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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Handelszeitung : 09.07.1907
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1907-07-09
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id84535308X-19070709022
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id84535308X-1907070902
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-84535308X-1907070902
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Handelszeitung
- Jahr1907
- Monat1907-07
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An zeig en 75 Pf., Reklame» 1.50 M. Inserate ». Bchärden 6n amtlichen Deil 40 Ps. Beilagegebübr 5 M. p. Dausend exkt. Post gebühr. SteschästSanzeigen an bevorzugter Stelle im Preise erhöht. Rabatt nach Tarii flesterteilte Austräge können nicht zurück gezogen werden. Für da« Urscheincn au bestimmten Tagen und Plätzen wird keine Garantie übernommen. An,eigen-Annahme: tilugustu-pla- 8, bei sämtlichen Filialen u. allen Annoncen- Expeditionen de« In- und Auslandes. Haupt > Filiale vrrltr»! Hart Luniks , H.rzogl. Payr. Hosbuch» Handlung, LützowstraH« lül (Delephon VI, Nr. 4603). Nr. 188. Dienstag 9. Juli 1907. 101. ZabMNsi. Das wichtigste vonr Tage. * König Friedrich August unternimmt am 13. Juli von Rebefelv aus mit Automobil eine LandeSreise nach Frauenstein, Sayda und Brand. Bon Brand kehrt der Monarch nach Dresden mit Sonder zug zurück. * In der französischen Kammer ist die Nichtentlassung der Meuterer vom 17. Regiment dem Anträge Clemenceaus entsprechend angenommen. (S. AuSl.) * Die österreichisch-ungarischen Ausgleichsverhandlungen stud gestern erheblich gefördert. (S. AuSl.) * F. M. L. v. Winzor ist zum Kommandierenden des XV. Korps (Bosnien) ernannt. (S. AuSl.) Tagesschau. Tas Reichsgericht und die Privattcstamcnte. Im neuesten Hefte der Zeitschrift „Das Neckt" (Hannover, Helw'mg) macht Heilfron darauf aufmerksam, daß daö Neicksgerickt seinen Standpunkt gegenüber den Privatlestamenten geändert liabe. Während das Reichsgericht ursprünglich einen streng formalistischen Siandpunkl eingenommen hatte, zeigten die neuesten Erkenntnisse eine gewisse Ein schränkung der starren Auffassung. So habe das Neicksgerickt — in Ueb-reinstimmung mit beiden Bvrinstanzen — ein eigenbändigeS Testament, welches von 1804 anstatt von 1904 datiert war, für gültig erklärt. Der entscheidende Senat geht zwar nach wie vor davon aus, daß der vorgeschriebcnen Datierung die rechtliche Bedeutung eines Zeugnisses, nicht einer Willenserklärung zukonime, daß die Datierung also keine willkürliche sein düife, sondern der Wahrheit ent sprechen müsse. Im vorlieaenden Falle aber sei offen dar, daß der Erblasser lediglich bei der Niederschrift der Jahrhunrertziffer sich ver griffen habe. Trotz des äußerlichen Mangels sei mithin das gesetzliche Erfordernis der Angabe des wahren OlteS und Tages der Errichtung alS erfüllt anzusehen. Die gleiche unter Auffassung hat das Reichs gericht in bezug auf die Frage der Zulässigkeit einer Abkürzung des HrtönamenS betätigt, indem eS — entgegen beiden Bvrinstanzen — die Ablürzung „Bln." für Berlin als genügend ansah. Der ent scheidende Senat führt aus, raß das Gesetz bei der Angabe deS ErrichtnugSorteS ruckt einen Ausdruck verlange, der jeden Zweifel ausschließe. Sonst müßte ein Testament ungültig sein, welche- einen mehrfach vorkommenden OuSnamen (z. B. Frankfurt) ohne ein Unterscheidungsmerkmal (z. B. „a. O.") ausweise. Um zu dem richtigen Verständnisse zu g-langen, müsse der Richter offen- lunvige Umstände, z. B. eine verkehrSüblicke Ablürzung, wie sie hier