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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Handelszeitung : 15.07.1907
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1907-07-15
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id84535308X-19070715023
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id84535308X-1907071502
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-84535308X-1907071502
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Handelszeitung
- Jahr1907
- Monat1907-07
- Tag1907-07-15
- Monat1907-07
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Abend-Ausgabe L Anzeigen PeeiS Bezugs Prei» Mip)iger TagcblaN Handelszeitung Amtsblatt -es Aates und des Nolizeiamles -er Ltadt Leipzig Nr. 184 Montag 15. Juli 1907 101. Jahrgang Haupt Filiale Vertin: Lail Dunck:., Hcrzogl. Bavr. Hssduch» Handlung, Lützowstra«« 1(t (Telephon VI, Nr. 4E). Nr Le-pzig und Vororte dur<b unsere Trtger und Lpedireure ins Hau» gebracht: Aus gabe t (nur morgens) »iertelithrlich 3 M-, monatlich I M : Ausgabe » (morgens und abends) vierteljihrlich 4.50 M., monatlich 1.50 M. Durch die Po« bezogen (2 mal täglich) innerhalb Deutschlands u der deutschen Kolonien vierteljltbrlich 5,25 W., monatlich 1,75 M. auSschl. Posibestellgeld. sür Oesterreich 9 L 66 d, Ungarn 8 K vierteljährlich. Abonnement-Annahme: Auguftusplatz 8, bei unseren Trägern, Filialen, Spediteuren und Annahmestellen, sowie Postämtern und Briefträgern. Die einzelne Nummer kostet 10 Pfjp Nedaklton und Expedition. Johannisgassc 8. Telephon Nr. 14692, Nr. I46S3, Nr. 14694. verltaer NedaktivnS Vurcau Berlin 14^. 7, Prinz Louis Ferdinand- Straße 1. Telephon I, Nr. 9275. sllr Inserate aus Leipzig und Umgebung die 6geipalrene Petit,eile 25 PI., finanzielle Anzeigen 30 Ps., Reklamen 1 M ; von auswLrts 30 Ps., Reklamen 1.20 M .: vom Ausland 50Ps., finanz. Anzeigen 75Pf., Reklamen 1.50 W. Inserate ». Behörden im -mit chen Teil 40P'. Beilagezebühr 5 M. p. Tau end exkl. Post gebühr. cheichaitsanzeigen an bevorzugter Stelle ,m Preise erhöht. RaNatt nach Taris. Feslcrkeilte Luiträgc könnei nicht zurück gezogen werden. Für da« Erscheinen an bestimmten Tagen und Plaf en wird keine Garantie übernommen. Anzeigen-Annahme: Slug.istuSplatz 8. bei sämtlichen Filialen u. allen Annoncen- Expeditionen der In- und Auslandes. Das wichtigste vom Tage. * Die Evangelischen Arbeitervereine Sachsens nahmen gestern in Dresden Stellung zu der Wahlrechtsreform. Zu- gleich wurde der Zusammenschluß aller nationalen Ar beiter- und Gchilfenorganisationen ins Auge gefaßt. lS. Tgssch.s * Aus dem Geldschranke der gemeinsamen Ortskrankenkasse für die unterländifchen Bezirke sind in Gera in der Zeit vom Sonnabend bis heute früh gegen 4000 F in baar und gegen 3000 in Versicherungsmarken entwendet worden. * In Schlesien ist infolge der andauernden Regengüsse Hoch- wasser eingetreten. (S. Neues a. a. W-I * In London fanden s o z i a l i st i s ch e Kundgebungen gegen die englisch - russische Annäherung statt. sS. Ausl.j Tagesschau. Tie kvaugeltschcu Arbeitervereine Sachsens uns das neue LauötagS- wahlrccht. (:) TrcSdcn, 14. Juli. Im Saale des Hotels zur Herzogin Garten fand heute nachmittag 3 Uhr eine Versammlung der Vorsitzenden und Vertreter der evangelischen Arbeitervereine Sachsens statt, die sehr