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01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Handelszeitung : 26.06.1907
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1907-06-26
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id84535308X-19070626014
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id84535308X-1907062601
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-84535308X-1907062601
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Handelszeitung
- Jahr1907
- Monat1907-06
- Tag1907-06-26
- Monat1907-06
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Umgebung die 6 gespaltene Petitzeile 25 Ps, finanzielle An zeige» 30 Pf^ Steklamen 75Ps.; von auSwärt» 30 Ps., RrKamen 1 M.; vom Ausland 50 Pf., fiuanz Anzeigen 75 Pf, Reklamen 1.50 M. Inserate v.Behörden im amtlichen Teil 40Ps. Beilagegebühr 5 M. p. Tausend exkl. Post gebühr. Geschäftsanzeigen an bevorzugter Stelle im Preise erhöht. Rabatt nach Tori' Feslerteilte Aufträge lönneu nicht zurück- gezogeu werden. Für da» Erscheinen an depimmtrn Tagen und Plätzen wird keine Garantie übernommen. Anzeige» - Annahme: AuguftnSPlatz 8, bet sämtlichen Filialen u. allen Annoncen- Elpeditiouen des Ja« und Auslandes. Haupt-Filiale Berlin: TarlDnncker,Herzgl.Bayr.Hosbuchhandlg, Lützowstraße 10 (Tel. VI, 4603. Nr. 175. Mittwoch 26. Juni 1907. 101. JahlMNst. Var Aictztigste vom läge. - König Friedrich AugustvonSachsen hat gestern eine Reise nach dem oberen Erzgebirge angetreten. (S. des. Art. in 2. Beilage.) * Der „Staatsanzeigcr" gibt bekannt, daß sich der Ministerwechsel nunmehr amtlich voll zogen hat. fS. Dtschs. R.s * Dem Minister v. Rheinbaben wurde der Schwarze Adlerorden verliehen. (S. Dtschs. R.s * In München begann gestern der Beleidigungsprozeß des Reichskommissars a. D. Peters gegen den Redakteur der „Münchener Post" Gruber. lS. Ber.s * Zum Präsidenten des österreichischen Reichs rates wurde Weißkirchner schristl.-soz.) mit 351 Stimmen gegen Pernerstorffer lSoz.s mit 101 Stim men gewählt. * Die portugiesische Regierung hat alle republika nischen Klubs aufgelöst. * Die „Gaceta de Madrid" veröffentlicht einen Erlaß, nach dem vom 30. Juni 1907 ab für deutsche Waren Lei der Zollabfertigung die Meistbegünstigung auch fernerhin in Anwendung kommen wird. * Ein französisches Gelbbnch über das Abkommen mit Spanien ist ausgegeben. lS. Ausl.) Zllttll. Herr von Studt ist als preußischer Minister des Kultus, de« Unterricht- und der Medizinalangelegenheilen eines lang samen Tode« gestorben. Nicht einmal bei dem urwüchsigen Pod hat e« so lauge gedauert, bis die wachsenve Unzufrieden heit ihn auS seinem landwirtschastlichen Ministerium vervräagte. Man wird den Grund hierfür nicht nur in der bekannten Abneigung finden, die iu Preußen an der entscheidenden Stelle im Widerspruch zu einem wirklich konstitutionellen Staatswesen dagegen besteht, Minister fallen zu lassen, weil sie im Volke unbeliebt geworden sind. Bei Studt mag vielmehr auch die Anerkennung dessen, was er Positives geleistet hat, dazu beigetrageu haben, ibn zu halten. Solche Leistungen sind bei ihm zu finden. Er selbst konnte mit einem gewissen Recht auf sie Hinweisen, als er am 16. März d. I. im preußischen Abgeordnetenhause sich gegen die scharfen Angriffe des Freiherrn von Zedlitz verteidigte, die ihm bas ministerielle Lebenslicht auSblasen sollten. Recht und Billig keit verlangen, daß auch wir sie aufzählen, wenn wir über seine Mlnistertätigkcit sprechen wollen. Zunächst hat er zweifellos als Kultusminister um neue Organisationen innerhalb