vorliege, berücksichtigen. Derselbe Senat hat sogar den Grundsatz auf gestellt, daß ein Privattestament nicht dadurch seinem ganzen Inhalte nach ungültig werde, daß ein Teil nickt von der Hand des Erb- lafserS herrühre; vielmehr sei g-mäß tz 2085 B. G. B. nur dieser Teil nichtig. — Trotz der milderen Auffassung des Reichsgerichts empfiehlt sich natürlich die genaueste Be«bachtung der vom B. G. B. vor geschriebenen Formen, um die RechtSgültigkeit deö Testamentes zu sichern. Ter Tieg des Tarifgedankens. Nach dem neuesten Verzeichnis der tariftreuen Buchdruckereien, daS soeben vom Tarrfamt der Buchdrucker herauögegebcn worden ist, war der Buchdruckertarif am 30. April 1907 anerkannt von 6254 Firmen, die 54 553 Gehilfen beschäftigen. Diese Betriebe ver teilen sich auf 1803 Städte beziehungsweise Orte in ganz Deutsch land einschließlich Elsaß-Lothringen, daS nunmehr zu der RrichS- tarisgememsckaft gehört. Ern interessantes Bild der Entwicklung der Tarisanerkennung seit 1896 gewinnt man aus folgenden Zahlen: der Tarif war anerkannt: , Jahr Firmen Gehilfen Orte 1897 1631 18 340 469 1898 2030 22 468 647 1899 2704 27 449 880 1900 3115 30 630 1002 1901 3372 34 307 1030 1902 3464 36 527 1043 1903 4250 39 464 1315 1904 4559 41 483 1382 1905 5134 45 868 1552 1906 5583 49 497 1659 1907 6254 54 553 1803 Die Entwicklung vollrieht sich danach mit einer lückenlosen Stetigkeit und bat bereits dazu geführt, daß das Korrespondenzblatt der General kommission der Gewerkschaften DeutscklandS sagen kann, die wenigen nichi tariftreuen Firmen im Buchdruckgcwerbe hätten keine große Be- deuiung mehr. Mißverständnisse vom Kyfshäuser. lieber eine eigentümliche Maßnahme auf dem Kyfshäuser haben Thüringer Zeitungen kürzlich berichtet. Danach sollte der Kai'ersaal der Denlmalswirischaft auf dem Kyfshäuser mit den Bildwssin sämtlicher deutschen LandeSiürstcn geschmückt sein; nur einer sei ausgeschlossen, der Herzog von Meiningen; nach der Aussage des SaalausseherS, eines alten Veteranen, sei dies deshalb geschehen, weck der Herzog viel im AuSlanve wecke und der Kriegervereinssache nicht freundlich gesinnt sei. Diese unbegreifliche Aeußerung deS Aufsehers ist lelbstverständlich un richtig; die Sache verhält sich ganz anders. Der Kaisersaal der Denkmals wirtschaft ist der BeratungStaal deS Kyffhäuser-BundcS der deutschen Landes - Kriegerverbände. Diesem Zwecke ist sein von Prolessor Bruno Sckmitz ausgesnhrtcr künstlerischer Schmuck angepaßr. Die Saalrccke enthält die Bildnisse und Wappen der Kaiser des allen Reiches. Die Fenster sollen die Bilder der Kaiser des neuen Reiches ausnebmen; zunächst sind Kaiser Wilhelm der Große, Kaiser Friedrich unv Kaiser Wilhelm ll. vargestelll. Die Wänee nun sind geschmückt mit den Bildern der Protektoren der Landes-Kriegerverbände der einzelnen Bundesstaaten. Ta dies in der Regel die Landesherren sind, so bängen auch deren Bilder meiste: S im Saal. Der Herzog von Meiningen hat aber das Protektorat über den LandeSverbanv seinem Sohne, dem Erbprinzen, übertragen, und deshalb ist der für da« Herzogtum Meiningen vorgesehene Wandabschnitt mit dem Bilde dcS Erb prinzen versehen. Aebnlich ist eS bei Neuß j. L., wo nicht der Fürst, ivndern der Erbprinz Protektor deS LandeS-KriegerverbandeS ist; auch bier enthält der Wandabichnitt für Reuß j. L. deshalb das Bild deS Erb prinzen. Es ist auch,nicht richtig, daß oer Herrog dem Kriegervereins wesen nickt günstig gesinnt sei. DaS Gegenteil ist der Fall. Der Herzog bat im Jahre 1884 dem D.ut chcn Kriegerbunee sein Schloß Römhild sür die Zwecke eines Waiseuhau eS zur Verfügung gestellt, in welchem zurzeit 120 Krie erwaisen