zahlreich besucht war. Der Vorsitzende des Sächsischen Landesverbandes, Herr Pastor Winter- Dresden, hatte eine dringliche Einladung hierzu ergehen lassen, um den Vertretern der einzelnen Vereine Gelegenheit zu geben, sich über den Entwurf zum neuen Landtagswahlrecht zu äußern. Das Referat hatte Herr Pastor Färber ger übernommen. Er wies darauf hin, daß die evangelischen Arbeitervereine Sachsens heute gewissermaßen an einem Wendepunkte stehen und erinnerte an die letzte WahlrechtSänderunz und an die Annahme deS Antrages Wach in der Synode. Heute dagegen liege die Kriegserklärung der Regierung au den reaktionären Flügel der Konservativen vor, und der andere Teil der konservativen Partei wende sich der Negierung zu. Es stehe jedenfalls eine bedeutende Spaltung innerhalb dieser Partei bevor. Die Regierung stehe jetzt gewissermaßen -wischen -Wei Feuern, und zwar werde sie auf der einen Seite von der Sozialdemokratie und auf der andern Seite von der Reaktion bekämpft. Mit dem neuen Wablgesetzentwurfe habe die Regierung Grundsätze ent wickelt, die man als eine große Staatsweisheit bezeichnen könne. Sie habe in dem Entwürfe die weitgehendste Unparteilichkeit gezeigt und zu erkennen gegeben, daß alle Kräfte im heutigen Erwerbsleben auch Ein fluß auf den Gang der Staatsmaschine gewinnen sollen. Der frucht barste Gedanke in dem neuen Entwürfe sei derjenige der Verhältnis wahl, durch die auch den evangelischen Arbeitervereinen der Weg in den Landtag gebahnt werde. Die Regierung wünsche jedenfalls eine Vertretung dieser Gruppe im sächsischen Landtage, denn sie sei der Meinung, daß die Bekämpfung der Sozialdemokratie nicht möglich sei, ohne Mitwirkung der nationalen Arbeiter. Ein voll kommen gleiches Wahlrecht, wie bei den Reichstagswahlen, sei sür die Landtagswahlen nicht möglich, deshalb dürften sich die evangelischen Arbeitervereine Sachsens nicht ablehnend zu dem RegierungSentwurfe stellen. Auf der andern Seite weisen die evangelischen Arbeitervereine den Gedanken der „Deutschen Tageszeitung" zurück, wonach die Sozial demokratie nicht im Landtage vertreten sein solle. Es würde eine Tor heit sein, diese Massen im sächsischen Landtage unvertreten sein zu lassen. Wer nicht eine phantastische, sondern eine reale Politik treiben wolle, der müsse das Erreichbare erstreben und der Vorlage zustimmen. Jeden falls sei der neue Entwurf ein großer Fortschritt gegen die Vorlage von 1904. DaS größte Interesse habe für die evangelischen Arbeitervereine die Einführung der Verhältniswahl, denn hierdurch sei der Weg sür die evangelischen Arbeitervereine zur II. Kammer offen. Wenn es gelinge, einen Vertreter der evangelischen Arbeitervereine in den Landtag zu entsenden, dann habe dieser die Pflicht, die Interessen aller der Arbeiter zu ver treten, die z. B. niemals für die konservative Partei zu haben sind. Der Redner schlug schließlich die Annahme nachstehender Resolution vor: I. Der Landesverband der evangelischen Arbeitervereine Sachsens erkennt unter Ablehnung deS Strebens nach unerreichbaren Zielen und unter Vorbehalt der Stellungnahme zu einzelnen Fragen, mit Freuden den großen Fortschritt an, welchen der RegierungSenlwurf zu einer volkstümlicheren Gestaltung des LandtagswablrechtS bedeutet, ins besondere, baß dadurch eine wesentlich stärkere Vertretung