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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Handelszeitung : 03.08.1907
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1907-08-03
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id84535308X-19070803029
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id84535308X-1907080302
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-84535308X-1907080302
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Handelszeitung
- Jahr1907
- Monat1907-08
- Tag1907-08-03
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R.) * Das französische Ministerium ist gestern, wie aus Paris gemeldet wird, einstimmig dahin schlüssig geworden, daß es sich empfiehlt, sich mit der spanischen Negierung bezüglich einer sofortigen Landung von Truppen in Casablanca, sowie bezüglich der zum Schutze der dortigen Europäer nötigen Maß nahmen ins Einvernehmen zu setzen. Die Minister sind ent schlossen, sich streng an die Algeciras« kte zu halten. (S. Ausl.) * In Königsgrube beiMittelbexbach sind, wie uns ein Privattelegramm aus Landau meldet, infolge einer Schlag wetterexplosion achtzehn Bergleute getötet, ein Steiger und zehn Mann schwer verletzt worden. * InImoliany (Gouvernement Mohilew) sind, wie uns ein Privattelegramm aus Warschau meldet, 140 Wohn häuser, 75 Verkaufsbuden, sowie die Kirche und Syna goge Niedergebra n'nt. Mehrere Menschen sind umgekommen. Die politischen Beamten. Durch den Kriegsruf Friedrich Naumanns ist der halbverschollene Beamten-Erlaß vom 4. Januar 1882 auf einmal wieder zum Tages gespräch gemacht. Die Gegner in allen Lagern stellen sich zu glauben, als ob nunmehr für die Grundsatzlosigkeit des Liberalismus der Beweis crvrackt sei: viesclben Liberalen, die den Erlaß in seiner Geburtsstunde auf das allerhestigste bekämpft hätten, begehrten jetzt das verschrieene Werkzeug der Reaktion im Kampfe gegen die Reaktion gebrauchen. Aber auch die wohlmeinenden Freunde Naumanns auf der liberalen Seite, sogar die Schriftleitung derjenigen Zeitung, in welcher der Nau- mannsche Artikel erschienen ist, rücken' von dieser „Entgleisung" so ent schieden als möglich ab. Die Frage ist gar nicht richtig gestellt, wenn man die Hal tung der Liberalen bei der Verkündung des Erlasses der Prüfung seiner bentigen Berechtigung zum Grunde legen will. Es ist völlig richtig, daß am 4. Januar 1882 die Entrüstung im ganzen liberalen Heerbann hell ausflammte. Es ist aber eben so richtig, daß der Kampf nach einer heftigen Kanonade in den Parla menten gegen den gerade in jenem Zeitpunkt stark rückläufigen BiS- marckichen Kurs überraschend bald eingestellt wurde. Einmal war für die verfassungsmäßige Begründung des Erlaßes auf der Stelle vom Reichskanzler der Beweis erbracht. Dann aber mochten auch Wohl die liberalen Parteien sich erinnern, daß eben ihre Forderung „politischer Beamten" seinerzeit der Nagel zum Sarge des „Ministeriums der neuen Aera" geworden war. Dürfen auch Rück sichten der Pietät für Meinungen des älteren GeschlechieS im politischen Leben keine Rolle spielen, so ist doch eine Kontinuität der Prinzi pien so lange mindestens wünschenswert, als ein Prinzip nicht durch die deutliche Erkenntnis seines Fehlerhaften verurteilt ist. Die Frage der „politischen Beamten" ist aber ein im höchsten Sinne grundsätzlicher, keineswegs ein „unbedeutender Nebenpunkt" in den Auslastungen Naumanns, welche die Veranlassung zu den zeitigen Er örterungen gegeben haben. Es ist sogar ein dringendes Bedürfnis geworden, daß der Libera lismus