Suche löschen...
Leipziger Tageblatt und Handelszeitung : 30.06.1907
- Erscheinungsdatum
- 1907-06-30
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id84535308X-190706303
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id84535308X-19070630
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-84535308X-19070630
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Handelszeitung
- Jahr1907
- Monat1907-06
- Tag1907-06-30
- Monat1907-06
- Jahr1907
- Links
-
Downloads
- Einzelseite als Bild herunterladen (JPG)
-
Volltext Seite (XML)
BezuaS-PreiS für Leipzia und Vororte darch »»!«« Träg« und Spediteure i»S Hau« gebracht: ÄnS- nab, (nur morgen») vierteljährlich 3 monatlich l M.: «uSgabe v (morgen« und abend«) vierteljährlich 4.50 M., monatlick 1.50 M. Durch die Poft bezogen (1 mal täglich) innerhalb Deutschlands und der deutschen Kolonien vierteljährlich 3 M., monatlich l M. ausschl. Poslbestellgeld, für Oesterreich-Ungarn vierteljährlich 5 L 45 d. Adonnement-Anuahme: LugnstuLplatz 8, bei unseren Träger«, Filiale», Spediteuren und Annahmestellen, sowie Postämtern und Briefträger». Die einzelne Nummer lostet 10 Pfg. Redaktion »uv Expedition: Jobmluisgafs« 8. Teleph. Nr. 14692, Nr. 14693, Nr. 14694. Berliner NedattionS-vnreaa. Berlin XIV. 7, Prinz Louis Ferdinand- Straße 1. Telephon I, Nr. 927b. Jubiläums-Nummer. Wp)Mr. TaMatt Handelszeitung. Amtsblatt des Mates und des Molizeiamtes der Ltadt Leipzig. Anzeigen-PreiS für Inserate aus Leipzig u. Umgebung die k gespaltene Pelüzeilr 25 Pf„ stuanziell« An- zeige» 30 Ps., Reklame» 75Pf.; »o» «lSwärlS 30 Pf., Reklamen 1 M.; do«An-laudbOPf., finanz Anzeigen75Pf., Reklamen ILO M. Inserate v-vehörden im amtlichen Teil 40Pi. Beklagegebuhc L M. p. Tausend -rkl. Post- aebühr. GeschäftSanzeigen an bevorzugter Stelle Nu Preise erhöht. Rabatt nach Tarn Aesterteilte Aufträge können nicht zurück- aezoge» werden. Für da« Erscheinen ar oefttouutr» Tage» »nd Plätzen wird kein« Garantie übernommen. Aasige» - Anuahm«: AuguftuSplatz 8, bet sämtliche» Filialen n. allen Annoncen. Expeditione» des In- und Auslandes. H«»pt-Filiale Verli«: EarlD » » cker,Herzgl.Bayr.Hofbuchhandlg., Lützowstraße 10 (Tel. VI. 4603. Nr. 17S. Sonntag 30. Juni 1007. 101. Jahrgang. für alle mir ru dem lOOjstmgen Zubilüum des Ueipriger Lsgedlsttes ettvs Lugedgcttlen Elückivünkcbe lsge icki im voraus tiöNichen vsnk. ich verbinde dsmtt die ergebene Mitteilung, dok ich von jeder feier Ndltsnd genommen bsbe und mich sul die fferousgllde dieser Zutriläumsnummer beschränke. Oeriag des keip^iger Lageblattes. Var LiiÄtigrle vom lagr. * In Gegenwart des Königs, des Prinzen Johann Georg und seiner Gemahlin, sowie zahlreicher Ver treter sächsischer Staatsbehörden wurde gestern mittag 'n Dresden die Jubiläumsausstellung des Verbandes sächsischer Bäckerin» nngen Saronia eröffnet. sS. Sachsen.) * In Eisenach faßte eine große Versammlung In ¬ dustrieller aus allen Teilen Deutschlands einstimmig eine Resolution, in der die Gründung eines Verbandes deutscher Betricbskasscn ge wünscht wird. - * Der preußische Landwirtschaftsmini st e. r wird am Montag von Posen aus eine Reise noch den An siedelungsdörfern antreten. * In Berlin wurde gestern Vie Allgemeine Aus ¬ stellung von Erfindungen der Kleinindustrie eröffnet. * Die. ersten Delegierten der Friedenskonferenz werden am Dienstag von der K ö n i g i» W i lh e. l m i n a in Audienz empfangen werden. sS. Friedenskonferenz ) * Der Herzog von Orleans hat die