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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Handelszeitung : 26.07.1907
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1907-07-26
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id84535308X-19070726026
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id84535308X-1907072602
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-84535308X-1907072602
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Handelszeitung
- Jahr1907
- Monat1907-07
- Tag1907-07-26
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Abend-Ausgabe 8. Bezug--Prei» rip,Mr.TagMM Handelszeitung. Amtsblatt -es Rates und des Volizeiamtes der Ltadt Leipzig Nr. 205 Freitag 26. Juli 1907. für Le«p»ig und verorte durch iwierr Träg« und Spediteure tu« Hau« gebracht: «u«- »abe 1 (nur morgen«) vierteljLhrltch 3 M., monatlich l M : «u«gabe » (morgen« »ad »dend«) »ierteliLhrUch «.SO «., nunlatlich I SO M. Durch dir Poft bevgen (2 mal täglich) innerhalb Deulichlandt u der deuljchcn Kolonie» vtertrljLhrtich 5.T5 monatlich l.7b M. -urscht. Poftbeftellgeld. tilr Oesterreich S L «6 i> Ungar» 8 L VtertrljLhrtich. «bonnemenl-Annahme: Nuguftu«platz 8, bei unseren DrLgeru, Filtalr», Spedlteure» und Annahmestellen, sowie Postämtern »nd BriestrLgern. Die einzelne Nummer kostet IS stNH «rdaktlou uad »rpedtttoa: Johannitgasse 8. Lelepho» Nr. IE. Nr. I4S83. Nr. I«SVL verliaer «edakttvn« B»rran verlin 8VV. - Prin, Loui« Ferdinand- Straß« I. Telephon I, Nr. 9275. Anzeigen-Preis sstr Inserate au« Leipzig und Umgebung dt, 6a«spaltene P-Ntzelle 25 Ps., finanzielle «nzetgea 30 Ps., Rellamen I M.; »o» auswärts 30 Ps., Reklamen 1.20 M vom Ausland LV Ps., ftnanz. Anzeigen 75 Pf.. Reklamen 1.50 M. Inserate». Behärben im amtlichen Teil 40 Ps Bellagegebübr 5 M. p. Tausend exkl. Post gebühr. gleslbästSauzrigen an bevorzugter Stelle tm Preise erhSht. Rabatt nach Tarif. Feslerteiltc Austräge können nicht zurück gezogen werden. Für das Erscheinen an bestimmten Lagen und Plätzen wird keine Garantie übernommen. An,eigen-Annahme: U»gustu«platz 8, bet sämtlichen Filialen u. allen Annoncen- li;ped,tionen der In- und Auslände«. Haupt Filiale Berlin: ilarl Dunck:., Herzog!. Bahr. Hofbuch handlung, Lützowstraße 10. (Telephon VI, Nr. 4603). lvl. Jahrgang. Das wichtigste vorn Tage. * Die oldenburgische Staatsregierung hat beschlossen, in den nächstjährigen Etat zwei Millionen Mark für den Bau billiger Arbeiterwohnungen einzustellen. Der Uebergang der Häuser an die Arbeiter soll auf dem Wege der Erbpacht erfolgen. * Die internationale Zuckerkonvention ist gestern in Brüssel zusammengctreten. lS. Ausl.) * Bei den in Galizien verhafteten russischen Spionen sind den Genera Ist ab schwer belastende Schriftstücke gefunden. iS. Ausl.) * In Teheran sind bei der Jahresfeier der Verfassung Un ruhen vorgekommen. Die Bevölkerung fordert die Absetzung des angeblich trunksüchtigen Schahs. (S. Ausl.) Der vierte Akt. Koreas Schicksal erfüllt sich unaufhaltsam, seitdem seine Geschichte mit den beiden groben ostasiatischen Kriegen von 1894 und 1904 ihre Peripetie erlebt hat. Es war bezeichnend, daß beide Male zwar Korea als Motiv die allerentscheidendste Rolle gespielt hat, aber weder die Ko reaner irgendwie aktiv in die Entwicklung eingegriffen haben, noch auch nur das Land selber, um welches gekämpft wurde, den Schauplatz des Krieges bildete, sondern nichts mehr als die Kulissen darstellte^ hinter denen der japanische Aufmarsch vollzogen wurde. Die erste schlacht wurde beide Male an der Aalumündung geschlagen: dort, wo Korea zu Ende geht, und die Mantschurei beginnt. Korea spielt eine so schlechte Figur als dramatischer Held, wie nur irgend einer der „passiven" Cha raktere. Dem Vorhergcganaenen entsprechend, glauben wir auch nicht, daß das Aufbegehren der koreanischen Patrioten gegen das unabwendbare