sich mit dieser Frage einmal entscheidend auseinandersetzt und nicht länger durch widerspruchsvolles Hin- und Herschwanken der Polemik seiner GegrM Argumente in die Hände spielt. Die Ursache der Unsicher heit im UrM über diese Frage liegt sogar sehr tief. Der deutsche Zeitungsschau. Die Kaiserbegegnnng von Swinemünde wird natürlich von der deutschfeindlichen Presse des Auslandes trotz aller offiziösen Hinweise auf den streng privaten Charakter des Besuches mit mißgünstigen Augen angesehen. Eine russische Stimme haben wir schon verzeichnet. Natur- Liberalismus hat keine nationale Geschichte: er schaut auf Schritt und Tritt nach ausländischen Vorbildern und empfindet selber nicht die Planlosigkeit seines Meinen« und seines Tuns. DaS ist nicht der geringste Grund seines Rückgangs, seiner Verkümmerung geworden. Wir müssen über diese Periode Hinwegkommen. Wir müssen end gültig unS entscheiden, ob wir «iue Weiterentwickelung im Sinne der französischen Form des bureaukratischen Liberalismus an streben wollen oder eine Ausbildung der vorhandenen An sätze zur Selbstverwaltung nach englischem Vorbilde. An der Vermischung beider Prinzipien krankt nicht bloß die heutige liberale Partei, sondern unser ganzes Staats wesen. Wir besitzen im Augenblick keinen der Vorzüge deS einen oder des andern Systems. Wir haben im Grunde ein politisches Beamten tum, aber ausschließlich von der konservativen Richtung. Die liberale Halbschicht dieses Standes, die in Amerika, in Frankreich und in den übrigen Festlandsstaaten deS konstitutionellen Systems abwechselnd zur Herrschaft berufen wird, ist bei unS nicht nur zeitweilig vom StaatSruder ausgeschlossen', sondern existiert nicht ein mal. Der ganze Nachwuchs unseres Beamtenkörpers ist einseitig auf die konservative Weltanschauung festgelegt, nach dem seit vielen Jahrzehnten — durch die Gewohnheit, nicht durch das Gesetz — die liberalen Elemente von der Anstellungsfähigkeit ausge schlossen sind. Unser schweres Gebrechen ist eine nahezu geschlossene konservative Parteihrrrschast, die schier um so gefährlicher wird, als sie nicht mit der Brutalität einer ausgebildeten Oligarchie in die Er scheinung tritt. Wer dars's der liberalen Richtung verargen, wenn auch sie endlich einmal an die Staatskrippe gelangen und ihre Ten denzen mit derselben Rücksichtslosigkeit geltend machen will wie die heutigen glücklichen Besitzer? Auf der anderen Seite widerstrebt unser germanischer Geist einem geschloffenen Parteiregiment mit einer solchen Entschiedenheit, daß die öffentliche Meinung mit immer wachsendem Nachdruck ausbegehrt gegen alle Maßregelungen sogar solcher Beamter, welche den extremen Oppo sitionsparteien „direkte oder auch indirekte Unterstützung" zukommen lassen — wie die Formel lautet. Die öffentliche Meinung fordert Gedankenfreiheit auch für die Beamten! Selbst der Liberalismus hat die Entfernung der „Kanal-Rebellen" seinerzeit mißbilligt, trotzdem sie zur Begünstigung einer liberalen Forderung geschah. Wir müssen einen definitiven Entschluß fassen, welchen Weg wir gehen wollen. Und die Entscheidung kann nicht schwer fallen. Der Liberalismus würde sich mit dem deutschen Volksgeiste in einen unheilbaren Zwie spalt setzen, wenn er eine liberale Gesetzgebung mit den Mitteln der Reaktion durchführen wollt». Selbst Yen nicht einmal sicheren Erfolg gouvernementaler Wahlarbeit vorausgesetzt, bliebe er ein EintagSerfolg, die liberale „Aera" wäre ein TreibhauSgewächS einer momentanen günstigen Konstellation, daö beim ersten Sturm verdorren müßte. Die Zukunft