aufrührerischen Bewegungen mißbilligt. sS. Ausl.) * Der Khcdive ist in Stambul eingetroffen und vom Sultan in Audienz empfange». MilSilM. Das Leipziger Tageblatt hat sich in politischer Beziehung erst reichlich spät so entwickelt, wie es die Größe, Bedeutung und Eigenart seines Erscheinungsortes, sein eigenes ehr- würdiges Alter und leine viele Jahrzehnte völlig unbestrittene überragende Stellung lange vorher ermöglicht hätten. Vielerlei Ursachen sind zusammengekommen, um diese Zurück haltung zu bedingen. Als ausschlaggebende aber muß doch gelten, daß lange Zeit überhaupt der Wille zur politischen Betätigung nicht vorhanden war. Dw Erkenntnis der un lösbaren Verbindung zwischen Politik und wirtschaftlichem Leben war noch nicht in weite Krei,c gedrungen. Politik wurde als ein Ding für sich, wohl gar in manchen Kreisen als eine Art brotloser Kunst betrachtet, der sich ehrbare und strebsame Bürger am besten fernzuhalten hätten. Auch heute ist diese Ansicht noch nicht ganz ausgestorben, immerhin viel seltener geworden. Aber bis in die siebziger Jahre des vori gen Jahrhunderts hinein galt es noch als Zeichen weiser Prinzipien, auch bei vielen Zeitungsverlegern, sich nm die gefährlichen politischen Angelegenheiten nur gerade so viel zu kümmern, wie die Notwendigkeit erforderte. Und solche Notwendigkeiten schienen dem Geist: jener Periode nicht allzu häufig. Uebrigens sprach der nächste Erfolg für diese Auffassung. Das Publikum vermißte kaum etwas, und der wirtschaftliche Ertrag des Blattes genügte allen billigen An sprüchen. Ein Sporn durch lokale Konkurrenz war nicht vorhanden, und so ließ man mit nachsichtigem Lächeln Plätzen wie Köln und Frankfurt a. M. durch ihre politische Presse ,n dieser Hinsicht einen Vorrang gewinnen, der durchaus nicht natürlich bedingt war. Das früher Versäumte mußte nachher unter großen Opfern nachgebolt werden, aber es hat langer Zeit bedurft, bis daS Blatt seinen guten Ruf auf vielen an deren Gebieten, besonders auf dem des Handels, auch in politischen Dingen Geltung verschaffen konnte. Aber wenn auch früher der Wille zum politischen Ein fluß nicht sehr stark ausgeprägt war, sich kaum systematisch bekundete und immer erst auf den Druck der Geschehnisse wartete, so darf man dafür doch eins heute mit großem Stolze bekennen: Das Leipziger Tageblatt ist stets ein gut natio nales und zuverlässig liberales Blatt gewesen. Das ist ihm mehr als einmal teuer zu stehen gekommen. Ader es hat alle Proben und Anfechtungen tapfer und ehrenvoll bestanden, bat sich, um nur an eins zu erinnern, vor Jahren den Amts blattcharakter nehmen lasse» seiner liberalen Gesinnung Wege», iuch ist bi» a»f de» heutige» Log ei» liberale» Organ «ewebs». »» ist hi« wohl die Gela», heft. »M der ve» leger des Leipziger Tageblattes, der alten wie der neuen, zu gedenken und eine Ehrenschuld der Redaktion abzutragen. Wie das Blatt selbst, so ist auch der Verlag von jeher liberal gewesen. Das hat die politische journalistische Arbeit wesent lich erleichtert. Dazu ist aber gekommen, daß die Redaktion sich gerade in ihrer politischen Haltung einer Unabhängigkeit erfreut hat, die vorbildlich genannt werden darf. Jeder Journalist mit einiger Praxis wird dies ideelle Gut ganz außerordentlich schätzen und mit Schauder an trübe Erfah rungen denken, die er der Verquickung von Politik und Ge schäft oder auch Diktatorcntum verdankt. Es ist immer leichter gewesen, sich zu einem Programm zu bekennen, als nach solchem Programm