erzogen werden; er läßt sich regelmäßig Bericht über daS Waisenhaus abstallen unv spricht sich alljährl ch über die er reichten Erfolge in längerem Handschreiben auf das gnädigste und herzlichste aus. — D:e Zeitungen, welche die irrige Notiz zuerst gebracht haben, können übrigens guten Glauben sür sich in Anspruch nehmen. Der Saataufscher bat sich in der Tat so, wie von den Zeitungen mit- getcckt, geäußert; er hat aus „Nicht-Proteltor" „nicht protegieren" ge macht und dies in „nicht freundlich gesinnt sein" umgewandelt. So haben an dem Irrtum w eder einmal die bösen Fremdwörter schuld. Der Aufseher ist inzwischen aufgeklärt worden unv wird die Besucher des Kysshäuscis nicht mehr irre führen. Jeitunasstiininen. Zum sächsischen Wahlgesctzentwurf sind noch eine Reihe von Preß stimmen zu vermerken. Zunächst aus Sachsen selbst. Die „Chemn. Alla. Ztg." urteilt: Man mußte ja von vornherein damit rechnen, daß, wle die politischen Ver hältnisse in Sachsen liegen, ein wirklich liberales Wahlgesetz auf leinen Fall zu erhoffen war. Lian wird bis auf weiteres schon damit zufrieden sein müssen, daß ein bessere-, den modernen Anforderungen einigermaßen genügendes Wahlgesetz an die Stelle deS unhaltbaren jetzigen tritt. War man also auf ein Komproiniß gefaßt, so wird man zugeben müffen, daß der Minister eine Mittellinie gezogen hat, über die sich zum min desten ernsthaft reden läßt. Sein Vorschlag stellt sich dar als eine Stimme von Zugeständnissen, die er den politischen Parteien zu machen willens ist. Von den Forderungen jeder einzelnen nahm er ein Stück und formte daraus ein neues Ganzes in der Meinung: Wer vieles bringt, wird manchem etwa- bringen. ES wird sich, wenn erst die Parteien offiziell zu dem Projekte Stellung nehmen werden, zeigen, wie weit sich die Hoffnungen des Ministers auf Annahme seines Vorschläge» erfüllen laßen. Die liberalen „Dresdner Neuesten Nachrichten": Gewiß ist es zu begrüßen, daß die Negierung jetzt tatkräftig an die Reform der Zweiten Ständekammer herantritt. Es ist auch nicht zu leugnen, daß Ent wurf und Begründung sich bemühen, manchen Gedanken ter Neuzeit zur Geltung zu bringen. Aber jene Paragraphen über das Wahlrecht der Kommunalnerbände, die eine Hälfte des künftigen Landtages den Wirkungen der jetzigen Gemeinde wahlrechte unterstellen, ßnv überhaupt indiskutabel, wenn nicht zuvor eine grundlegende, ehrliche Reform der Gemcindewahlrechte siattfinoet. Eine Reform, die Jntereßenwirisckast verhindert, nicht befördert. Sonn bringen uns jene Paragraphen keine Reform der Stänvekummer, sondern höchsten- eine Stände kammer der Reformer und ihrer Geistesverwandten! Von nicktsächsischen Blättern haben bisher erst wenige sich eingehender geäußert. Die „National-Ztg." tadelt die Zwiespältigkeit deS Entwurfs, auch die Art wie das Pluralsystem angewendet wird. Sie hätte hier lieber dem Alter vermehrten Einfluß gegeben. Schließlich schreibt sie über die Hinzunahme der Wahl durch Kommunalverbänre zu dem Pluralwahlrecht: Man hat den Eindruck, als traue Graf Hohentbal den Mehrstimmen nicht so recht unv habe deshalb noch eine be'oneere Kauteie gegen leine Kamelen für nötig erachtet! Das ist zu bedauern denn Aengillichkeit und Zwie'pältigkeit sind Kennzeichen, woraus man einer Reiorm nicht gerade die Aussicht auf langes Leben zu prophezeien pflegt. Wozu den» das Zweilammer-Syslem. wenn man schon der Zweiten Kammer eine halbe Erste Kammer glaubt auspfropfen zu müssen? Nach alledem, und nach den vorerst noch spärlichen Aeußerungen auS Sachsen, wird man ten Vorschlägen des Grasen Hohenlkal keine sehr hoffnungs reiche Zukunft Voraussagen