der evangelischen Kirche Preußens Verdienste, so durch die unter ihm vorgenommene Ausgestaltung der hannoverschen Kirche (1900) unv der in Frankfurt a. M. (l902). Ebenso gab er der katholischen Kirche sür ihre Diözesanbedürfuisse weitere Organisationsgesetze und auch das Gesetz über die Erhebung von Kirchensteuern be deutet einen Fortschritt. Verdienstvoll war es ferner, daß Studt in der ihm unterstellten Medizinalabteilung das im Jahre 1905 nach Ueberwindung mancher Schwierigkeiten angenommene Gesetz über die Bekämpfung übertragbarer Kranlheilen durchführte, und zur Modernisierung des medi zinischen Studiums trug er durch die Errichtung ärztlicher Akademien bei. Und dann seine Tätigkeit als Minister des Unterrichtswesens. Hier, wo die schärfste Kritik gegen ihn einzusctzen haben wird, fehlt es doch auch nicht an Fort- Ichritteu. Er anerkannte den Mangel an Lehrerbildungs anstalten und suchte darum die Seminare und Präparanden- anstalten zu vermehren, sorgte auch in bescheidenem Maße sür eine Reform ihrer Lehrpläne. Er brachte das Lehrer- reliktengesetz zum Abschluß und verfolgte mit der Schaffung des SchulunterhaltungsgesetzeS finanzielle Reformpläne, die freilich auch wieder durch ihn felbft gehemmt wurden Auf dem Gebiet deS höheren Schulwesens ist als an erkennenswertes Verdienst des Ministers zu nennen, daß die Gleichberechtigung der drei höheren Schularten systematisch durchgezührt wurde, die Gehälter der Oberlehrer eine Er höhung erfuhren und ihre «Rangverhältnisse* in einer dem nun einmal bestehenden leidigen Hang nach Titeln ent sprechenden Weise durch den bekannten „Prosessorenschub" verbessert wurden. Endlich sei unter die höchst anerkennens werten Verdienste Studts gerechnet sein eifriges Streben nach der Reform der höheren Mädchenschulbildung. Der hier unter ihm entworfene Plan harrt noch der Ausführung, wird aber hoffentlich die Erwartungen erfüllen, die auf ihn gesetzt werden. Erwähnt man schließlich noch, wie Studt versucht hat, eine einheitliche deutsche Rechtschreibung durchzusühren, so muß man gerechterweise zugestehen, daß er im Blick auf seine siebenfährige Täiigkeit sagen durfte, es seien da Erfolge auf vielen Gebieten erzielt worden, die früher in jahrelangen Anstrengungen nicht zu erreichen waren. Wenn trotzdem das Gesamturteil über Studt« Amts tätigkeit vom liberalen Standpunkt aus ungünstig lautet und ungünstig kauten muß, so hat die« seine besonderen, durchaus berechtigten Gründe. Sie wurzeln nicht etwa in einer politischen Voreingenommenheit gegen Herrn von Studt. Im Gegenteil! Mau ist ihm, als er im Jahre 1899 Bosse« Nachfolger wurde, gerade von liberaler Seite durchaus vorurteilslos entgegengekommen. Man rannte ihn aus seiner amtlichen Tätigkeit als Regie rungspräsident in Königsberg, als Unterstaatssekretär in den RecchSlanden und als Oberpräsidenten in Münster als einen Manu ohne ausgesprochen konservativ-reaktionäre Neigungen. Optimisten hielten ibn sogar sür einen gemäßigt liberalen Mann. Aber vielleicht hat gerade dies dazu beigetragen, das Urteil über ihn immer schärfer zu gestalten. Er eutiäuschte von Jahr zu Jahr mehr. Er erschien im wachsenden Maße als der Vertreter einer reaktionären Aera. Nicht nur um einzelner Gesetze und Maßnahmen willen, durch die er daS Gute, das er schuf, wieder verdarb — nein, weil das Gesamtbild seiner Leistung trotz seiner einzelnen Verdienste den Stempel der geistigen Reaktion an sich trug. Geben wir den gleichen Weg, wie vorbin, als wir an der Hand seiner eigenen Darlegungen vom 16. März d. I. seine Verdienste