auch zu handeln. Und da schließlich auch Redaktionen nicht unfehlbar sind, so ist es um so höher anzuschlagen, daß der Verlag des Leipziger Tageblattes den Mut zur liberalen Praxis nicht verloren hat, auch wenn das Gegenteil eine sichere Ersparnis materieller Opfer ermög licht hätte. Aus unseren eigenen Erlebnissen kann das mit absoluter Sicherheit feftgestellt werden. Es war kurz nach dem Ablauf des glücklicherweise entschlafenen Kartells zwischen Len sächsi schen Nationalliberalen und Konservativen, das so arg ver wüstend auf die Klarheit der politischen Erkenntnis unserer Bevölkerung gewirkt bat, als der Verlag des Leipziger Tage blattes sich in vornehmster Weile zu seiner Redaktion be kannte. Formell war das Kartell zwar schon gelöst, aber der Geist der Verwaschenhett und Unentschiedenheit hielt noch die weitesten Kreise im Bann, und ein neues generelles Ab kommen gehörte durchaus nicht zu den Unmöglichkeiten. Da benutzte die Redaktion des Blattes iw Herbst 1903, nach den Unglückswahlen und der ersten Wahlreformkundgebung der sächsischen Regierung, die Gelegenheit, um aus der Lauheit und Zaghaftigkeit jener Tage herauszufteuern und den un verwaschenen Liberalismus wieder zur Geltung zu bringen. Es war unter den damaligen Verhältnissen ein Wagnis und zeitigte zunächst Verblüffung und Empörung gerade in den tonangebenden politischen Kreisen, während in den Mosten des sonst ziemlich indifferenten Publikums der neue Ton > sofort Anklang fand Jodest!» ist es eine alte journalistische Erfahrung: Auf zehn (meistens anonyme) gegnerische Zu schriften kommt höchstens eine Zuitimmungserklarung, auch wenn die Art der Wirkung des Geschriebenen die umgekehrte Proportion gerechtfertigt hätte. Ilnd dabei waren es gerade die ausschlaggebenden politischen Faktoren, die sich gegen die neue Orientierung des Blattes erklärten, den Verlag mit Zuschriften überschütteten und ihn zum Eingreifen veran lassen wollten. Da blieb der Verlag so fest und setzte solches Vertrauen auf seine Redaktion, daß er ihr nicht einmal Mit teilung von dem Ansturm machte und alle Versuche, ihn um- zustimmen, abwies. Die Ereignisse haben der Redaktion recht gegeben. Die Entwickelung ist dem von ihr damals als richtig erkannten und beschrittenen Weg gegangen. Und noch heute kann das Blatt mit Genugtuung auf seine Haltung in jenen kritischen Tagen zurückblicken, wie es in exponiertester Stellung sür den Liberalismus eekömpft und seine Gesun dung angebahnt hat. Seit jener Zeit hat sich vieles in der Entwickelung des sächsischen Liberalismus zum Besseren gewandt. Er Hal seine Selbständigkeit, die erste Vorbedingung des Gedeihens, wieder erlangt, hat sich neu organisiert, ist wieder im Reichs parlament gebührend vertreten und hat überhaupl an Energie und an Klarheit wesentlich gewonnen, so daß heute die nationalliberalen Sachsen zum linken Flügel der Partei ge rechnet werden. Wer die Kartellzeiten als Politiker mitge- macht hat, kann sich häufig nur schwer eines Lächelns er wehren, wenn ihm dieser Umschwung der Dinge an einem Beispiel der Tagesgeschichte vor Augen geführt wird. Ueber- aus komisch zum Beispiel wirkte es, wie die Leitung der nationalliberalen Partei auf dem Parteitage in Dresden vor zwei Jabrcn aus einer Verwunderung in die andere siel, als ihr die Aeußerungen aus den Reihen der gewandelten sächsi schen Freunde entgegenklangen. Ein Redner meinte ganz elegisch: „Wir sind in der Erwartung hierhcrgckommen, ge- lobt zu werden, und