Geschick ihres Landes irgend eine ernstere Bedeutung gewinnen wird. Die ausgebrochenen Unruhen werden eine nichts befugende Episode bilden in dem gewaltigen Drama, dessen Inhalt die Begründung eines japanischen Festlandsreiches ist. Mögen selbst gefährliche Verwicklungen entstehen: mag daS Häuflein der Japaner in der Hauptstadt einer rasen den Volksmenge im ungleichen Kampfe erliegen, und die schwachen De tachements im Lande aufgehoben werden: ein nur um so größeres Röcherheer würde trotz obgeschnittener Drähte und gesperrter Wege —die ohnehin in so traurigem Zustande sind, daß sie kaum noch unpassierbarer gemacht werden können — in wenigen Wochen zurückkehren und ein um o gründlicheres Ende machen. Der vierte Akt der Tragödie würde um o schneller abgespielt werden: das wäre alles. Diejenigen Ent- cheidunaen, von welchen der Fortschritt der Handlung motiviert werden wird, fallen nicht in dem für kriegerische Großtaten ohnehin ungeeigneten Gelände, sondern in den Kabinetten der Mächte. Der Schatten der Selbständigkeit, dessen das sterbende Kaiser reich bisher noch genoß, ist jetzt auch dahin. Wir haben die aller wichtigsten Punkte des neuen „Vertrages schon mitgeteilt: den Ueber gang des legislativen Vetos und der Beamtenernennung vom Kaiser auf den japanischen Ministerresidenten, dem fast zum Ueberfluh außerdem noch ein Vorschlagsrecht für diese Ernennungen zugestanden wird. Eine heutige Depesche ergänzt die früheren Mitteilungen noch durch folgende weiteren Bestimmungen der nunmehr in Tokio amtlich bekannt gegebenen Konvention: Durch die Konvention wird das System der javanischen Beiräte der koreanischen Regierung abgeschafft, insbesondere auch die Stelle des Finanzbeirates, die bisher Megata inne hatte, der nunmehr koreanischer Beamter wird. Von dieser Abschaffung betroffen wird auch das Gerichtswesen, für das erst kürzlich Beiräte für alle Provinzen aus Japan eingetroffen waren. Das fahr fast wie eine japanische Konzession aus, die übrigens mit dem Beamtenmanael im Heimatlande begründet wird. Aber die Hauptbestimmungen des Vertrages sind von so entscheidender Bedeutung, daß Japan ohne Gefahr ein bereits besetztes Vorwerk wieder opfern durfte. Ueberdies wird schon angekündigt, daß auch das koreanische Heer unter japanische Führer gestellt werden, und Hayaschi an die Spitze des Stabes treten soll. Daß aber die Herrschaft über die Armee un endlich wichtiger ist als die Beherrschung der Gerichte, erscheint an sich klar. J-tschak hat aufgehört, Koreas Kaiser zu sein, mag er auch den Kaisernamen weitersuhren. Auch amtlich steht seit gestern folgendes verfassungsrechtliche Verhältnis Koreas fest, das die Diplomaten natür lich nicht in dieser rücksichtslosen Form in die Gesetzbücher hineinschreiben werden: „Korea wird von einem japanischen Vizekaiser regiert." Der Vizekaiser heißt Ito. Dev TLainpf um -us Sozialistengesetz. Aus den Briefen Rudolf von Bennigsens veröffentlicht Hermann Oncken in der „Deutschen Nevne" neuerdings mancherlei, was auf die Reichstagsauflösung des Jahres 1878 Helle Streiflichter wirft. Neber einen Besuch bei Bismarck in Kissingen schreibt v. Benda Mitte August 1878 an Bennigsen: Unser Fürst war, wie gewöhnlich im Familienkreise, persönlich überaus liebenswürdig und schien auch körperlich gekräftigt zu sein. Ueber die Wahlen sprach er sich, abgesehen von dem Aerger in Lauenburg und Kalbe-Aschersleben, leidlich zufrieden aus. Die Auflösung, das erfuhr ich hierbei, ist erst durch die Artikel in der „Kölner", der „Magdeburger Zeitung" und dem „Hannoverschen Courier" zur Reife gelangt — er gestand aber auf meine Inter pellation zu, daß er hierbei Ihnen keine Schuld beimesse. Jetzt habe sich gezeigt, daß man im Lande doch wesentlich anders denke wie im alten Reichstage; er hoffe auf daS festere Zusammenhalten der drei regierungsfreundlichen Parteien und wünsche