können. Als Vorstudie für Preußen ist diese Reform in ihrer Gesamtheit jedenfalls entschieden abzulehnen. Der „Hannov. Kurier" urteilt: Bedauerlich an dem Entwurf ist die Beibehaltung der indirekten Wahl für 40 Abgeordnete; dadurch wird der ganzen Reform ein zwiespältiger Charakter verliehen und ferner wird dadurch das politische Getriebe in die Gemeinde verwaltungen getragen. So sehr nun auch eine durchgreifende „Pollliiierung der Gesellschaft", um mit Lamprecht zu reden, erwünscht ist, so wenig glücklich ist der Versuch, damit bei den Gemcindevenvaltungkn m zuiangen. Es wird die Gefahr deS Erwachens eines Kantönligeistes in hohem Maße herausbeschworen, uuo schon um deswillen wird gegen diesen zweiten Teil der Skizze des Grafen Hohcnthal Einspruch zu erheben lein. Im ganzen aber bereutet der Entwurf nach den vorläufigen Andeutungen des Ministers einen guten Fortschritt gegen über dem bisherigen Wahlgesetz. Die Tislußion in der Presse beginnt bereits lebhaft einzusetzen; auf nationalliheralcr Seite ist man gern bereit, auf Grund der hier entwickelten Resormgedanken das neue Gesetz auszubauen. Mit absoluter Verständnislosigkeit den sächsischen Verhältnissen gegenüber ausgestaltet, jchreibt das „B. T." in einem „Das kranke Pferd" betitelten Artikel: Wollte man einen Preis auf ein Wahlrecht auSsetzen, wie es nicht sein soll, Graf Hohenthal verdiente ihn. Man lönnte sich ein Wahlr.cht gefallen laßen, daS sich wenigstens dem Bolkswillcn annähert. Ein Wahlrecht, das ihn ins plutolratische und agrarische fälscht, das noch dazu alle jämmerlichen Kirch- Feuilleton. Kinder sind glückselige Poeten. Der frische Spicgrr ihrer Seele reflektiert noch alle Wunder der Natur mit gleicher Schärfe, und überall ist eine Fülle des Genusses. W. v. Kügelgen. ' Hl Der Niedergang des Volkrgesanges. Von Hermann Graef (Leipzig). Die Blütezeit des deutschen Volksliedes fällt in das vierzehnte, fünf zehnte und sechzehnte Jahrhundert. Von da ab scheint das Volt dre Liederkunst zu vernachlässigen; sie geht als Gelehrten- und Kunstdichtung an wissenschaftlich gebildete Leute über, denen es nur selten gelingt, ein volkstümliches Lied hervorzubringen. Wenn aber auch das Volk seine ursprüngliche Schasfungskrast in der Hervorbringung echter Volkslieder zu verlieren scheint: glückliche Nachkommen pflegen immer noch eifrig den Volksgesang; sie erfinden zwar keine neuen Lieder mehr, aber sie erweisen uns den Dienst, die ererbten Volkslieder treu aufzubewahren und im Gesänge auf der Landstraße, in der Schenke, im Kriege und am heimischen Herde lebendig zu erhalten. Solange unser Volk sich die jetzt verlorene naive Sangesfreudigkeit bewahrte, wurden die Volkslieder mit zäher'Treue fcstgehcckten, das Wort sowohl wie die Weise. Ter schnellen Verbreitung des Volksliedes und des damit unzer trennlich verbundenen Volksgesanges kam der Wandertrieb damaliger Zeit besonders zustatten. Der ungezwungene Verkehr fast aller Stände auf der Landstraße führte zum raschen Austausch von Liedern. Auf der Heerstraße spiegelte sich das Leben der Zeit, und ihre Hauptgestalten: Landsknechte, Handwerksburschen, Jäger, Studenten und fahrende Schüler, wurden zu den immer wiederkehrenden Lieblingsgestalten des Volksliedes, das auch durch die jüngeren Geschlechter noch mancherlei Abänderung erfuhr. Man reiste nicht, um nur anzukommen, sondern man war glücklich unterwegs, man freute sich nicht nur auf das Ziel, sondern man genoß auch die Wanderung selbst mit aller Lust, aber auch mit aller Not und Gefahr, deren gemeinsames Ueberstehen die Menschen enger zueinander führte. Diese Sangesfreudigkeit war nur