der Arbeiter interessen aber auch durch die Verhältniswahl eine gerechte Vertretung der Minderheiten gewährleistet werden soll. II. Der Landesverband bittet die Herren Landtagsabgeordneten, dem RegierungSentwurfe im wesentlichen zuzustimmen, insbesondere dem Grundsätze der Verhältniswahl, damit die dringend notwendige Reform nicht abermals verschoben werde. III. Der Landesverband fordert seine Mitglieder- auf, bei der bevorstehenden Landtagswahl nur solchen Kandidaten ihre Stimme zu geben, welche sich bereit erklären, sür eine Reform auf Grund des NegierungScntwurses zu stimmen. Diese Resolution wnrde nach längerer Debatte einstimmig ange nommen. Den zweiten Punkt der Tagesordnung bildete die Beratung über den Zusammenschluß aller nationalen Arbeiter-und Ge- bilfenorganisationeu. Das Referat hierzu erstattete Herr Pastor Winter. Er betonte, daß dieser Zusammenschluß ganz besonders zum Zwecke eines gemeinsamen Vorgehens bei den Landtags wahlen erfolgen solle, damit auch der kleine Mann aus dem Volke in Zukunft im Landtage vertreten ist. Es handle sich um den Zusammenschluß der HandlungSgehilfenverbände, der christlichen Gewerk schaften, der Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine, der Privatbeamten, der Werkmeister- und Kellnerverbände usw. In Leipzig sei dieser Zusammen schluß geglückt, und es habe bereits ein gemeinschaftliches Fest statt gefunden, bei dem 12 000 Menschen anwesend waren. Dieser nationale Landesverband könne vielleicht den Namen „Sächsischer nationaler Volks bund" führen. Zunächst müsse jeder Verein in seinem Orte einen Aus schuß bilden, der diese Angelegenheit in die Hand nehme, worauf dann in Dresden ein Landesausschuß gebildet werben müsse. Weitere Auf gaben seien bann die Bildung von Wablfonds, die Ausstellung der Kandidaten usw. Vielleicht gelinge eS dann auch, sür nächsten Sommer einen nationalen sächsischen Volkstag nach Dresden einzuberusen. In der Debatte wünlchte Schulz-Leipzig eine weitere Ausdehnung der Tätigkeit dieses VollSbundeS auf die Wahlen zu den Gcwerdegerichken, die Stadt verordnetenwahlen, die Kraukenkassenwahlen usw. Außerdem müsse der Volksbund auch sür die weitere Fortbildung der nationalen Arbeiter schaft sorgen, wie dies in ausgiebiger Weise bei der Sozialdemokratie geichehe. Nackdem noch einige weitere Redner gesprochen hatten, schlug Herr Pastor Winter die Annahme folgender Resolution vor: „Der Landesoerband beschließt, baldigst energische Maßnahmen zu treffen, um im Falle der Annahme der LandtagSwahlrechlSreform bei den künftigen Wahlen eine Vertretung seiner Bestrebungen im Landtage zu erringen. Er fordert sämtliche Vereine auf, besonders auch zu diesem Zwecke mit verwandten Gehilfen- und Arbeiterver bänden zu gemeinsamen Arbeitsausschüssen sich sofort zusammen zuschließen." Auch diese Resolution wurde einstimmig angenommen. Den Schluß der Beratungen bildete eine Beschlußfassung über das wöchentliche Erscheinen des „Evangelischen Arbeiter blattes", welches gegenwärtig aller 14 Tage erscheint. TcucruugSzulagcu an Beamte. Daß die allgemein anerkannten TeuerungSverhältniffe von den Beamten mit geringerer Besoldung am drückendsten empfunden werden, ist eine Tatsache, die schon verschiedene größere Städte und Gemeinden, daS Reich und einige Bundesstaaten veranlaßt hat, fest