nur, daß ein paar Dutzend Nationalliberale ausscheiden, die in den Fort, schritt gehören simmer das alte Lied). Meinen Einwand, daß dann die Majorität zweifelhaft werden könne, wollte er nach seiner Rech nung nicht gelten lassen. Im übrigen, das sagte er wohl dreimal, sei ihm das Fraktionswefen, konservativ oder liberal, völlig gleich gültig, heute mehr als je; er gehe seinen Weg; wer mit ihm gehe, sei sein Freund, wer wider ihn gehe, sein Feind — bis zur Ver nichtung. Komme man jetzt nicht zum Ziele, so könne man ja noch einmal und zum drittenmale auflösen; er wünsche daS nicht, aber man könne dazu kommen. Auf das Zentrum sich zu stützen, seine Absicht, noch halte er es für möglich; die Elemente des Zentrums, vor allem die Kapläne, seien für ihn unbrauchbar, auch wenn man ihnen die Fahne nehme, unter welcher sie föchten. Seine Bemüh- ringen um Verständigung mit Masella seien sehr ernstlich gemeint; aber letzterer könne ihm zurzeit wenig bieten, darin liege die Schwierigkeit, abgesehen davon, daß er eine bestimmte Grenze der Zugeständnisse nicht überschreiten werde; hierin brauche man ihn nicht scharf zu machen. Doch hoffe er, daß sich ein Llockus vivsocki finden werde, der wenigstens eine bessere Zukunft vorbereite. Aus den Briefen Bennigsens an seine Frau seien folgende Stellen mitgeteilt: Berlin, 11. September 1878. Bismarck kommt nach einer Mitteilung Falks, den ich aber nicht selbst gesprochen habe, am Sonnabend zurück. Falk hat ihn in Gastein ungemein nervös und aufgeregt gefunden. Er bildet sich jetzt ein — wenigstens hat er es Falk gesagt, natürlich damit wir es wieder erfahren —, wir hätten uns gegen ihn verschworen, ihn zu stürzen und mich an seine Stelle zu bringen. Für diesen teuflischen, weitangelegten und seit lange verfolgten Plan hat er Falk eine ganze Reibe von angeblichen Daten und Beweismitteln aufgeführt! Es ist in der Tat zu toll! Uebrigcns will er «ine Verhandlung mit mir haben, wenn er wiederkommt. und Falk scheint deshalb vermitteln zu sollen. Sobald er kommt, werde ich ihm und der Fürstin meine Karte zusenden, ganz wie gewöhnlich, im übrigen aber alles an mich kommen lassen. Berlin, 15. September 1878. Bismarck wird heute zurückerwartet, die Verhandlungen über das Sozialistengesetz beginnen morgen, und ich möchte doch auf alle Fälle in diesen Tagen hier bleiben, da man, wenn Bismarck an der Debatte teilnehmen sollte, auf jede Art von Zwischenfällen gefaßt sein muß. Der Schwerpunkt der Verhandlungen wird diesmal in die Kommission fallen und in die zweite und dritte Beratung auf Grund des Kommissionsberichtes. Die erste Beratung hat mehr den Charakter eines allgemeinen Redeturniers. Die national liberale Fraktion wird sich bei derselben möglichst reserviert halten, da ihr die Entscheidung schließlich zufallen wird und wir noch gar nicht wissen, was Bismarck eigentlich will, d. h. ob es ihm darum zu tun ist, ein Sozialistengesetz zustande zu bringen oder „uns an die Wand zu drücken", wie sein beliebter Ausdruck sein soll. Bei der ersten Beratung beabsichtige ich zu reden. Eine charakteristische Anekdote in dieser Richtung wird über ihn erzählt. Als er in Friedrichsruh die Nachricht von dem Nobi. lingschen Attentat erhielt, soll er in Gegenwart eines zum Bei' anwesenden höheren Beamten ausgerufen haben: „Jetzt habe ich die Kerle" und zur Erläuterung für den etwas verwundert aus. schauenden Beamten hinzugefügt haben: „Ich meine die National liberalen". Heute nachmittag wurden die hier anwesenden Mitglieder des Komirees für die Wilhelmsspende vom Kronprinzen empfangen; mit Moltke waren wir etwa zehn Personen. Moltke überreichte die Quittung der Seehandlung über die bei ihr eingezahlten 1734 000 Mark mit einer kurzen Ansprache, auf welche der Kron prinz antwortete und darauf zu jedem der Anwesenden noch einige sreundliche Worte sprach. Der Kronprinz sah