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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Handelszeitung : 07.08.1907
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1907-08-07
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id84535308X-19070807026
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id84535308X-1907080702
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-84535308X-1907080702
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Handelszeitung
- Jahr1907
- Monat1907-08
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Fürst Bülow ist über Berlin nach Norderney zurückgekehrt. * Naumann dementiert telegraphisch die Erzählungen von einer Vereinbarung mit der Regierung über die preußische Wahl rechtsreform. lS. Dtschs. R.) * Das englische Oberhaus nahm in zweiter Lesung die Bill über die vertriebenen Pächter an. sS. Ausl.) * Der französische Kreuzer „Galil 6 e" hat zirka 2000 Granaten gegen Casablanca abgefeuert. lS. Tgssch. u. Ausl.) * Die berühmten Weinberge von Tokay sind, wie aus P e st gemeldet wird, durch einen neuen Rebenschädling vollkommen ver- nichtet worden. Tagesschau. Das Bombardement von Casablanca. Zu dem Bombardement von Casablanca wird gemeldet: Die Be schießung richtete sich gegen die Dörfer in der nächsten Nähe der Stadt, zerstörte jetdoch auch die Moschee und tötete eine große Zahl Eingeborener. Während -des Bombardements drangen die fanatisierten Stammesleute in Masse in die Stadt, deren Batterien schließlich ein Scheinfeuer auf die französischen Schiffe eröffneten. Darauf wurden deren Geschütze gegen die Stadt gerichtet, die des spa nischen Kreuzers ebenfalls. Sehr bald bat indes der Befehlshaber der marokkanischen Truppen um Pardon, den der Kommandant der „Galilee" aber verweigerte, indem er die Ergebung des marokkanischen Befehlshabers an den französischen Konsul verlangte. Die Strand batterie ist von den französischen Granaten vollständig zerstört, sonst hat die Stadt angeblich keinen Schaden gelitten. Daß Europäer getötet oder verletzt worden wären, ist nicht bekannt. Ferner wird über London gedrahtet: Tie Schüsse gegen den landenden französischen Offizier und die 6 M a t r o s e n, welche verwundet wurden, wurden aus guter Deckung abgegeben. Man konnte der Schützen nicht habhaft werden. Der Bajonettangriff der Matrosen der „Galilee" gegen die angesammelten Kabylen hatte die Wirkung, daß durch die französischen und spanischen Matrosen die Wachen vor den Konsulaten ohne weiteres bezogen werden konnten. Das daraus folgende, gegen das alte Stadtviertel und die Umgebung gerich tete Bombardement dauerte nur wenige Minuten. Wie nachträglich aus Tanger berichtet wird, soll der französische Kreuzer „Galilse" ca. 2000 Granaten gegen Casablanca abge- feuert haben. Ein Marabut (Grab eines als heilig geltenden Priesterss soll bei dem Bombardement zerstört worden sein. Bei den ersten Schüssen der „Galilee" kam der Kreuzer „Du Chayla" mit Voll dampf in den Hafen zurück und eröffnete gleichfalls das Feuer. Darauf wurden die französischen Truppen gelandet und gingen nun mit dem Bazonett vor, wobei sie ca. 160 Eingeborene töteten. Schließlich geht uns noch folgende Drahtnachricht aus Tanger zu: Ter französische Geschäftsträger informierte das diploma tische Korps über die Landung französischer Truppen in Casablanca. In der Stadt ist nunmehr alles ruhig. Aus Casablanca ist gestern ein zweiter Dampfer mit Nachrichten eingetroffen. Eine neue Produktivgenosscnschast. In der Idee wäre die Produktivassoziation diejenige Form des Arbeitsverhältnisses, von der dir Ueberwindung sowohl der Schatten, feiten der kapitalistischen Gütererzeugung, als auch der Wurzelhasten Gebrechen der sozialistischen Organisation zu erhoffen sein dürfte. Nur ist in der Praxis eine brauchbare Form der Erzeugungsgesellschaften eben bislang noch nicht gefunden gewesen. Bekanntlich haken die So zialdemokraten viele schlechte Erfahrungen