ganzer Jahrzehnte würde einem kurzen Sonnentage geopfert. NaumanuS Irrtum ist aus seiner staatssozialistischen Grund anschauung hervorgegangen. Wir haben natürlich seine Vorschläge so aufgefaßt, daß die gouvernementale Wahlarbeit durch einen liberal gesinnten Beamtenkörper geschehen sollte, für den, wie schon bemerkt, sogar die Anwärter schwerlich in genügender Zahl aufzutreiben wären. Daß Naumann nicht daran gedacht haben kann, diese Arbeit mit der heutigen politischen Beamtenschaft zu macken, ist an sich klar. Der Gedanke an ein solches sscriürio äell' intelletto hieße eine Beamten beleidigung. lich darf die Times sich nicht ausschließen, wo es gegen Deutschland zu Hetzen gilt: Der Petersburger „TimeS'-Korrespondent erklärt, der politische Charakter der Kaiserbegegnung bei Swinemünde sei offenkundig, und zwar wegen der Anwesenheit des Ministers JSwolSky. Der Korrespondent sagt, daß die fran zösisch-russische Allianz nebst den ihr entspringenden Ententen mit England und Japan unmodifiziert bleiben, und daß mittel- und ostasiatische Komplikationen ausgeschlossen sind. Dagegen lägen Gefahren im nahen Orient vor. Es sei offenes Geheimnis, daß die österreichische Diplomatie die Gründung eines neuen Dreikaiserbundes betreibe, dessen erklärter Zweck die Wahrung dynastischer Inter essen sei, während sein wirkliches Ziel wäre, das Monopol deS Einflusses im nahen Osten den beteiligten Mächten zu sichern. Die Urheber des Planes betrachteten die englisch-russische Annäherung mißgünstig. Bon inländischen Begrüßungen des russischen Gastes haben wir die der „Nordd. Allg. Ztg." bereits abgedrnckt. Die „Franks. Ztg." schreibt: Nähern wir uns Rußland so weit, daß eine neue osteuropäische Mächte gruppierung entsteht, die sich der westlichen entgegenstellt», so würde unS die Gegnerschaft Englands vermutlich noch empfindlicher werden, ohne daß unsere Sicherheit sehr zunähme. In einem Konflikte mit Frank reich, England und Japan könnte Rußland uns kaum sehr viel helfen, da seine Seemacht vernichtet und seine Hilfsmittel erschöpft sind. Eine An näherung an Rußland, die auch nur entfernte Möglichkeiten eines militärischen Bündnisses zuließe, scheint unS daher keineswegs im deutschen Interesse zu liegen. Nur soweit dürft« man sich mitPeterSburg ver ständigen, daß die Gefahr einer engeren Anlehnung Rußlands an die West Mächte und Japau unS erspart bleibt. Wenn die Aussicht nicht trugt, die dem ferner stehenden Beobachter nach den höchsten Gipfeln der hohen Politik vergönnt ist, so wird in der Tat die Kaiser-Entrevue sehr friedfertige Ergebnisse haben. Welche soll aggressiv fein von den beiden Regierungen? Die deutsch« Weltpolitik hat sich, nach dem Rausch der ersten Blutenträume, anscheinend auch im Zentrum des Reichs wieder auf die Nüchternheit besonnen, dir uns ansteht und durch die wir etwas ge worden sind. Wirtschaftlich kann Deutschland in der ganzen Welt Eroberungen machen; politisch liegen seine Aufgaben ganz überwiegend auf europäischem Boden. Auf den Gedanken, das Reich im Gelben Meer zu verteidigen oder ähnliche Phantasien wird heute kein einziger verantwortlicher Mann bei uns verfallen. Auf der anderen Seite scheint man auch in Rußland sehr friedlich gestimmt zu sein. Die Reaktion ist in der Macht, aber rS ist eine Reaktion, die nur ihr bißchen Leben haben will und weiter nicht viel denkt. Ruhe, und nicht Gloire ist die Losung der Autokratie. Bei Lieser Stimmung seiner Ratgeber, die seiner eigenen wahrscheinlich ganz entspricht, würde sich der Zar schwerlich auf weitanssehende