angestellten Arbeitern und Beamten entweder einmalige Teuerungszulagen zu ge währen oder eine sonstige Gehaltserhöhung eintreten zu lassen. Gehalts erhöhung und Teuerungszulage sind indessen zwei verschieden zu beur teilende Begriffe; erstere Hal den Vorzug, daß sie den Bedachten auch künftig zugute kommt, letztere hat den Nachteil, daß sie nur einmalig ist. Aber ganz abgesehen davon ist bei allen Teuerungszulagen, die bisher gewährt worden sind, nicht immer Wert daraus gelegt worden, wer einer solchen Zulage am dringlichsten und reichlichsten bedarf. Da sind zunächst einige Gesichtspunkte, die in den Vordergrund geschoben werden und scheinbar als Richtschnur dienen, den wirklichen Verhältnissen kommen sie aber nicht genügend nahe. Die Frage: welche Beamte die TeuerungSverhältniffe am meisten drückt, findet fast ausnahmslos immer Beantwortung darin, daß es die sind, deren Gehalt bi« etwa 2500 beträgt. Der Familienstand aber, auf den e« vor allen Dingen ankommen sollte, wird außer Betracht gelassen und höchstens damit berücksichtigt, daß Unverheiratete von der Teuerungszulage ausgeschlossen oder nur mit einem Teil bedacht werden. Wenn Reich und Staaten die persönlichen Verhältnisse der mit Teuerungszulagen Bedachten nicht genügend gewürdigt haben, vielleicht auch bei der Kürze der Zeit, in der diese Vorlagen zu erledigen waren, nicht würdigen konnten, so kann dies füglich ent schuldigt werden. Wenn aber Gemeinden und kleinere Staaten daraus keine Rücksicht nehmen, so muß dies getadelt werden. Teuerungszulagen sollen in erster Linie bestimmt sein, dem durch die Ungunst der wirtschaftlichen Verhältnisse in arger Not befindlichen Familienvater zu helfen; darum ist eS erforderlich, daß Teuerungszulagen nach der Kopfzahl der Familie bemessen und somit alle Härten ausgeglichen werden. Jeder andere Maßstab bei der Festsetzung von Teuerungszulagen wirkt ungerecht und unsozial! Daß jedem, der als Beamter oder Angestellter eines Gemeinwesens auf einen geringen Gehalt angewiesen ist, sei er verheiratet oder nicht, eine Teuerungszulage zu gönnen ist, ist selbstverständlich, nur muß, wie ge sagt, bei den Verheirateten auf die Zahl der Kinder genügende Rücksicht genommen und für diese eine entsprechende Erhöhung vorgesehen werden. Jeitungsstiiniiren. * Zur WablrcchtSvorlage seien noch folgende Stimmen wieder gegeben: Die „Nat.-Lib. Korr." schreibt: War es eine „Flucht in die OesseaUichkeit", als die sächsische Regie rung sich dazu entschloß, schon jetzt, einige Monate vor Wieder beginn der Beratungen der sächsischen Kammern den Entwurf zum neuen Wahlgesetz mit seiner Begründung zu veröffentlichen? Der Entwurf steht jetzt im Brennpunkt der Erörterungen über die innerpolitischen Fragen Sachsens. Bon den Konservativen wird eS abhängen, ob eine gedeihlich« Reform deS Wahlrechts auf v - Grundlinie des RegierungSentwurfe- sich er- möglicht. Die Gruppe Agrar-Konservativen unter Führung des Abgeordneten Mehnrrt scheint sich dem vorliegenden Reform-Entwürfe kühl ablehnend gegenüber zu verhalten und eS auf eine Macht probe ihre- Einflusses ankommen lassen zu wollen. Indes machen sich in anderen konservativen Kreisen, wie die Kundgebung deS Herrn v. Nostitz-Wallwitz im Dresdener konservativen Verein beweist, doch kräftige Strömungen geltend, die sich der