möglich bei einem Geschlecht von Menschen, daS kräftig und gesund, noch unbe irrt von den schwebenden Kulturfragen, zum vollen Gefühl seine- Daseins erwachte. Unser Volk hat zum großen Teil seine gesunde, urwüchsige SangeS- sreude eiupebüßt; die Gesangvereine singen und das Volk — — — schweigt. Selten nur ertönt noch ein echtes Volkslied. In den Städten Hot der Gassenhauer und die Tingeltanoelmelodie, auf dem Lande hat das häufig unzüchtige Soldatenlied die schönen, alten Volksweisen zurückgedrängt. Laß das Volk heute weniger singt, als in der ersten Hälfte des verflossenen Jahrhunderts, ift zweifellos; es ist das Ergebnis unserer mooernen, überhastenden Bildung. Die beschleunigenden Verkehrsmittel haben das Reiseleben verarmt. In der Umgebung größerer Städte fallen selbst ausgedehntere Spaziergänge weg. Man geht nicht mehr, man fährt. Straßenbahn, Trambahn, Lokalbahn und Staatsbahn machen das Wandern überflüssig. Der Volksgesang eignet sich während der Fahrt wenig zum Schnauben der Maichinem zum Rasseln der Wagen. Stärkt man sich am Ziele mit Speise und Trank, so sucht man vergebens die lustige, lieddurchhallte Schenke unserer Vorfahren. Stil voll eingerichtete, große Restaurationen machen sich an allen Ausflugs orten breit: hier gilt das laute Singen für unanständig. In den „bes seren" städtischen Restaurants würde der Wirt jedem, der seine Gäste mit Singen belästigt, von selbst die Türe weisen. Bei der Arbeit aber ist heutzutage ein großer Teil unseres Volkes von selbst davor bewahrt, sich die Zeit mit Gesang zu verkürzen: die lärmende Mafchine läßt die menschliche Stimme nicht zur Geltung kommen, und der Arbeitgeber ver bietet bei der Arbeit meist mit Reckt den Gesang, da die rastlos schaffende Maschine den Achtlosen mit dem Tode bedroht. Aber auch nach der Arbeit singt unser Volk weniger wie früher, und dann — leider Gottes! — meist in Gesangvereinen. Der hier ge pflegte Kunstgesang ist durchaus nicht dazu angetan, den Volksgefang zu heben, er unterdrückt ihn vielmehr. Der Vereinssänger verliert die naive Freude am Volksgesange; er kann — nach seiner Meinung — ja künstlerisch singen. Tatsächlich aber kann er's durchaus nicht, wenig- stens kommt der in den Vereinen gepflegte Kunftgesang in keiner Weise dem Volksgesange zugute. Sind die Vertreter her vier Stimmen nicht „vereint zur guten Stunde", so hört die Herrlichkeit von selbst auf. Bei Spaziergängen und sonstigen Anlässen sind oft nur drei sangesfreudige Burschen beisammen, und die Leute, die früher vergnügt ein zweistim miges Volkslied sangen, das auch den Gebildeten erfreute, singen nun zu drei Mann hoch fehlerhaft ein vierstimmiges Lied. Sind auch mehrere Vereinssänger per Zufall zusammen, so fehlt oft genug der zweite Baß oder der zweite Tenor, und dann geht's wieder nicht, besonders wenn der Dirigent nicht anwesend ist. Andere Leute, die dem Vereine nicht angeboren, können die „neuen Lieder" nicht mitsingen, und gaben sie früher ihrer gehobenen Stimmung durch ein Volkslied den passenden Ausdruck, jetzt verstummen sie vor den drei Vereinssängern in ihrer Mitte, die mit unheimlicher Unermüdlichkeit alles das zum besten geben, was sie nur halb oder gar nicht können. Schlägt schließlich ein erleuchteter Kopf vor, gemeinschaftlich ein Volkslied zn fingen, so findet er bei den Vcreinssänaern wenig Gehör: „Diese Lieder sind ja für Schulkinder". Zum Lobe vieler Dirigenten muß allerdings gesagt wer den, daß man von den neuen Ehorkompositionen, denen die Kraft klei nerer Vereine doch nicht gewachsen, wieder mehr zur Pflege des Volks liedes zurückgekommen ist, aber man hat das naive