werden nun abgckanzelt. Das hätten wir gerade von den Sachsen nicht erwartet." Fügen wir hin,u, daß der Redner nicht einmal jo unrecht hatte. Dean die Erkenntnis war den Liberalen Sachsens viel rascher ge kommen, als man im Reiche vermuten konnte. Sie hat sich inzwischen so gefestigt, daß heute wegen eines Rückfalles in die alten Fehler keine Sorge mehr zu herrschen braucht. Viel mehr ist heute begründete Hoffnung, daß die Verständigung unter den Liberalen aller Schattierungen weitere Fortschritte macht und eines Tages doch noch zu der von allen selbstlos Interessierten herbeigesehnten Verschmelzung führt. Bis dahin muß freilich noch tapfer gearbeitet werden. Die nächsten politischen Ziele sind die Gewinnung des den natür lichen Bedingungen unseres Volkes und Erwerbslebens ent sprechenden liberalen Einflusses in den sächsischen Kammern, die Reform des sächsischen Wahlrechts im liberalen Sinne und die immer intensivere Aufklärung unseres Volkes, seine Befestigung im vaterländischen Gefühl und seine Liberalisie rung, die ihm allein Wohlfahrt und Freiheit verheißt. In dieser Arbeit sehen wir das Heil, und hieran mitzuarbeiten, soll unsere Ausgabe für die Zukunft jein und uns Richtung und Haltung bestimmen, wobei wir auf die Einsicht und Zu stimmung unserer Leser und die stetig fortschreitende Er kenntnis der Notwendigkeit liberaler Betätigung in unserem Volke zuversichtlich hoffen. Dazu meinen wir ein Recht er worben zu haben, wenn auch nicht durch Unfehlbarkeit, so doch durch die ehrliche Arbeit für die Sache des nationalen Liberalismus. DaS ist »nser politische- Bekenntnis ar» J-bilL-m-tag de- Leip-j-er Tageblattes. Lehn Zakre deutscher Zollpolitik. Am 1. Juli dieses Jahres sind gerade zehn Jahre ver gangen, seitdem Graf Posadowsky als Nachfolger Böttichers das ReichSamt des Innern übernahm. Ein wehmütiges Jubiläum für den Grafen wie für seine Freunde nach dem was vor einer Woche geschehen ist. Aber doch auch wieder ein frohes Jubiläum, weil an ihm daran gedacht werden darf, welche erfreuliche Wandlung sich auf dem Gebiet der deutschen Sozialpolitik in diesem Jahrzehnt vollzogen hat, eine Wandlung, die zugleich mit dem Namen und der Per son des Grafen Posadowsky aufs engste verknüpft ist. Als Posadowsky am 1. Juli 1897 aus dem Reichsschatz- amr, das er seit Maltzahus silbgang im Jahre 1893 mit reichem Erfolg verwaltet hatte, die Leitung des Reichsamts des Innern übernahm, herrschte in Deutschland die schlimmste politische Reaktion. Freiherr v. Berlepsch war rm Jahre vorher aus dem preußischen Ministerium für Handel und Gewerbe geschieden. Präsident Bödiker hatte das Reichs- Versicherungsamt verlosten, und die Tage Rottenburgs waren gezählt. Freiherr von Stumm aber herrschte! Der König der Eisenschmiede prägte der deutschen Sozial politik ihr Gepräge auf. Seinem Einfluß beugte man sich bis in die höchsten Kreise hinaus. Dabei war man in seinem Sinn sozial. Die Arbeiterfreundlichkeit bestand in Humani tät. Der Patriarchalismus, wie er in den Stummschen Werken mit seinen guten und seinen schlechten Seiten herrschte, war das Ideal auch für die Sozialpolitik im großen Man war nicht abgeneigt, vielerlei für die Arbeiter zu tun, aber sie sollten alles nur dankbar empfangen, nicht mitwirken. Ihre Berufsorganisationen schienen vielmehr staatsgefährlich. Selbst die christlichen Arbeitervereine waren verpönt. Sozialpolitisch interessierte Pastoren tour- den verfolgt, die Kathedersozialistcn standen auf