ganz wohl aus und auch nicht so ernst, wie er neuerdings wohl geschildert ist. Moltke sagte mir, der Kaiser mache Neitübungen zur beabsichtigten Teil nahme an den Manövern, der linke Arm werde ihm beim Reiten wohl nicht hinderlich sein, aber es werde sich fragen, ob er die mit dem Reiten verbundenen allgemeinen Fatigen werde aushalten können. Hier wird vielfach angenommen, daß der Kaiser im Herbste die Negierung wieder übernimmt. Bei seiner jedenfalls großen körperlichen Schwäche und der bedenklichen Nachwirkung auf seine geistige Rüstigkeit würde das ein ganz selbständiges Regiment Bis- - marcks bedeuten. Daß Bismarck den Kampf um das Sozialistengesetz als einen Kampf gegen den Liberalismus führte, hat das Zentrum hochgebracht. Daß ihm das Fraktionswesen so „völlig gleichgültig" war, und daß er jeden, den er für seinen Feind hielt, „bis zur Vernichtung" bekämpfte, war eine Schattenseite Bismarckscher Staatskunst. Sie hat unsre innere Politik auf ungesunde Bahnen gedrängt, von denen sie heute noch nicht befreit ist. Deutsches Reich. Lei-zig, 26. JuU. eck. Der Kaiser und Fürstbischof Kopp. Der »Hann. Courier" meldet aus Breslau: Der Kaiser sandte dem Fürstbischof Kardinal Kopp anläßlich seines gestrigen 70. Geburtstages ein in bulcvollen Worten gehaltenes Handschreiben und ließ dem Jubilar seine Büste auö Marmor überreichen. Auch derReichSkanzler, der Kultusminister und der Minister beS Innern beglückwünschten in herzlichen Worten den Kirchensürsten. * Fürst Bülows Aufenthalt in Berlin zieht sich immer noch hinaus. Schon am Dienstag glaubte man die Abreise für Mittwoch Voraussagen zu können. Jetzt beißt es wieder, er werde m den »nächsten Tagen" nach Norderney zurückkehren. Grund der Verzögerung ist immer noch die Zahnwurzelentzünrung. Feuilleton. Die Männer haben gar zu selten eine adamitlsche Kraft, aber in jeder Mutter ist die Urmutter des Menschengeschlechts, ist die heilige Natur eingefleischt. Bogumil Goltz. * Arrr Naturgeschichte -er Aarriorra. Man unserem römischen k-Korrespondenten.j Die Kamorra läßt sich zuvörderst kennzeichnen durch einen Hinweis auf diejenigen Erscheinungen süditalienischen Lebens, die Unkundige mit ihr zusammenzuwerfen pflegen, auf die Briganten nämlich. Die Bri- ganten sind singuläre, eigenartige und auf eigene Rechnung und Gefahr nach durchaus eigenem Stil und Plan wirkende Individuen, die in einer gewissen systematischen Weise das Prinzip zur Geltung dringen, Macht gehe vor Recht. Die Briganten sind mit anderen Worten möglichst anti sozial, sind infolgedessen Leute von Mut und Entschlossenheit, sowie von ziemlicher Konsequenz des Denkens und Handelns. Sie gedeihen naturgemäß vorzugsweise in ländlichem Milieu, und ihr ganzes Ge baren erklärt sich in der Regel als eine kontinuierliche Reaktion auf mehr und minder verschuldete böse persönliche Erfahrungen mit den Or ganen von Gesetz und Recht. Sie haben ein entwickeltes Selbstbewußtsein: der sizilianisch« Brigant Salamone schrieb Memoiren, in denen er außer Persönlichem politische und soziologische Gedankengänge entwickelt — „die Polizei", so heißt es bei Salomone unter anderem, „ist die Syphilis der menschlichen Gesellschaft; das italienische Gefängnis ist gleich der Cholera, die die Bevölkerung dezimiert; die italienische Regierung ist Protcktorin der Schurken und Bösewichte; die derzeitigen Regierungen verstehen überhaupt nichts weiter, als Inquisitoren und Tyrannen zu sein und die Existenz eines Menschen einem anderen Menschen auszuliefern. Armes Italien, wohin bist du gekommen? Wohin wir uns wenden, finden wir nur Dornen, und wessen ist die Schuld? Unser ist die Schuld, denn wir lassen es unS gefallen, und bilden keine, von den Regierenden und den Priestern nicht beeinflußte Vereine; wenn die italienische Regierung ihre Offiziere um so mehr mit Orden versieht, alS sie Leute im Kriege ermorden, müßte