Vereinbarungen rinlaffen, selbst wenn man sie ihm vorschlüge. Tas aber ist gar nicht anzunrbmen. Ter Sommer wird noch mehr Monarchenzusammenkünfte bringen. Bor allem wird auch König Eduard in den nächsten Tagen den Deutschen Kaiser in WilhelmShöh» besuchen, ein erwünschtes Ereignis, da die höfischen Spannungen dann um so sicherer und bälder schwinden werden. Ob dieser Besuch des Onk»lS etwa in einem Zu- sammenhange mit der Besserung unserer Beziehungen zu Rußland steht? ES ist beinahe seltsam, eine wie große Rolle auch in unserer Zeit noch in der Politik diesen dynastischen Beziehungen und Menschlichkeiten zukommt. Wenn sich indessen die Könige Besuche machen, so ist nichts dagegen einzuwenden; sie können Schlimmeres tun. Das „Berl. Tagebl." bespricht die Zusammenhänge der zwei kaiserlichen Aussprache über Rußlands innere Lage: ES ist dann auch noch besonders, und mit möglichstem Nachdruck, erklärt worden, der Kaiser beabsichtige keineswegs, sich in die inneren Verhältnisse Rußlands eiinumischen und dem arg bedrängten Zaren irgendwelche Ratschläge zu erteilen. Diese Erklärung war gewiß gut gemeint, sie entsprang den besten Absichten und soll den ebenso törichten wie böswilligen Leuten das Handwerk verderben, die nach der Entrevue von Bjoerko jede reaktionäre russische Maß- regel auf den Deutschen Kaiser zurückführen wollten. Aber so gut gemeint und so trefflichen Motiven entsprungen jene Versicherung auch ist — niemand wird glauben können, daß die beiden Monarchen sich durck irgend eine Programm- regel gebunden fühlen sollten. Die beiden Monarchen werden, das ist mehr als wahrscheinlich, auch ein wenig über Rußland sprechen, aber der Kaiser wird dem Zaren dann schwerlich zu einer reaktionären Politik, zu einer Politik stumpfsinniger Unterdrückung raten. Wilhelm II. ist, trotz vereinzelter Anwandlungen, gewiß kein liberaler Monarch, und sein Auto- ritätsßefühl ist sehr stark entwickelt — aber er empfindet bet alledem modern, lebt in einer anderen Lust, als der eingeschlossenr Zar, und kann mit dem „Verbände der echt russischen Leute" unmöglich sympathisieren. Will man einen Feuilleton. Wo ist ein neuer Gedanke, wenn er auch noch so schön ist, der Seelen voll Vorurteilen nicht verdächtig vorkommt? Wilhelm Heinse. An -er finnischen Grenze. Ein Reisefragment. Von Petersburg führte in das nahe Finnland eine große Chaussee; ihrer Linie folgte in nicht breitem Abstand die Bahn. Straße und Damm waren die deutlichen Grenzen, zwischen denen sich die Städter, die nicht die Kolonien am Strande bevorzugten, unter Birke und Kiefer ihre Blockhäuser und holzgefügten Villen für den Sommer bauten. An heißen Tagen gab es auf der großen Chaussee ein Bild von orien talischen Ahnungen. Das ließ reine Ruhe, bis man fand, was es fremd artig machte. Die eine Seite war eine Front von Gittern, von Gärten und Häusern, hinter denen der Zusammenhang der Siedlungen bis zum Bahndamm ging — diese Seite bot nichts Besonderes. Aber die andere, gegenüber, hatte keinen Aufbau hinter sich, dort begann sogleich das freie Feld, und sie war, eine halbasiatische Begleitung der europäischen Front, eine maßlos auseinandergezogene Linie, in der Holzbude neben Holzbude, die Wirtschaften alle und all die Magazine standen — ein Basar fast, lückenlos, der stundenlang bis zur Hauptstadt des Zaren führte. Gegen Abend fuhr ich mit den russischen Freunden, die mich an der Bahn abgeholt hatten, in einem Landauer auf die Chaussee hinaus, die schon in der breiten Wucht warmer Abendschatten lag. Wundervoll ist