anerkannten, so spiegelt sich gleich aus dem kirchlichen Gebiet der reaklionäre Zug wider. Zwar ist Studt nicht unmittelbar verantwortlich zu machen für das Aerger- nis, das mit dem Fall Csjar gegeben wurde. Er häite vielleicht selbst anders entschieden, als das westfälische Konsistorium. Aber er ließ ohne Widerspruch den Mann Generalsuperintendent in Münster werden, dessen dogmatische Unduldsamkeit den Fall Cssar schuf. Unv wo das Amt des Kultusministers und des Unterrichlsministers sich am nächsten berührten, in der Besetzung der theologischen Univerfuälsprosessuren, da ist es unter Studt zu jener ebenso ungerechten wie unheilvollen Zurücksetzung tüchtiger moderner Theologen zugunsten ortho doxer Vertreter gekommen, gegen die mit vollem Recht, aber bisher säst ohne Erfolg, im Abgeordnetenhaus protestiert wurde. Dem entsprach denn durchaus, daß Studt auf katho lischem Lehrgebiet den ZentrumSwüuscken aufs äußerste enl- gegenkam. Wir nennen nur die Zulassung der marianischen Kongregationen und die unheimliche Vermehrung der Ordens niederlassungen in Preußen. Vor allem aber erinnern wir an das Gebiet, wo sich Studt durch kirchliche Gesichts punkte im Sinne und Geiste der Konservativen und Ultramontanen verleiten ließ die Schule zu jchädigen, wo in ihm der reaktionäre Kultusminister den sonst mancherlei Neuerungen zugänglichen UntcrrichtSminister beherrschte. So kam unter ihm jene unglückselige Festlegung der Konfessions schule beim Voltslchuluulerhaltungsgesetz zustande. So ver mochte er nicht die dringend notwendige Umänderung der geistlichen Schulaufsicht in eine rein fachmännische durchzu führen. Schließlich aber fußte er so rettungslos in bureau- kratischen Anschauungen, daß er seine Absicht, dem Lehrer mangel abzuhelseu, durch seinen „Bremserlaß" selbst wieder durchkreuzte unv in der Lehrerschaft eine Erbitterung groß zog, die ein vernichtendes Urteil für ibn bedeutet. Gewiß verkennen wir nicht, daß es vielfach widrige Verhältnisse waren, die sich Sluvt entgegenstelllen und ihn nicht all bas verwirklichen ließen, was er vielleicht ehrlich in fortschrittlicher Richtung erstrebte. Der preußische Bureaukratismus und Fistalismus auf der einen Seite und eine reaktionär gesinnte, konservaliv-ultramontane Landtags mehrheit auf der anderen Seite sind einflußreiche Mächte, die man nicht unterschätzen darf. Ebenso liegt ein Teil der Schwierigkeiten in der Größe dieses dreifachen Ressorts, das eben nur ein geistig wirklich bedeutender Mann über sehen und mit seinem Geist beherrschen kann. Jever anvere — und das traf bei Studt zu — muß, mehr als gut ist, die Arbeit seinen Räten überlassen, die nach ihrer Geistesrichtung weiter wirken. DaS alles mag das sür den liberalen Politiker unerfreuliche Gesamtbild der Tätigkeit StudtS zu seinen Gunst:» etwas entschuldige». Es ändert aber an viesem Gesamtbild objektiv uichtS. Es bleibt das Bild geistiger Reaktion als das Charakteristikum der Stubtichen Tätigkeit im preußischen Kultusministerium. Er verschwindet für uns als Vertreter einer konservativ-ultramootauen Politik, die.die Pflege und Förderung unserer höchsten geistigen Güter bedroht. Des halb freuen wir uns des Rücktritts dieses Ministers und sehen ihn als den verantwortlichen Vertreter einer Geistes richtung scheiben, deren Herrschaft für ben geistige» Fort schritt in Preußen und in ganz Deutschland verhängnisvoll gewesen ist, unbeschadet der Anerkennung jener einzelnen Verdienste, die sich Herr v. Studt als Minister erworben hat. ves Kaisers Oermscbtnis. Berliner Thronreden, wenn