sie mehr als alle mich auSzeichnen, und zwar nicht mit einer Medaille, sondern mit einem Lorbeerkranz." Musolino erging sich bekanntlich mit Vorliebe in akademischen Er wägungen; der kürzlich auS dem Hinterhalt erschossene Brigant Parisi von Salerno machte Verse voller Ironie auf die Gesellschaftsordnung und ihre Hüter, wie auch daS letzte von ihm gesprochene Wort, als ihn die Kugel der Karabinieri traf, lautete: „Feiglinge!" Leider sind die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in Suditalien in der Tat von den berufenen zentralen und lokalen Regierungsstellen gründlich ver- nachlässig» und dem Belieben der Latisundienbesitzer und anderen Ka pitalisten ausgeliefert, so daß oppositionellen Geistern und den die Op position betätigenden Akten m hohem Grade recht gegeben werden mutz. Wie aber jede sich in gedanklicher und praktischer Negation erschöpfende Opposition auf Abwege und in die Irre geraten muß, so wird auch das persönlich motivierte oder idealisierte Brigantentum oo ipso zu einem in Wahrheit blutigen Hohn auf sich selbst, zu einem Widerspruch in sich, der wegen seiner Praktischen Kontraste die radikale Bekämpfung heraus fordert und verdient. Die Kamorra ist all das, was von den Briganten auSgesagt worden ist, nicht. Sie ist ein Kolleklivbcgriff für Individuen, die miteinander in einer die individuelle Eigenart und Initiative beschränkenden und bestimmenden Organisation verbunden sind. Die Kamorra stellt kein Prinzip dar, sondern ist eine Folgeerscheinung und ein Koeffizient be stimmter sozialer Lebensverhältnisse, sowie selbst naturnotwendig und absichtlich sozial und ohne eigene ideelle Prätentionen den Vorgängen in der Gesellschaft sich anpasscnd. Tas Milieu der Kamorra ist vor zugsweise die Stadt mit intensivem Verkehr und mannigfaltigen öffent lichen und privaten Interessen, die nicht immer legitim oder eindeutig sind, so daß zu ihrer Durchsetzung und Ausgleichung obskure Kräfte reichlich in Anspruch genommen werden und Raum zu einer dauernden und eigene Zwecke verfolgenden Existenz finden. Diese Zwecke sind na türlich ausschließlich illegitime und ausschließlich egoistische, was aber nicht hindert, daß die Kamorristen es in ihrer Verfolgung zu hohem Raffinement und einer technischen Virtuosität bringen, in die sie sich mit meridionalem Stolz und Temperament bis zu dem Grade verlieben, daß eine spezifische Standesehre und dauernde Standessitten der.Kamor risten sich ergeben. Die neapolitanische Kamorra, als die vollkommenste ihres Typs, rühmt sich einer Geschichte, die phantastischerweise auf die „klassische" Periode der Ritter zurückgeht. Immerhin mag sie einen nicht bloß ideellen, sondern effektiven Zusammenhang mit dem spanischen Raud- rittertum besitzen. Tas Wort „Kamorra" wird auf das kastilianische „kamora" zurückgefübrt, und die ckebertragung soll geschehen seiu, als sich die Spanier in Masse im Reiche der beiden Sizilien niederlietzen. DaS kastilianische „kamora" bedeutet eigentlich „Anfechtung": wenn zwei einander einen Besitz streitig machen^ mischt sich ein stärkerer Dritter ein und entscheidet salomvnischerwelse derart, daß er dem einen etwas und dem anderen auch etwas, den Hauptteil der Streitsache aber sich selbst als Recht der Kamorra zuspricht. Die wesentliche Aufgabe, der Lebensinhalt der Kamorra, ist in der Tat auch heute noch eine „An- fechtung", eine so oder so motivierte und in mannigfaltiger Weise in die Erscheinung tretende selbstsüchtige Einmischung in fremde Verhältnisse, Rechte und Güter, mit anderen Worten eine planmäßige Erpressung durch Gewalt oder Drohung. Tie neapolitanische Kamorra ist von der Erpressung auch hcruntergestiegen zum gewöhnlichen Diebstahl, zur Aus- Nutzung der weiblichen und männlichen Prostitution, zur Besteuerung der Spielhöllen, zur Bewucherung von jugendlichen Personen aus reichen Familien. Und