Verantwortlichkeit der gesamten konservativen Partei wohl bewußt sind. Sollte der Mehnertsche Flügel diese Zeichen nicht verstehen und mit ihm daS GroS der jetzigen konservativen Partei ebenfalls nicht, so müßte rin Appell der Regierung an die Wählerschaft durch Auflösung der jetzigen Zweiten Kammer sür den Entwurf bei den etwaigen Neuwahlen eine Mehrheit bringen und auch den Einfluß der agrar-konservativen Herr schaft in Sachsen endgültig beseitigen. Ob sie den Bogen überspannen wollen, haben die Konservativen noch reiflich Zeit, sich zu überlegen. Mit der Veröffentlichung LeS Entwurfes zeigte ihnen die Regierung den Weg zur Ein- kehr bei sich selbst. Beschreiten sie ihn nicht, dann könnten ihnen leicht aus viele Jahre hinaus die Pforten verschloßen werden, durch welche ihnen der Eintritt zur Ausübung selbst eines bescheidenen legitimen politischen Einflusses möglich ist; das jetzige künstlich hcrgeslellte Uebergewicht der sächsischen Agrar- Feuilleton. O wüßten doch die Menschen die Götterkraft der Phantasie zu brauchen, sie, die allein den Geist ins Freie stellt, ihn über jede Gewalt und jede Beschränkung weit hinausträgt! Schleiermacher. * Dar sentimentale Jahrhundert. Zur Charakteristik der guten, alten Zeit. Don Dr. Max Pollaczek (Berlin). Es sind etwa hundertundzwanzig Jahre her, da unternahm eine vor nehme kurländische Dame eine Reise nach Deutschland. Sie ging mit einem ziemlichen Gefolge, unter dem ihre Gesellschafterin ihrem Herzen am nächsten stand. Ja, Charlotte, oder wie sie sich lieber nannte, Elise von der Recke, die Tochter des baltischen Barons, die Schwester der Her zogin von Kurland, war mit Sophie Becker, der Pastorstochter, aufs innigste befreundet. Frau von der Recke hatte sich nach kurzer Ehe mit einem preußischen Offizier scheiden lassen und lebte nun ganz der Pflege ihrer schwachen Gesundheit und schöngeistigen Liebhabereien. Eine gleichgesinnte Seele hatte sie in der Becker gefunden, die freilich viel resoluter, klarer und verständiger war. Eine merkwürdige Zeit, man beobachtete sich selbst so genau, wie es letzt ein moderner Seelenanalytiker tut, und täuschte sich dabei vorsätzlich selbst, da jeder in sich eine schöne Seele entdecken wollte. Man quoll über von süßen Gefühlen und edlen Empfindungen, man baute Freund schaftsaltäre, bekränzte sie — das ist alles wörtlich zu nehmen — mit Blumen und dichtete einander täglich an. Himmelblaues Schwärmen und rationalistisches Kritteln, verschwommene Weltbürgerlichkeit und ödestes Philistertum gingen Hand in Hand. Man glaubte den Gipfel der Zivilisation erklommen zu haben und wußte nicht, daß den nach- folgenden Generationen ein Aufstieg beschicken war, wie ihn die Mensch heit noch nicht erlebt hatte, ein Aufstieg, der heute noch andauert. Man liebt eS heutzutage nicht, das „Wie wir's so herrlich weit» gebracht", zu betonen, und doch, we>- . uns eines in den Wirrnissen und Kämpfen der Gegenwart Mut und Zuversicht einzuflößen vermag, so ist eS ein Vergleich mit vordem. Wir sind weiter gekommen, erheblich weiter, und diese tröstliche These zu erweisen, sind die Reisebriese der Sophie Becker sehr hübsch geeignet. Sie beobachtet scharf, hat durch ihre Stellung Gelegenheit, Menschen aller Stände vom Fürsten bis zum leib eigenen Kutscher kennen zu lernen, verfügt über ..ne