sie nicht in der Form von sozialpolitischen Botschaften verkündet oder durch ungewöhn liche Vorgänge bestimmt werden — wie damals, als der feine Unterschied von „guten" und von „korrekten" Beziehungen für die deutsche Synonymik fcstgelegt wurde — zeichnen sich nicht eben durch Schwung, Wärme und Fülle aus. In Wien ist's anders. Wie der Wiener Bureaukrat trotz auch ihm anhaftender Engherzigkeiten nichts an sich trägt von der un ausstehlichen Steifleinigkeit seines selber zum Aktcnschema ausgetrockucten Kollegen von der Spree, so spricht auch aus der österreichischen Thronrede eine patriarchalische Warm herzigkeit, die wohltuend berührt, auch wenn ihrem Inhalt nicht einschränkungslos zugestimmt werden kann. Diesmal klang's besonders warm und herzlich. Man möchte glauben, daß der Monarch, der sich dem biblischen Höchstalter nähert, an der Schwelle der sechsjährigen Legis laturperiode für alle Möglichkeiten sein politisches Vermächt nis niedergelegt habe. Nichts von Besscrwissenwollen, nichts von schulmeisterndem Rüsseln der Opposition, nichts von selbstbewußtem Fordern eines Vertrauens, das schon da durch, daß es die begriffliche Freiwilligkeit jedes Vertrauens verkennt, durch diesen intellektuellen Fehler seine Ansprüche verwirkt, Kaiser Franz Josef sprach als Vater und wollte nichts anderes mehr seinsm Volke sein. Aber man vernahm nicht den Vater, der am Abend eines gesegneten Lebens, ein anderer Tellos, den Sonnenball von den Zinnen seines gefesteten Hauses herabsinken sieht. Ein Hauch der Wehmut, der Bekümmernis über ein in seinen Früchten nicht vollbefriedigendes Herrscherleben atmete durch die Thronrede. Ein Hauch der bangen Sorge, daß die Gefahren des unter Blitz und Donner geborenen Kaiser tums Franz Josefs durch 60jährige mühevolle Regenten arbeit nur gefristet, nicht beseitigt seien. Wer mag bestreiten, daß der alte Kaiser nur zu sehr recht hat! Aber Pessimismus war es nicht, was er sprach. Kaiser Franz Josef, der am Sarge so unendlich vieler Hoffnungen gestanden hat: dem alle Pläne einer Wiedergewinnung der germanischen Kaiserschaft, dem die energisch und glücklich eine Weile fortschreitenden Germanisierung seines kaum halb germanischen Reiches schließlich zuschanden geworden ist: der den seit Otto dem Großen fast ohne Unterbrechung mit Deutschland eng verbunden gebliebenen italienischen Boden endgültig räumen mußte; dem auch nur ein ganz geringer Anfang der für Oesterreichs Zukunft entscheidenden Ex pansion nach Osten gelang — Kaiser Franz Josef hofft auf eine glücklichere Zukunft. Hofft, obwohl das Gebäude des Dualismus in allen Fugen kracht, und sein überdies wenig beliebter Thronfolger vielleicht in einem nicht sehr fernen Zeitpunkte vor das schreckliche Dilemma gestellt werden wird, entweder das gefährliche Beispiel einer reinen Personal- Union mit Ungarn sür die anderen nicht germanischen Volks teile aufzustellen oder den 1849 geführten Kampf noch einmal und dann hoffentlich ohne die militärische Hilfe brutaler Barbarenvölker durchzufechten. Vorderhand ist Wien sehr zahm: nur eine solche Lockerung des staatsrechtlichen Zu sammenhalts soll verhütet werden, auch des wirtschaftlichen daß das pragmatische Band der österreichischen Reichsteile nicht völlig aufgehoben wird! Wie das freilich gemacht wer den soll, nachdem nun einmal ein Sonderparlament in Pest, und ein sehr störriges, konstituiert ist: dazu sieht man zur Stunde noch keinen klar bezeichneten Weg vor sich. Gerechtfertigter ist vielleicht der Optimismus des Kaisers in der zisleithanischen Reichshälfte. „Umgestaltung