der schwar zen Liste. Auch Graf Posadowsky erschien zunächst, als er das Reichsamt des Innern übernahm, von keinem anderen Geist beseelt. Die Verhandlungen über die Revision der NnfallVersicherung im Jahre 1898 und über das Arbeits- will'tzengcsetz 1899 zeigen deutlich, wie er noch ganz unter dem Bann dm ebm gezeichneten Einflüsse stcnd, sich noch zu keoßr eigenen sozialpolitischen Stellung durchgcrungen hatte in der er von böberer Warte aus die Probleme hätte übcrfehcn können. Aber da erreichte er auch den Tiefpunkt seiner sozialpolitischen Stellung. Dec Zuchthausvorlage, mit der für ihn bis heute höchst peinlichen 12 000 Mark- Affäre charakterisieren diesen Punkt, "Nach dieser Nieder lage der Regierung wurde eä anders. Hatte Posadowsky bisher unter dem Bann der Stumm scheu Periode gestanden, so wurde er jetzt freier. Der Ein fluß des Hallberger Schloßherrn nahm ab und der Graf begann sich immer tiefer in die Probleme hineinzuarbeiten. War er bisher nur der preußische Verwaltungsbeamtc ge- wesen, der in seiner Posener Zeit und im Reichsschatzamt in dem JdecnkreiS seiner Standesgenossen gelebt und ge wirkt hatte, so erschloß sich ihm jetzt mehr und mehr das industrielle Deutschland mit seinen Arbeitgeber- und Arbeit, nehmerverhältnisten. Zwar em Mann mit stark agrarischen und schutzzöllnerischen Neigungen ist er auch beim Abschluß der Handelsverträge trotz aller Schwankungen geblieben. Aber in der Sozialpolitik weitete er seinen Blick. Er lernte um. Er schämte sich nicht, bei besserer Einsicht seine Anschauungen zu wechseln, seine Urteile zu revidieren. Immer klarer wurde ihm die Notwendigkeit einer von so- zialen Reformen getragenen Sozialpolitik zu Nutz und Frommen der Nation und des Staates, nicht zuletzt auch der Industrie, mochten ihr damit zunächst auch neue Opfer aufgebürdet werden. Er gewann auch Verständnis für die Arbeiterbewegung. Zwar die Sozialdemokratie hat er mit Fug und Recht wegen ihrer staatsfeindlichen Tendenzen und ihrer Predigt des Klasscnhasses bis zuletzt bekämpft. Er gab sich aber Müde, sie gerecht zu beurteilen, und nur reaktionäre Scharfmacher können ihm heute nachreden, er sei ihr zu weit entgegen gekommen Er suchte auch Verständ nis zu gewinnen für die gewerkschaftliche Arbeit, für die Arbeiterorganisationen. Der Erfolg ist denn auch nicht ausgcdlieben. So scharf ihm die Sozialdemokratie ent- gcgentrat, sie konnte schließlich doch nicht anders, als ihn achten, vor seinem Fleiß Respekt haben und seinen guten Willen anerkennen. Und für die nicht sozialdemokratischen Arbeiterorganisationen wurde er geradezu der Mann, durch den sie wieder Vertrauen gewannen zur Sozialpolitik der Regierung, das sie in den Tagen der Stummschen Herr schaft mehr oder weniger verloren hatten. Diese ganze Wandlung Posadowskys spiegelte sich in der Wandlung der Sozialpolitik der letzten Jahre wieder, ver änderte die sozialpolitische Stimmung in weiten Volks- kreisen und trug auch reiche Früchte gesetzgeberischer Arbeit. Namentlich in den Jahren 1900—1904. Hier kamen be deutsame Reformen auf dem Gebiete der Arbciterversiche- rnng und des Arbeiterschutzes zur Durchführung. Wir zählen die wichtigsten auf: die Novelle zu dem Unfall«, In- validitäts- und Krankenvcrsicherungsgesetze. Die Revision der SeemannSordnung, das Kinderschutzgesctz, die Novelle zum Gewerbegerichtsgesetz und die Errichtung der Kauf mannsgerichte, die Regelung der Arbeitszeit in offenen Läden, Schutz der Gehilfen in