für daS Frauen zimmer der damaligen Zeit seltene Bildung und bau ssim. Sie weiß sich zu bescheiden, aber sie ist „Philosophin" und selbstbewußt genug, um nicht vor jeder Kavaliersgnadc in Ehrfurcht zu ersterben. Aus ihren Erlebnissen und Erfahrungen soll Charakleristftches hier erzählt werden. Anekdotisches, aber gerade dieses illustriert mitunter eine Epoche besser als eine lange Abhandlung. Für st und Untertan. Der Vorfall, der cn Serenissimus von damals kennzeichnet, spielt im Jahre 1785. Er sei im wesentlichen mit Sophiens Worten erzählt. Ein junger, wohlgestalteter Mensch von guter, aber armer Familie, tritt bei dem Fürsten von Zweibrücken (Karl II. August Christian) als Jäger in Dienst. Nachdem er mehrere Jahre seine Pflicht getreu erfüllt hatte, schrieb ihm sein „lter Vater, er möchte Heimkommen und das kleine Gütchen übernehmen. Der junge Mann wendet sich an den Hofmarschall und der rät ihm, den Fürsten erst dann um seine Entlassung zu bitten, wenn dieser gut gelaunt sei. Er tut dies, wird aber abgewiesen. „Hat sein Vater so lange allein gelebt, so kann er sich wohl noch länger behelfen." Eine zweite mündliche Bitte hat denselben Mißerfolg, und so versucht es der Jäger mit einer schriftlichen Supplik. Diesmal erhält er zur Antwort, er (olle anderen Tages aufs Schloß kommen und seinen Abschied erhalten. „Ter junge Mensch, aanz erfreut, packt seine Sachen den Abend noch zusammen und bestellt sich aus den Morgen früh Postpferdc. Den anderen Morgen, als er zum Fürsten kommt, fällt er ihm zu Fuß und dankt für seine Gnade, versichert auch dabei, wenn er nicht den Willen eines rechtschaffenen Vaters durch seinen Abschied hätte erfüllen müssen, so hätte er sich glücklich geschätzt, in seinem Dienste zu bleiben." „Ja, er soll seinen Abschied haben!" ruft der Fürst mit einem so grimmigen Gesicht, daß unser Jäger zu zittern anfängt. Und nun treten auf des Fürsten Befehl einige Leute hervor, die ihn greifen, an Händen und Füßen binden, auf einen Bund Stroh werfen und nun seinen ganzen Leib auf die entsetzlichste Art zerprügeln, so daß der arme junge Mensch kaum so viel Kraft behält, sich nach vollendeter Exekution ins nächste Haus zu schleppen, wo er fünf Wochen auf dem Bette liegen muß." „Sobald er wieder aus dem Bette sein kann und über der Grenze ist, schreibt er an den Fürsten folgenden Inhalts: „Der Teufel in der Hölle konnte keinen besseren Abschied geben, als den Sie mir erteilt haben. Meine Gesundheit ist nun hin, dafür, daß ich einem alten, geliebten Vater gehorsam war. Abscheulicher Fürst, solange ein Blutstropfen in meinen Adern fließt, bist du vor meiner Racke nickt sicher: ich schieße dich tot, wo ich dir nur immer auflauern kann. Aber ich will nicht so niederträchtig, als du mich behandelt hast, handeln, son dern es dir voraus sagen, damit du auf deiner Hut sein kannst." Diesen Brief erhielt Serenissimus aus der Jaad. „Der Fürst erblaßt, eilt nach Haus« und hält sich drei Wochen in seinem Schlosse. Nachher ist ihm doch nichts begegnet, die Rache des jungen Menschen mag wohl ver rauscht sein." Charakteristischer kann das Wesen eines jener kleinen Despoten aus der Epoche des Seel«nhandels nicht geschildert werden. Und das geschah in einer Zeit, da Friedrich der Große und Joseph II. ihre Tyrone zierten. Erziehung. Basedow, der