der na tionalen Kräfte in Staatskräfte". Das war das Ziel der Wahlreform. Der alte Kaiser, der so ost in seinem Leben umlernen mußte und es in dieser schweren Kunst zu einer gewissen Fertigkeit gebracht hat, ist in seinem höchsten Grcisenalter zu einem begeisterten Anhänger des allgemeinen Wahlrechts geworden. Hätte er sich in jungen Jahren mit dieser demokratische» Forderung auszusöhnen, abzusinden vermocht, so wäre vielleicht der Verlust Deutschlands zu ver meiden gewesen. Aber damals ließ er sich von dem an die Zeiterfordernisse schneller anpassungsfähigen Geiste des frei lich sprunghaft sich entwickelnden und nicht immer sachlich sich bestimmenden Bismarck die Spitze ablaufen. Immerhin muß es auch jetzt als eine große Tat des greisen Monarchen anerkannt werden, daß er begriffen hat, wie unaufhaltsam der Siegeszug des allgemeinen Wahlrechts im heutigen Europa ist, und daß er die gewonnene Erkenntnis in dem grundreaktionären Milieu der Hofburg durchzusetzen die Energie bewiesen hat. Auch wir hoffen, daß der Kaiser recht behält, daß das Schwergewicht der an die Oberfläche geförderten sozialen Kräfte die einseitig zu Hemmungssermenten entwickelten na- tionalistischen Bestimmungsgründe der Volksvertretung fort schreitend nach unten drücken, anderseits die vorausgegangene nationale Schule das österreichische Volk gegen die bei uns leider so wirksam gewesene Ansteckung mit unverdauten kosmopolitischen Ideen bis zu einem gewissen Grade im munisieren werde. Wir hoffen nicht bloß: wir haben schon jetzt sichere Anhaltspunkte für unsere Hoffnung. Die österreichischen Sozialdemokraten haben sich beim Kaiserhoch von ihren Sitzen er hoben! Sie haben in einer parteioffiziellen Erklärung diesen kaum erwarteten Höflichkeitsakt mit der durch Tat sachen bewiesenen volksfreundlichen Gesinnung des Kaisers begründet. Sie batten Mann für Mann ihre Stimme für das Wahlgesetz abgegeben, obwohl keineswegs alle ihre Dlütenträume gereift waren. Die Sozialdemokraten als Erzieher der Alldeutschen — wer hätte das zu denken ge wagt! Tie verheißene Sozialreform wäre geeignet, den zweiten Schritt zu bezeichnen auf der Bahn der „Umgestaltung der nationalen Kräfte in Staatskräfte". Man weiß freilich nicht, wie sic aussehcn wird. Ist sie der deutschen ähnlich, so wäre eine zweite Gelegenheit der österreichischen Sozial demokratie gegeben, ihre deutschen Kameraden zu beschämen, die vielleicht immer mehr bedauern werden, bei der großen Kulturtat abseits gestanden zu haben. So düster verschleiert Oesterreichs Himmel beute noch ist: die ersten Sterne beginnen aus der Nebelhülle hervorzu treten. Ter Kaiser selbst urteilt nicht pessimistisch, trotz eines an Enttäuschungen überreichen Lebens. Er glaubt an den endlichen Sieg der besseren Kräfte und Tendenzen in der Menschenbrust. Sollen da die Jüngeren verzagen? Lum sächsischen LaMags- tvaklkampk. O, welche Lust, Landtagskandidat zu sein — zumal in einem der städtischen Wahlkreise die nach unserem fürtrefs- lichen Wahlgesetz aus mehreren Städten gebildet sind! In der Regel hat jede ihre eigenen Schmerzen und ihre eigenen Hoffnungen und Wünsche. Das hätte nun weiter nichts zu sagen, wie aber, wenn diese lokalpatriotischen Hoffnungen nur zum Schaden der lieben Wahlichwesterstadt zu erfüllen sind?! So ist jetzt in dem munteren Wahl kampfe, der sich im erzgcbirgischen Wahlkreise Aue- Eibenstock-Johanngeoraenstadt-Schwarzen- berg-Schneeberg-Neustädte! abspielt, nicht etwa die Wahlrechtsfrage, das Wassergcsetz oder eine sonstige wich tige Landesangelegcnhcit der ^Streitpunkt, an dem sich die Geister scheiden: nein, wie denkst du über die Amtshaupt- Mannschaft in Schwarzenberg? Das ist die Frage, die die Herren Kandidaten in erster Linie zu beantworten haben. Das aufstrebende, günstig gelegene Aue hofft, daß die Re gierung die Amtshauptmanlsichaft dem weniger begünstigten Schwarzenberg abnehmen und Aue damit beglücken werde. Die Schwarzenberger aber wollen ihre AmtShauptmannschast aus guten Gründen behalten. Was wunder, daß sic die im Wettbewerb stehenden Kandidaten aus Herz und Nieren prüfen, ob sic ihnen hold sind oder Böses im Schilde führen. Ein Teil der Auer Lokatpolitiker glaubte einen besonders klugen Schachzug zu tun, indem sie eigens "den Bürgerineist.' der Stadt Aue aufstellten. Aber auch in Eibenstock gr>. > man zu demselben Mittel, um die eigenen Lokalinteresst. kräftig zu wahren und stellte das Eibenstocker Stadtoberbaugt als Landtagskandidat auf. Nutzts nichts, schadets Nicht-"! Er ist den Schwarzenbergern zwar nicht so bedenklich wie der Auer Bürgermeister, aber sie sagen nicht ganz mit Unrecht, wenn die Auer und Eibenstocker so große Hoffnungen au« ihre Bürgermeister setzen, so haben wir Schwarzenberger am Ende von dem einen wie von dem andern gleich wenig Gutes zu erwarten, und ähnlich geht es den andern vier Schwesterstädten. Schien es eine Weile, als ob dieser Zwie spalt der Gefühle zu einer vollen Zersplitterung führen jollte, so ist jetzt insofern eine Klärung eingetreten, als der von nationalliberaler Seite aufgestellte Kandidat Fabrikbesitzer Alw. Bauer in einer sehr gut besuchten Wählerversamm lung in Aue, nachdem Generalsekretär Dr. Westen - bergcr die politische Bedeutung der diesmaligen LandtagS- wablen anseinandergesetzt hatte, erklärte, daß er sich nicht als Kandidat einer Stadt, sondern als Parteikandidat für den Wahlkreis betrachte und hoffe, daß sein politisches Bekennt nis den Wählern wichtiger sein werde, als eine Sache, üb.r die die Negierung und nicht ein Abgeordneter zu entscheiden habe. Diese Erklärung wurde von der Versammlung mit lebhaftem Beifall begrüßt. Dieses Zeichen der Einsicht recht- fertigt die Erwartung, daß der Wahlkampf jetzt der leidigen Lokalpolitik entrückt werden wird. Das Bekanntwerden von vertraulichen Dahlabmachnngen zwischen Auer und Eiben- stocker Wahlinteressenten aus früheren Jahren wird diese Umstimmung wohl noch fördern. Man sieht aus allem, zu welch ungesunden Zuständen die Unterscheidung zwischen städtischen und ländlichen Wahlkreisen und insbesondere das Zusammenzwingcn von konkurrierenden Städten in einen Wahlkreis führt. Eine Wohltat, wenn mit dieser Kreis künstelei aufgeräumt wird! * 88 Aus dem 1. Wahlkreis. Der Wahlausschuß für Len natioualliberalen Landta.;skandivaten im 1. stävtisckeu Wahl kreis veranstaltete gestern abend in den Sonnen-Sälen tie erste öffentliche Wählerversammlung, in der der Kandirat, Herr Lehrer Pflug, in einer 1 >/2stüodigen Rede sein politisches Programm entwickelte. Herr Pflug wird vor allein mit ganzer Kraft für die Ersetzung des gegenwärtigen Wahl rechts durch eine direkte Wahl einlreten, die allen Beoölte- rungsklaffen Leu berechtigte»! politischen Einfluß gewährleistet. Auch sprach sich der Redner für eine Reform ter Ersten Kammer im liberalen Sinne aus. In der eröffneten De batte schilderte Herr Oberpostassistent Hackens auf Grund seiner Kenntnisse der belgischen Verhältnisse die groben Un gerechtigkeiten des vom Kandidaten empfohlenen Pluralwahl- jystems. —tr. Aus dem 2. städtischen Landla,^Wahlkreise. Nach der glanzenden nationallibcralen