mit von ihnen gegründeten Produktivbetriebcn auf sozialistischer Grundlage gemacht; zum größten Teil sind sie elend und unter höchst unerfreulichen Nebenerscheinungen zugrunde gegangen. Non den von Schulze-Delitzsch für die gewerblichen Genossenschaften empfohlenen Organisationssoimcn ist wiederum die Produktivgcnossenschaft am seltensten angewendct worden. Dem Gedeihen dieser Genossenschaften innerhalb des wirtschaftlichen Konkurrenz kampfes stellen sich folgende Umstände hindernd in den Weg: Während der selbständige Einzelunternehmer seine ganze Tätigkeit der Ordnung und Vervollkommnung des Produktionsprozesses sowie der Pflege der Beziehungen zu den Abnehmern widmen kann, sind die Geschäftsführer der Produktivgenossenschastcn meist gezwungen, ein gut Teil ihrer Kraft bei Ueberwindung derjenigen Schwierigkeiten zu verbrauchen, die der Verkehr mit den eigenen Angehörigen der Genossenschaft veruriachl. Zwar ist auch die Leitung eines Betriebes, der sieb als Arbeitskräfte an genommener Lohnarbeiter bedienen muß, an Mühseligkeiten durchaus reich genug: noch größer sind aber die Hindernisse für einen Betriebs leiter, der mit Arbeitskräften produzieren soll, denen gegenüber er irgendwelche Disziplinarmittel nicht anzuwendcn vermag, und die ohne Rücksicht auf ihre Leistungen doch ein dauerndes Anrecht auf Zugehörig keit zu der Genossenschaft besitzen. Tie Annahme, das gemeinsame Interesse an dem Erfolge eines solchen Unternehmens svorne einen jeden der mitarbeitenden Genossen ohne weiteres zu möglichster Krastanstrcn- gung nnd tunlichster Vervollkommnung seiner Leistungen an, bat sich oft als falsch erwiesen; der Privatbetrieb, der von dem Werte, den die Mitwirkung des einzelnen Arbeiters für das Unternehmen hat, den .hm zu gewährenden Lobn abhängig machen kann, ist in dieser Beziehung viel bester daran. Unter diesen Umständen ist der vielen sympathische und wohlgemeinte Gedanke, die Arbeiter eines gewerblichen Unter nehmens selbst Besitzer werden zu sehen, in größerem Umfange nicht ge lungen. Ein neuer Versuch ist nun in Breslau gemacht. Das dortige Bemühen gebt dabin, eine Fortentwicklung der genossen- schastlichcn Organisation über die Form hinaus, die ihr Schulze-Delitzsch gegeben hat, zu errreichen und eine solche Organisationsform zu finden, die die angedeuteten Mängel vermeidet. Es handelt sich, wie Gewerbe assessor Sigsried Hartwig lBreslaus in der „Soz. Praxis" hervorhebt, um eine nicht uninteressante Zwischenstufe zwischen dem streng abso lutistisch geleiteten Privatunternehmer« und den demokratisch, ja zum Teil direkt kommunistisch organisierten, bisher bekannt gewordenen Produktivgenossenschasten. Außerdem bildet aber diele Organisation zu gleich eine für den Sozialpolitiker bemerkenswerte Lösung des Problems, die Bedingungen von Arbeitsverträgen in dauernder Weise sestzulegeu nnd Unternehmnngsformen zu finden, bei denen weder Unternehmer noch Arbeiter den durch Lobnkämpse hervorgerufenen wirtschaftlichen Ver lusten ausgesetzt sind. Neber den Erfolg des Breslauer Unternehmens ist, weil es neuesten Ursprungs ist. r.ä, nichts zu bericdl'n, nur über oic Organisation, die vielfach neue Wege eingeschtagen hat. Der Tischlermeister Schulze in Breslau mchm die Gründung eines größeren, mit den erforderlichen Maschinen ausgerüsteten, neuen Unter nehmens zur fabrikmäßigen Herstellung von Türen, Fenstern und anderen Bautischlereiacgcnständen in Aussicht. Er selbst wollte die Stelle des obersten Leiters des Geschäftes und Betriebes einnehmen. Er rückte eine entsprechende Anzeige in die Zeitung und siehe da, es «andcn sich 26 Tischlergcsellen und 2 Maschinenarbeiter, von denen 27 zur Einlegung eines Kapitols von 1000 einer zur Einlegung von 200!) bereit waren. Schulze legte ebenfalls 1000 .