während der Kamorra früher eine gewisse Vor nehmheit, der ein gewisser öffentlicher Respekt entsprach, eignete, ist sie beute nicht mehr wählerisch in Zwecken und Mitteln und von Achtung ist nicht mehr gegen sie selbst, sondern höchstens gegen einzelne ihrer Chefs wegen ihrer persönlichen Macht noch diq Rede. In den „klas sischen" Zeiten bestand die eigentliche Kamorra auch nur aus wenigen auSgewählten Personen, die nicht selber erpreßten und stahlen, sondern erpressen und stehlen ließen — natürlich im Sinne und mit den An sprüchen von Unternehmern gegenüber ihren Angestellten. Auch heute heißt freilich die Kamorra in Neapel die „cmorata scxüstL", und auch heute hat sie natürlich ihre Hierarchie, wenngleich die Promotionen der Kan didaten nach minder strengen Kriterien geschehen, wie früher. Da die Kamorristen Leute sind, welche sich gut kleiden, gut essen, vorzügliche Zi garren rauchen, Freunde und Freundinnen haben, so sind unter den Rekruten der Kamorra auch die Söhne guter Familien. Im allgemeinen kommt es darauf an, daß einer eine Rebellion gegen die Staatsgewalt oder eine Bluttat oder sonst ein mutigeres Delikt mit oder ohne Ge fängnisstrafe aufzuweisen bat, damit er auf Empfehlung und unter Patenschaft eines „verdienten" Kamorristen vom Kollegium als „aeuxmirro" angenommen werde. Der Neophyt wird Karriere machen wollen und wird, wenn er ein tüchtiger Kerl ist, bald den Grad eines „tsmburo", endlich den eines „pieoiuotto 's sg-nimo" und „piaeiuotto onorato", endlich den eines „aaraorristL onorario" erlangen. Hat er Fähigkeit zur Organisation und Administration erwiesen, so wird er ein „csmorrist« proprietario" (Eigentümers, sodann, wenn einer der den zwölf Bezirken Neapels entsprechenden zwölf Posten frei ist oder es sich sonst machen läßt, Distriktschef, „aupiatriao", und unter seltenen Chancen Oberpräsident, „cmnintestL". Tie Organisation der Kamorra vermöchte nicht zu funktionieren ohne Disziplin, ohne blinden Gehorsam der in der Hierarchie Unteren gegen die Oberen. Das Statut der Kamorra, das „Frteno", sieht in erster Reihe vor den absoluten Gehorsam eines jeden Mitgliedes gegen seinen Vorgesetzten, die Bewahrung des Geheimnisses über alle sozialen Angelegenheiten, die Unterlassung jedweden direkten oder indirekten Verrats der Komplicen an die Behörde. Wer bei der Polizei denunziert, so sagt das Statut, oder wer, wenn er zu Recht oder Unrecht verhaftet und verurteilt ist, seine Komplicen oder die wahren Schuldigen verrät, dem wird der Prozeß gemacht, er wird als infam erklärt und zum Tode verurteilt, zur Vollstreckung des Urteils werden Erekutoren delegiert und von Zeugen begleitet, die dann darüber zu berichten haben. Für Prozesse gegen ihre Angehörigen bat die Kamorra zwei Tribunale vor- geseben: Bezirksgerichte und das Obergericht. Vor einem Jahre hat das Obergericht ein solches Urteil gegen Cuocolo und seine Frau gesprochen, weil sie, die die Hehlerei und Ver silberung der Beuten zu besorgen, und wegen der unbefriedigenden Be sorgung Bedrohung erfahren hatten, ein paar Kamorristen bei der Po lizei angezeiat baden sollten. Man fand Cuocolo vor dem vesuvianischen Tore Neapels von 44 Dolchstichen und von starken Stockschlägcn über den Kopf getötet, sowie seine Frau in ihrer Wohnung gleichfalls mit 40 Dolchstichen. Der Fund nötigte leider die Polizei, sich mit den Herren Aa- morristen näher zu befassen, als sie es sonst liebte, und es mußte ihr gelingen, eine große Anzahl von ihnen zu fassen und. wenngleich der anointeot» Erricone sich aus dem großen Teiche -wischen Europa und Amerika befand, das Hauptquartier der Kamorra bis auf weiteres hinter die Gefängnismauern zu verlegen. Leider sagte ich. Denn die Polizei steht mit der Kamorra, zu der, wie man in der letzten Zeit mit Präzision erfahren hat, auch Deputierte,
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