Versammlung, die am Freilag in Hammers Hotel den Wahlfeldzug deS Recynungs- rates Anders eingcleilel hatte, war die Stimmung in der konjervaliven Veriammlung am RLontag etwas gedampft, zumal der an sich bedeutend kleinere Saal des Palmen gartens nur schwach besucht war. Aus der Rede des bis herigen Vertreters Behrens ist erwähnenswert, daß er in verschiedenen wichtigen Fragen sciuc Stellung etwas ge ändert, rejp. „genauer präzisiert" Hal. Während nämlich Herr Behrens jrüher rückhaltlos eine Nencinteilung der Wahlkreise zur Beseitigung des Unterschiedes zwischen länd lichen und städtischen Wahlkreisen sorderie, erklärte er am Montag, er werde seine Zustimmung zu dem Entwürfe der Negierung nicht von der Aushebung des Unterschiedes zwilchen den städtischen und ländlichen Wahlkreisen ab hängig machen. Tas ist offenbar ein Zugeständnis an die noch immer einflußreiche agrarische Gruppe der konserva- tiven Partei! Auch in der Frage der Umsatzsteuer ist Herr Behrens keineswegs jo liberal, wie es erst schien, denn er erklärte, er sei kein grundsätzlicher Gegner der Umsatzsteuer. Sollte sich ein Weg finden, eine unbedenkliche Umsatzsteuer einzuführcn, so werde er die Vorlage „unbefangen prüfen". — Der bisherige Verlaut des Wahlkampfes beweist mehr als alles andere, daß die Natioualliberalen, die einen guten und, was die Hauptsache ist, aussichtsreichen Kandidaten in der Person des Herrn Anders haben, sich nicht durch persön liche Rücksichten von ihrer Pflicht sich selbst und dem Lande gegenüber zurückbalten lassen dürfen. * Ans dem 41. ländlichen Wahlkreise. Tic Konserva tiven hohen die für den 4l. ländlichen Wahlkreis ausgestellte Kandidatur des Herrn Professors Jacobi-Reichenbach zurückgezogen. Aus nationalliberaler Seite kandidiert Gc- meindevorstand Kleinbemvel- Wilkau. Deutsches Deich. Leipzig, 26. Juni * Ter Vollzug des Ministerwechscls. Ter Staats- anzeiger" gibt bekannt: Dem Staatssekretär Grafen von Posadowsky und dem Staatsministcr und Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelcgcnheiten Dr. v. Studt wurde unter Belassung des Titels nnd Ranges als Staaisminister die nachgesnchte Dienstentlassung erteilt: letzterer ist zugleich aus besonders allerhöchstem Vertrauen auf Lebenszeit in das .Herrenhaus berufen. — Staatsministcr von B e I h m a n n - H o l l w e g wurde unter Entbindung von der Verwaltung des Ministeriums des Innern zum Viicvräsidentcn des Staatsministcriums, bisheriger Ober präsident von Ostpreußen vonMoltke zum Stnatsminister und Minister des Innern, der bisherige Unterstaatsietretär im Ministerium der öffentlichen Arbeiten Dr. Halle zum Staatsministcr und Minister der geistlichen, Unterrick'ts- nnd Medizinalangelegenbeiten ernannt. * Zn Posadowskys Sturz. Zu den Anschuldigungen gegen Posadowsky, die jetzt vorgcbracht werden, um seinen Sturz durch Bülow zu entschuldigen, bemerkt u. a. das „B. T.": „Wenn der geradezu unerhörte Versuch unter nommen wird, den Grafen Posadowskv mit der Politik der Eulcnburgschcn Tafelrunde in Verbindung zu bringen, ko wissen wir genau und von authentischer Quelle, daß zwischen dem Grafen Posadowsky einerseits und dem Fürsten Eulen- bürg und seinem Jntcresscnkrcis niemals auch nur die aller geringste Verbindung bestanden bat. Ja, wir können sogar behaupten, daß die beiden Herren Graf Posadowsky und Fürst Eulenburg niemals irgendwelchen mündlichen oder schriftlichen Meinungsaustausch gehabt haben, eS sei denn, daß man die einzige Unterhaltung zwischen den Herren vor
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