^l ein. Macht zusammen .80000 .K. Ein die Kraftanlage bereits enthaltendes Fabrikgebäude konnte mietweise erlangt werden. Die Vereinigung der 28 Personen erfolgte in der Form einer Ge sellschaft mit beschränkter Haftung. Ter Leiter des Unter nehmens behielt sich den Anspruch vor, alleiniger Geschäftsleiter lebens- länglich zu bleiben, anker bei Pflichtverletzung oder eingetretcncr Un fähigkeit. Sämtliche Mitglieder verzichteten darauf, ihre Kapitaleinlage zurückzuverlangen. Diese Grundsätze schlossen die durch das deutsche Reichsgcsetz über die Erwerbs- und Äirtschaftsgenossenschaften vom 1. Mai 1889 gebotene Rechtsform aus. Es konnte dagegen die Form, einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung gewählt werden. Diese Form nämlich zeichnet sich vor der genossenschaftlichen vor allem dadurch aus, daß sie die sür ein industrielles Unternehmen so außerordentlich wich tige Einheitlichkeit der Leitung ermöglicht, und zwar durch eine Perföi'- lichkeit, die auch wirklich dazu geeignet ist nnd die tatsächliche Leitung dauernd behält. Die genossenschaftliche Form läßt zwar die dauernde Bestellung eines Geschäftsführers zu, aber doch stets nur als eines An- gestellten. Schon durch die bisher erwähnten Grundsätze suchte Schulze einige der schwcrstwiegenden Nachteile der sonst bekannt gewordenen ähnlicyeu Vereinigungen zu vermeiden. Tas Außerordentliche aber ist, daß oie Gesellschafter, die ihre Arbeitskraft als Tischlcrgesellen oder Holz- arbciter dem Unternehmen zur Verfügung stellen, wie Arbeiter bei irgend einem individnalkavitalistischen Unternehmen gegen Akkordlohn ange nommen werden und vom Geschäftsleiter gekündigt und entlasten wer den können. Die Holzarbeiter und Gehilfen sind einmal Gesellschafter, die an den Erträgnissen des Unternehmens finanziell beteiligt sind, zum anderen Arbeiter, die, unbeschadet ihrer Eigenschaft als Gesellschafter, wieder entlassen werden können; im letzteren Falle übernimmt ein anderer Gesellschafter, unter Umständen der Geschäftsführer den Anteil deS Entlassenen. Der zugrunde liegende Wunsch ist freilich der, daß das Arbcitsvcrhältnis wie das Gesellschastskerhältms, wenn aygäncug, lebenslänglich dauere, aber cs soll der Möglichkeit, daß von dem Ge nossenschaftsarbeiter durch Trägheit. Fahrlässigkeit usw. gesündigt wird. Rechnung getragen werden. Eine Instanz, die u. a. zur Regelung des Problems des Akkordlohnes geeignet erscheint, ist der Aufsichtsrat der Gesellschaft, der aus drei bis fünf Personen gebildet wird, die die Geseu- schafter aus ihrer Mitte wählen. Tie Gründung der Vereinigung ist ohne irgendwelche Anregung von gemeinnütziger Seite erfolgt. Gcwerbcassessor Hartwig meint: „Man wird . . . diesen Vorgang als ein Zeichen dafür ansehen müssen, daß cs wohl nicht ratsam ist, allzu starr an den wenigen Formen genossenschaft licher Vereinigungen sestzuhalten, die man bisher kannte, sondern wird der Frage der zweckmäßigen Anpassung der für gewerbliche Genossen schaften zu empfehlenden Organisationsgrundsätze an die wechselnden Verhältnisse und Bedürfnisse des gewerblichen Lebens fortgesetzte Auf merksamkeit zuwenden müssen." Gespannt kann man auf den Erfolg des Unternehmens des <berrn Schulze sein, der so kühn als Pfadfinder in das Land der genossenschaftlichen Zukunft vorangeht. Er bat bereits vier Iabre lang ein ähnliches Unternehmen der „Soz. Praxis" zufolge „höchst erfolgreich" geleitet, nur daß damals versäumt war, Beschlüsse gegen den Willen des Geschäftsleiters in geeigneter Weise auszuschließen. Die damals gemachte Erfahrung ist bei der neuen Organisation verwertet worden. . . „ Uns erscheint die gewissermaßen monarchisch-konstitutionelle Form solcher Genrstenschaften noch nicht einmal in so hohem Grade eine un abweisbare Bedingung als der Grundsatz des Akkordlohnes. Die A r b e i t s l e i st n n g muß stets der Gradmesser des Arbeitslohnes sein, nicht die Arbeitszeit. Zeitungsschau. Die „Nbeinisch-Westf. Zeitung" schreibt über die Indolenz der deutschen Regierung gegenüber dem neuen Raubzug Frankreichs gegen Marolko: Im Fellestiubel und unter dem Begrüsznngssalut von Swinemünde