67 Barbara Biesold Städtische Handwerksgenossenschaften und ihre Wurzeln in Sachsen Hermann Schulze-Delitzsch (1808-1883), ein Sachse, gilt als Begründer der ersten deut schen Handwerksgenossenschaft. Als Abgeordneter der preußischen Nationalversamm lung, konfrontiert mit dem Notstand der Arbeiter und Handwerker, sah er im genossen schaftlichen Zusammenschluss einen Lösungsansatz existenzieller Probleme im Handwerk auf Basis der »auf Gegenseitigkeit beruhenden Kooperationen«. So rief er 1849 eine Schuhmacherassoziation als erste erfolgreiche deutsche Handwerksgenossenschaft in Delitzsch ins Leben.’ Das Schuhmacherhandwerk war weit verbreitet und der gemeinsame Einkauf dringend erforderlich, um die Konkurrenzfähigkeit der einzelnen Handwerker zu sichern. Heute befinden sich im Haus des Schuhmachers Brendecke (Kreuzgasse 10 in Delitzsch), in dem die Schuhmacherassoziation gegründet wurde, Museum und Gedenkstätte für Schulze-Delitzsch (im weiteren Schulze). Da sich die Lage im Handwerk mit der Einführung der Gewerbefreiheit, der Zunahme der Industrialisierung und dem freien Wettbewerb verschlechterte, verankerte Schulze für das Handwerk zwei Arten von Genossenschaften in seinem Entwurf für ein Genos senschaftsgesetz (GenG). Dazu gehören Rohstoffvereine für »gemeinschaftlichen Bezug der Rohstoffe, aber auch gemeinsame Anschaffung von Maschinen und Arbeitsvorrich tungen«, später als Einkaufsgenossenschaften bezeichnet, und Produktivgenossen schaften als Form des Zusammenschlusses für eine Anzahl von Handwerkern und/oder Arbeitern zum gemeinsamen Betrieb eines Gewerbes auf eigene Rechnung und Gefahr. Schulze sah die Produktivgenossenschaft als eine »reife« Kooperationsform mit einer starken sozialen Flanke, aber zugleich als schwierigste Form. Sie war ihm ein Mittel, um individuell nicht existenzfähigen Handwerkern und wirtschaftlich abhängigen Arbeitern die Möglichkeit zu geben, einen Gewerbebetrieb auf gemeinschaftliche Rechnung zu errichten. Für die Lebensfähigkeit und den Erfolg dieser Genossenschaften stellte Schulze Prämissen auf, die noch heute für Genossenschaftsgründungen bedeutend sind: - der Entschluss zur Gründung von Produktivgenossenschaften muss als Akt der Selbst hilfe aus den Reihen der Handwerker und Arbeiter selbst kommen, also auf Freiwilligkeit beruhen, - die Kapitalaufbringung muss vor der Gründung geklärt sein und - eine »genossenschaftliche Vorschule« soll für die Ausbildung der geschäftlichen Rou tine und des genossenschaftlichen Geistes unter den Mitgliedern sorgen.