Gastwirtschaften, die Ein führung des sanitären Arbeitstages >n verschiedenen Ge werben, das Verbot der Phosphorzündhölzer. Auch wichtige Organisationen wurden unter ihm geschaffen. So die Ein richtung der arbeitsstatistischen Abteilung im Kaiserlich Statistischen Amt und die Schöpfung der ständigen Aus stellung für Arbeitcrwohlsahrt. Schließlich sei auch noch darauf dingcwiescn, welches lebhafte Interesse der Grat der Seuchenbekämpfung, der Hcilstättenbcwcgung und der Woh nungsreform entgegenbrachtc, Arbeiten von eminentem Gewicht aus sozialem Gebiet. Nebersieht mau dies« ganze so-lai-olstische Tätigkeit deS letzt« DezenoiimS, so zeigt sie. wie fruchtbar sie »ar j» einzelnen Gesetzen und Organisationen, vornehmlich aber, wie sich das sozialpolitische Urteil in den Negierungskrcijeo und in weiten Volkskreisen geändert hat. Tas Bekenntnis zur Sozialreform ist zu einem unentbehrlichen Teil des Regierungsprogramms geworden. Nichts bereitete darum den Gegnern des Grafen Posadowsky größeren Schrecken in ihrer Freude über seinen Sturz, als der Zweifel seiner Freunde an der Fortsetzung der bisherigen Sozialpolitik. Tenn das ist das Erbe dieses Dezenniums Posadowskysch-'r Sozialpolitik, daß man die sozialpolitischen Forderungen im Volk als Maßstab aulegt an die VolkSfrenndlichkeit der Re gierung. und volksfreundlich möchte man doch immer er scheinen. Posadowsky ist es nicht vergönnt gewesen, das Werk ver Arbeiterversicherung zu Ende zu führen, und die wrckstigste Arbeiterforderung, die der Koalitionsfreiheit, zu realisieren Das bleibt seinem Nachfolger Vorbehalten. Aber der wachsende sozialpolitische Reichtum dieser zehn Jahre bleibt mit seinem Namen aufs engste verknüpft Er, der einst ein Gesetz wie die Zuchthausvorlage verteidigen konnte, würd'' zum Träger einer Sozialpolitik, deren nationale Pflöck" er mit erschütternden Dorten den nach „Bildung und Besitz maßgebenden Kreisen unseres Volkes" vorhielt. Seine Tätigkeit als „Minister für Sozialpolitik", wie er sich stolz nannte, umschloß eine Gcschichtsperiode, die von den Tagen der Herrschaft Stuwms, der keine Koalitionsfreiheit dulde» wollte, und mochte sie nur in der Organisation christlicher Arbeiter stehen — bis zu dem Moment führt. wo uns ein freies Reichsvereinsgesetz verheißen worden ist, das auch den Arbeitern die Koalitionsfreiheit bringt Das ist eine sozial politische Entwickelung, aus die wir, maa im einzelnen die Kritik noch so scharf einsehcn könne», stolz jein dürfen. kmkreist-ng. Als der Zar sich in seinem September-Manifeste von 1898 zu der Abrüstungsidee bekannte, wurde alle Welt überrascht. Bis dahin waren die offiziell»,, Kreise jeder Verbindung mit den 'o gar nicht sozialisrenreincn Gesell- schastcn der Friedensfreunvc aus dem Wege gegangen. Frau Bertka bar stch als die große Zauberin bewährt, oi« den ersten Novizen aus Europas Throne» geworben lmt und gleich einen so mächtigen! Freilich munkelten die Nörgln, daß die ungünstigen Ergebnisse der russischen Aushebung weit durchschlagender gewirkt hätten, als die flammend: Beredsamkeit der vcrehrungswürdigen Evangelistin. Heute sitzt ein zweiter Friedensschwärmer auf einem großen Throne. Wiederum treten die Nörgler mit ihrem alles schwärzenden Zweifel hervor. Nicht die lauterste Hu manität sei der Bestimmungsgrund sür die rastlosen Be mühungen des alternden Herrschers, der seine Beguem- lichkeit in fieberhaften Reisen beinahe noch zur Winters zeit der „großen Sache" ausopscrc. Er verfolge