der Gegenwart ist das Mitte des 19. Jahrhunderts aus der Not ge wachsene Selbsthilfeprinzip von Gemeinschaftseigentum, Selbstverwaltung und demo kratischer Mitbestimmung in überschaubaren Gruppen ein ideales Bindeglied zwischen Wirtschaftlichkeit und Bedürfnis nach Identifikation. Angeregt durch ein Jubiläum der Dresdner Volksbank Raiffeisenbank (10 Jahre neue Villa Eschebach), untersucht das vorliegende Heft die Entwicklung des Genossenschafts wesens im Dresdner Umfeld seit der englischen Initialzündung der »redlichen Pioniere« von Rochdale im Jahr 1843. Hermann Schulze-Delitzsch wurde nach dem Scheitern der 48er Bewegung mit seinen sozialreformerischen Projekten zum Pionier der Bewegung in Deutschland. 1876 erließ der Reichstag auch auf seine Initiative hin das erste Genos senschaftsgesetz. In großer Zahl entstanden ab dieser Zeit Kredit-, Bedarfs- und Konsum genossenschaften; 1914 waren es mehr als 34000,1935 schon 53 000. Zu den markanten Gründungen in Dresden gehören 1858 die erste Genossenschaftsbank, der erstaunliche weitere 75 Banken folgten, und 1888 die KONSUM-Genossenschaft. Von sozialer wie städtebaulicher Bedeutung waren die über 60 Wohnungsbaugenossenschaften, die Dresden seit 1890 hatte. Die aus der Reformbewegung gewachsene berühmte Bauge nossenschaft Hellerau wurde schon oft beschrieben, in diesem Heft werden nun vor allem innerstädtische Bauprojekte der zwanziger Jahre vorgestellt. Sie entsprachen kommunaler Förderpolitik und prägten in einer Zeit großer Wohnungsnot auf funda mentale (bisher kaum untersuchte) Weise das Bild der wachsenden Stadt. Und attraktiv ist das genossenschaftliche Baumodell bis heute geblieben. Auch DDR-Sonderformen werden hier vorgestellt: die auf Zwangsvereinigung basie renden LPG, die Vielfalt der Handwerksgenossenschaften und die Selbstorganisation bildender Künstler in der Verkaufsgenossenschaft KUNST DER ZEIT. Eingebunden werden diese Aufsätze zur regionalen Situation in den Zusammenhang europäischer Entwicklung, in Betrachtungen zur Herausbildung des Genossenschaftsgedankens im 19. Jahrhundert wie zu den Potentialen des Modells in einer globalisierten Welt. In solchem kulturge schichtlichen Panorama hofft dieses Heft den lebendige Ursprung genossenschaftlichen Handelns vor Augen zu führen, die Idee solidarischer Selbsthilfe. Hans-Peter Lühr