es, eine fremde Welt zum erstenmal zu sehen. Man ist in einem Augenblick in sie versetzt, die so lebhaft von je, auch ohne uns, bestand, und gleichwohl nur auf uns gewartet hat, um Wirklichkeit zu werden. Die Geheimnisse, die sie bergen wird, klingen doch schon Halo vertraut; menschlich und liebenswert ist jeglicheS: alle Sinne, aller Hunger nach dem Leben drängen dazu, in einem Blick sich vollzusaugen, nichts zu übersehen, viel zu begreifen. Romanhaft ist das und birgt den Schmerz, Gestalt gewinnen zu müssen. Soldaten und Bauern, Händler und Bettler drängten sich auf der Seite der Basare; aber in ihre Aufgeregtheit tönten von gegenüber in regelmäßigen Pausen Rufe, die melancholisch oder komisch, singend oder eintönig waren. Große Männer in roten Blusen und weiten Schür zen schritten im eiligsten Lauf die Häuser entlang und trugen aus dem Kopfe in Tuch geschlagene Bündel. Einer von meinen Freunden sagte, baß es Fruchtverkäufer und Krebshändler seien, die zu den reichen Leu ten in die Häuser gingen; aber wenn sie auf der seltsamen, endlosen Chaussee die Gitter entlang strichen und Rufe in unbekannter Sprache ausstießen, waren sie wie die Packträger in arabischen Märchen, die vor verschlossenen Häusern einen geheimnisvollen Fund feilbieten. Alles war wie das Leben auf einer Karawanenstraße; selbst der große Ueberlandtelegraph, der draußen das freie Feld überspannte, hatte ein Aussehen, als sei es ein moraenländischer Heerweg, den er durch die Wüste in eine Hauptstadt begleitete. Kilometer um Kilometer lcgte der Wagen zurück und überholte viele flüchtige Dinge. An einer Ecke sammelten sich Menschen um eine Zigeu- neroande, die ein Kamel, einen Affen in rotem Samt und eine Dreh- orgel zusammengebracht hatte. Das Kamel kaute, der Affe saß ihm zwischen den Höckern, der Mann drehte die Orgel und ein Weib sang eine Begebenheit dazu — dann riß der Affe das Käppi und bettelte so gut wie Mann und Frau. Weiter ging die Fahrt, einer Staubwolke entgegen, in sie hinein. Mit hoben Mützen und in Mänteln von schmutziggrauem Sacktuch, jagt eine Abteilung Kosaken vorbei. Tie kleinen Pferde warfen den Kopf zurück, Schaumflocken fielen von Gebiß und Bug, und ihre Augen waren gespenstisch wie bei den Stuten des jüngsten Tages — Hyänenhaft standen die Reiter vorgebeuat im Sattel, und von ihren schlaffen Armen hing die Bleipeitsche herab. Alles raste im Galopp auf dieser Chaussee; zu- letzt am Abend trunkene finnische Bauern, die aus der Hauptstadt heim kehrten und sangen. „Wir sind angekommen!" sagte man. Ein Gittertor ward weit geöffnet, in einem sausenden Bogen fuhr man ein, einen geschweiften Rasen halb umkreisend. Der Freund aus dem fernen Westen ward begrüßt. Durch die Bäume hinter der Holzvilla traf mein Auge über -inen sich senkenden Garten auf eine Helle Wasserfläche. Dios« letzte der Sommerkolouien war reizvoller als die anderen, denn sie war mannigfaltiger. Da beitete sich zwischen Bahn und Straße ein See, den man mit einem Blick umfaßte. Ein schmaler Saum von Gärten fand noch Platz, und hinter ihnen, in einen Kreis gestellt, die Villen. Ta war man ferner von der Stadt, man war geborgener vor ihr, denn es lagerte sich zwischen der Station und den Basaren ein Höcker vor; den wuchsen vom See aus unter schlankesten Kiefern die Denkmäler eines Kirchhofes hinaus, leuchtend in dem Teppich dichter Nadeln — oben glänzten der Himmel und die blaue Zwiebelkuppel einer griechischen Kirche in Weiß und Gelb. Zwischen den steilen Stämmen bewegten sich beständig Figuren; gläubige Beter neigten