vielmehr den Zweck, durch eine diplomatische Aktion im großen Stil Deutschlands aufstrebende Seemacht in ihrer Maienblüte zu knicken. Die Jriedensheuchelei liefere ihm den Vorwand, uns entweder zu einer für uns nachteiligen Verminderung unserer Flotte durch einen nicht ganz sanften moralischen Zwang zu nötigen oder aber unser Volk als den einzigen. Friedensstörer im friedlichen Konzert der europäischen Mächte zu entlarven. Mit dieser Bloßstellung würde aber all den friedfertigen Lämmern die Berechtigung gegeben sein, sich zu einer großen Koalition gegen den räuberischer Pläne überführten Wolf zusammenzuschoren u.tb unserer moralischen Niederlage eine politische folgen zu lassen. Für eine solche Koalition wären aber alle Vorbedingungen durch die zahlreichen Einzelverträge der jüngsten Zeit geschaffen. Nur der Ausgang vermag zu entscheiden, ob die Lobredner des Jriedensfürsten oder die Bekrittler seiner Aufrichtigkeit recht behalten. Da in England weniger der König regiert, als die beamteten Minister, die Beauftragten der jeweiligen Unterhausmehrheit, und da den ehrlichen Mr. Campbell gewiß niemand kriegerischer Hintergedanken verdächtigen wird, so dürfen wir die möglichenfalls ganz oder überwiegend un- gerechten Zweifel an der persönlichen Gesinnung des Re- Präsentanten der englischen Staatsidcc um so eher außer Betracht lasten. Aber auch die völlige Aufrichtigkeit der englischen Frie- densbcstrebungcn vorausgesetzt, könnten die Dinge durch ihr eigenes Schwergewicht sich genau so entwickeln, als wenn die Friedensfreundschaft nur die Maske einer kriegerischen Absicht wäre. Wir müssen mit der Tatsache rechnen, daß eine ungünstige Stimmung in oller Welt gegen uns und unsere Politik besteht. Wir dürfen aus eine aufrichtige Zu neigung eigentlich nur in Oesterreich rechnen, das ja auch in Algeciras als einziger Sekundant uns Treue hielt. 2luch in dem vielsprachigen Kaiserreich sind freilich nicht alle Völkerschaften als unsere Herzensfreunde onzusprechcn Deutschlands Isolation ist allerdings, was die Völker- sympathien anlangl, nicht von gestern. Als wir den Erb feind in einem gewaltigen Kriege niedcrgezwungcn hatten, da sah nicht bloß der allezeit eifersüchtige Vetter jenseits des Kanals sauersüß auf den plötzlich durch seine Einigung zur Macht gewordenen Stammesverwondten herüber, der so gar nicht sich in das englische Gäugclseil cinspauncn lassen wollte, daß er trotz aller Mahnungen der humanitäts triefenden Briten die feindliche Hauptstadt mii Granaten beschossen hatte. Zwar leerte Zar Alexander II. ein Glas auf die deutschen Siege, die ihn von der PontuS-Spcrrc befreit hatten: aber der Thronfolger weigerte sich, anzu stoßen und verließ die Hostasel. Das russische Volk aber jauchzte einmütig dem charaktervollen Prinzen zu. Die. Garibaldiancr hatten das republikanische Frankreich mit den Waffen unterstützt: die italienischen Konservativen — ein schließlich des Königs — waren im ersten Stadium des Krieges draus und dran gewesen, Napoleon list, zu Hilfe zu ecken. Die französischen Svmpathien der Schweiz äußerwn sich nach der Ankunft der Kriegsgefangenen der Vouröa'isch n Armee in Zürich in pöbelhaften Ausschreitungen gegen die dortigen T eutschen. Man darf also «ige»tlich nicht behaupten, daß die a»tt» deutsch« ÄLtitzathie» »«<jt« Dattoat seren- Wer schwev»
- Aktuelle Seite (TXT)
- METS Datei (XML)
- IIIF Manifest (JSON)
- Doppelseitenansicht
- Vorschaubilder
Erste Seite
10 Seiten zurück
Vorherige Seite