große Reformator des Gr- ziehungswesens, ist der Held der zwei kleinen Anekdoten, die Sophie zu erzählen weiß. „Es besucht ihn einmal jemand und wünscht seine Tochter Ennlie zu sehen. Basedow sagt ihm, sie hätte noch wegen einer Ungezogenheit gegen ihre Mutter zu büßen und dürfte die Gesellschaft nicht genießen. Der Fremde dringt aber sehr in ihn, weil er sich nicht lange aushalten könnte. Nun läßt er Emilie kommen und mit dem ersten Schritte ins Zimmer reicht er ihr eine Maulschelle, daß das Mädchen taumelnd aus dem Zimmer gebracht werden muß. — Als er sie nach Hamburg zu einer Anverwandten reffen läßt („um dort ihre Schulwissenschasten zu vergessen", gibt die Erzählerin boshaft als Grunb an), so gibt er ihr auch zum letzten Abschied eine ähnliche (Ohr feige) mit auf den Weg, um sie mit dem Eindrücke der väterlichen Ge- walt von sich zu lassen." — Auch ein Beispiel gemißbrauchter Disziplin. Sittlichkeit. Sophie Becker ist nicht prüde, sie scheut vor einem kräftigen Wörtlein nicht zurück und hat an pikanten Erzählungen eine gewiße Freude. Man wird an dem folgenden Histörchen sehen, daß sie nicht anklagt und nicht verteidigt, sondern zu erklären versucht. Man ist im Bade, in Brückenau, das dem Bischof von Fulda gehört und in dem es sehr lustig zugeht. „Eine junge, liebenswürdige Frau machte Elise die naive Mitteilung, daß es jetzt sckwer wäre, treu zu bleiben, indem die jungen Leute den Frauen gar zu sehr die Aufwartung mochten, und in der Tat wäre kaum eine, die nicht ihren Galan hatte. Sie wünsche nur, daß sic sich ferner bewahren könnte, sie liebe ihren Gemahl Wohl recht herzlich, aber sie hätte doch manchmal was von seinem Eigen sinne zu ertragen." Philosophisch fügt die Schreiberin hinzu: „Ich schreibe diese Lebensart in dieser Gegend der Menge von Domherren Zn, die in der Welt Gottes nichts zu tun haben, als ihre Präbenden zu verzehren, und da sie dem Ehestande entsagen müssen, ihr müßiges Herz zu beschäftigen." Einmal freilich ärgert ne sich, als sie in die Familie eines Sondershausener Regierungsrates kommt und dort den 21 Jahre allen Sohn kennen lernt, der vor kurzem auf Betreiben seines Vaters eine Frau von 76 Jahren, die sie zuerst für die Großmutter hielt, ge heiratet hatte. Er war ihr vierter Mann. Ta sagt sie hem vorsorg lichen Vater, der ihr die Gründe für diesen Schritt auSeinandersetzt, oujrichtia ihre Meinung. Gesellschaftliche Vorurteile. Eine Episode, die man deswegen amüsant nennen kann, weil sie durch Elisens Eingreifen zum outen Ende kommt, wirft cm Helles Licht auf die gesellschaftlichen und kirchlichen Zustände. Die „Schenkerin" des Gasthauses, in dem die Reisenden einkehren, liegt in Kindsnöten. Sie bat schon, als ihr Zu stand bekannt wurde, sechs Taler Strafe zahlen müssen, aber größeres Ungemach scheint ihr noch bevorzustehen. Ihr Liebhaber, ein blutarmer Handwerksgeselle, will sie zwar aus der Stelle heiraten, aber sie ist nicht mehr imstande, zur Kirche zu gehen. Wird aber das Kind vor voll zogener Trauung geboren, so ist es nickt zunfffähig, d b. zu einem eiepden Landstreicherleben verdammt. Aus Sophiens Frage, ob nickt de/ Pfarrer ins Haus kommen könne, wird ihr geantwortet, daß dieS zeyn Taler Strafe (Gebühr) an das Konsistorium koste — «ine un-
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