ihre Demut vor den Gittern der Gräber, und Popen, die christusähnlichen Priester mit dem unberührten Haar, ver richteten Zeremonien vor brennenden Lampen, die in Weihrauchwölkcken schwammen. . . Ai den Gärten, die ganz flach in das Ufer eingebettet waren, blühten die Geranien so rot, leuchtete das Hellgrün des Gesträuches so zärtlich wie anderswv, nur im Park, dicht am Herrenhause, standen Birken, die Weißen, schlanken, frauenhaften Bäume. Ter Sommer war kurz, heftig und heiß. Aber es mil derten ihn die Winde, die vom nahen Meere wehten. Dann setzte sich der See in Bewegung, und wie der weißflockige Kamm eines aben teuerlichen Tieres kam es auf weinfarbenen Wellen vom anderen Ufer, ein geschlossener Streif, der untertaucht, sich näher wälzt, ein Stück durchschwommen hat. Und an den Abenden baute sich am Horizont von geballten Wolken eine Mauer auf, graublau und feindlich; märchenhaft, wie sie maßlos war; Urberge, aus denen Brünhildens Feuer lohten. Aber voran flatterten, wie kokette Seidenbändchen, rosig gebräunte Puttenwölkchen. Der Tag starb damals nie, so nah am seeäugigen Finnland; um Mit ternacht saß man noch ohne Licht auf der Granitterrasse über den flachen Gärten. Die Tore nach der Chaussee waren geschlossen, und man über ließ sich, den See vor Äugen, ganz dem, was abendlich, gelöst und lind an Gedanken kam. Das war goldbraun und warm wre die flatternden Wölkchen, pathetisch und sieghaft wie der Ritt des Helden zur Walküre, sicher und oberflächlich wie der Laus der Jachten, deren weiße Segel gleich aufgerichteten Schmetterlingsflngeln auf dem nächtlichen Spiegel standen. Drüben stieg am Ufer hoch und elegant eine Rakete in die Lust und ein letzter Zug rollte phantastisch vorbei. Dann empfanden die Menschen eine plötzliche Kühle und erschauerten, wenn irgendwo im ebenen Land ein Hund in die Nacht bellte. Nie kehrt man gleich zum Täglichen zurück und ist traurig geworden über Stunden, in denen das Leben einfach und gütig, die Jugend und die Zukunft voll Glanz sind. Und ich hatte an diesen Abenden eine kleine zärtliche Freude, daß ich nachher noch eine Stunde aufbleiben werde, um die poetischste aller Zigaretten, des TageS letzte, zu rauchen, — allein auf dem Zimmer, wenn nur noch eine Kerze brennt und alle Ecken düster ssind: bloß noch ein Spiegel ist im Hintergrund«, ein schlankes Lich - Statt im Lande der Tat jdenn ich war gekommen, um ein Stück einer Revolution zu erleben), war ich in einem zauberhaften und gebannten Reich der süßen Untätigkeit, der verträumten Sommernächte. Es war alles so gleich gültig — nein, das war nicht das rechte Wort: es schien alles, was ein ganzes Volk «n seiner Verzweiflung tat, so unverständlich. Ich hatte nur einen Wunsch, noch lange so die Tage in dem traumhaften Nichts tun hinzubringen und die Abende auf der Terrasse zu sitzen, um die Gedanken sich verschieben zu lassen, wie die Wolkenwände sich verschoben — und dann ruhten He auS, wie die regungslosen Schmetterlingsflügel der Segel auf dem See. . . . Die Kerze im Spiegel war tief herabgebrannt und flackerte im Windzug, der durch das offene Fenster und die Gardinen strich. Nun war es in der Nachmitternacht, und draußen war die Helle eines sommer- . nachtschlafenden Parkes, als schon alle Dinge sich einem zärtlichen Sonn- -tagsmoraen entgegenneigten. Ich wollte das Licht löschen und hatte meine Gedanken, sie nur noch leicht und losgelöst über dem Lebenden schwebten, zum ersten Male dorthin schweifen lassen, wo die Ge-
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