Volkslied in ein höfisches Gewand gezwängt, man singt es in kunstvoller, vierstimmiger Bearbeitung und benimmt ihm die Möglichkeit, in diesem Gewände tief inS Volk einzndringen. DaS Ende vom Liede: die Vereine singen und das Volk schweigt! - Auf dem Lande sieht es mit der Pflege des eigentlichen Volks gesanges immer noch viel günstiger aus, wie in der Stadt, in der die in der Schule erlernten Volkslieder den Heranwachsenden Burschen oder Mädchen bald nicht mehr genügen. Die hoffnungsvolle, daS Klavier marternde Jugend der „besseren Bürger" vergißt die Volksweisen über seichten Operettenmelodien. Die Fabrikarbeiter und Fabrikarbeiterin nen greifen zum Gassenhauer, zum Tingellangelgesang, und ihr dich terisches Schaffensvermögeu erschöpft sich oft genug darin, daß diesen faden Melodien ein neuer, gemeiner Zotentcxt untergelegt wird. Wo man früher sang: „In einem kühlen Grunde", da aröhlt man jetzt: „So soll es sein, so soll es bleiben", „Auf der grünen Wiese, hab' ich sie ge fragt", „Fischerin, du kleine'', „Herr Leutnant, Herr Leutnant", „O du himmelhlauer See". Die Drehorgel hilft nach: auch sie spielt keine Volksweisen mehr, sondern Lperettenlieder und Tingeltangelmelodien. Auf dem Lande erleidet der naive, treuherzige Volksgesang eine schwere Schädigung durch die Soldatenlieder, die die Reservisten mit aus den Garnisonen bringen. Man braucht kein Musikkenner zu sein, um viele ^Melodien unserer Soldatenlieder höchst gewöhnlich und die Art, mit der sie abgebrüllt werden, roh und abgeschmackt zu finden. Gerade die Lieder, die aus dem Soldatenstaude selbst hervorgegangcn zu sein scheinen, haben fast ausnahmslos gemeine Texte. Lieder wie das von der Müllerin und dem Soldaten, Texte wie „Es wollt' ein Mäd- cken früh cmfsteh'n, wollt' Brombeeren plücken geh'»", oder das Lied mit dem Schluß „Du schlechter Kerl, was willst du nur?" stehen auf dem Höhepunkt der Gemeinheit. Schamlosigkeit im Inhalt, Roheit im Ausdruck, Rüpelhaftigkeit im Vortrag: das ist das Kennzeichen vieler Soldatenlieder. Tie>e Lieder wirken entsittlichend auf weite Kreise unseres Volkes; sie werden nicht nur in der Kaserne, sondern auch »af dem Marsche durch die Dörfer gesungen. Der heimgekebrte Reservist singt diese Lieder bei jeder Gelegenheit, einerlei, ob Kinder, Mädchen oder Frauen seine willigen oder unwilligen Zuhörer lind; der fünfzehn jährige Bauernjunge singt sie mit und vergiftet seine Phantasie mit dem Inhalte der Lieder. Ebenso gemein sind die Texte, die man den Sig nalen untergeleat bat. Es befremdet geradezu, wie wenig patriotische Lieder von den Soldaten ohne Zwang gesungen werden, wie sehr sie die Volkslieder vernachlässigen. Hier im Soldatenstande selbst muß zunächst der Hebel angesetzt wer den, um Wandel zu schaffen, um unsern Volksgesang nicht ganz ver klingen oder in Roheit und Abgeschmacktheit ausarten zu lassen. Gegen das Zotcnlied im Heere müßte sich ein scharf ausgesuhrter Armeebefehl richten, der das Absingen anstößiger Texte auf den Marschen sowohl wie auch in den Quartieren verböte. Dann gilt es, an Stelle der schlechten Lieder gute zu setzen. Das ist aber durchaus nicht leicht, denn an guten, eigentlichen Soldatenliedern, die das Leben des Soldaten selbst zum Vorwurf habem herrscht geradezu Mangel. Durch Preisausschrei ben für Texte und" Melodien könnte diesem Mißstände vielleicht abgchol- fen werden. Vielleicht wäre es auch möglich, daß die Lieder, die in den Gesangsstunden von Sergeanten und Feldwebeln den Soldaten eingeübt werden, amtlich festgestellt und daß neu einznübende Gesänge an maß-
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