scheinen die maroklanischen Händel als störend empfunden zu werden; denn worauf könnte mau sonst das absolule Schwelgen der deutschen Reichsregierung über das allercings mit einem böien Omen für uns bedastete Marokko zurück- sübren? Die unabhängige nationale deutsche Presse muß dafür um so lauter ihre Slimme erheben und di« Frage stellen: „Wo bleibt die deutsche Ver tretung in Marokko?" Hier bandelt cs sich um deutsch« Lebensinleressen, denn Casablanca liegt an der Weüküsie Marokkos am Atlantischen Ozean, dort, wo wir vor allem unseren Einfluß geltend machen wollen, während die Nord lüste am Miitelmeer und die an Algier grenzende Ostgrcnze naturgemäß mehr dem französischen Einfluß unterliegt und ihm auch überlassen werden soll. Trotz dieser von uns schon verschiedentlich vertretenen und fast allgemein anerkannten Lage der Verhältnisse hört man nichts von deutschen Plänen gegenüber dem französischen Boraehen. Nun denn: mit Rücksicht darauf, daß auch dieser letzte Zwischenfall lediglich auf sranzösische-Schuld zurückznführen ist, auf die noch immer nicht zu Recht, aber in der Tat bestehende Feuilleton. Der Selbstmord lst das größte Verbrechen. Welchen Mut kann derjenige besitzen, der vor einem Wechsel des Glücks zittert? Der wahre Heldenmut besteht darin, über das Elend de« Leben» erhaben zu sein. Napoleon. * Vom Harzer Vergtheater. Die bis zur Nervosität gesteigerte Verfeinerung der Bühnenmittel mußte damit rechnen, eines Tages vor die Frage eines tzuausqus tanäsw gestellt zu werden. Das ist immer so in der Kunst gewesen: sobald die äußeren Mittel der Darstellung vorzuwieaen beginnen, er scheinen die Puristen auf dem Platze, die in der Verfeinerung die De- kadence erblicken. Bis zu welchem Grade von Veräußerlichung das Technische der Bühne gedeihen kann, heigt uns Wiesbaden. Wie sehr aber auch das rein Aeußerliche verinnerlicht werden, wie sehr eS illusionsfördernd sein kann, solange es sich harmonisch zum Stil eines Werkes und seiner Darstellung verhält, zeigte uns Reinhardt in Berlin. Zeigte uns vor ollem in ganz überraschender Weise das künstlerische Ensemble aus Moskau, dessen Tournee durch die deutschen Großstädte noch unvergessen ist. Wir erleben jetzt die leicht begreifliche Reaktion der Naturtheater. 9sn Frankreich, daS klimatisch ja mehr begünstigt ist, hat di« Freiluft theaterbewegung schon eine gewisse Bedeutung gewonnen, weil sie an manchen Orten allererste Kräfte ins Treffen führt. Bei uns in Deutsch- land handelt eS sich, abgesehen von Dr. Wächters Beratheater in Thale am Harz und von den Oberammergauer Passionsspielen, zunächst noch um unzureichende dilettantische Versuche. Als Führer und Berater der ganzen Bewegung kann un- Dr. Ernst Wachler gelten, der seit fünf Jahren in jedem Sommer mit einem zwar bescheidenen, aber immerhin künstlerischen Ensemble in Thale spielt. Anfänglich, ich er innere mich dessen noch sehr gut, galt da- Hauptbedenken der Äkust«k ein würden. innere mich dessen noch sehr gut, galt daS Hauptbedenken der Akustik im Freien. Man wollte nicht glauben, daß die Darsteller auf der Freiluftbühne im ganzen Zuschauerraum verständlich ein würden. Dieses Bedenken ist für alle erledigt, die in Thale gewe en sind. Die Akustik deS Harzer Bergtbeaters ist ganz vorzüglich; auf der obersten Reihe versteht man noch deutlich jede- Wort, daS auf der Bühn« ge sprochen wird. Die Bedenken, die sich neu einstellten, sind mehr optischer Art. Die BeleuchtungSsraae, di« auf unseren Theatern eine große Rolle spielt, existiert nicht für das Naturtheater. Man nimmt vorlieb mit dem Licht, daS der Himmel gerade gibt. Und noch ein anderes ergab sich: die Stimmung im Freien ist noch diffiziler, al- di« j» geschlossenen Rau». Gewiß; die Gesamt ¬ stimmung hat lgleichsam a priori) etwas Erhabenes, besonders, da immer vor Einbruch der Dämmerung gespielt wird. Es ist ein Natur- genuß an einem windstillen, warm-n Abend dort oben am Hczru- tanzplatz zu sitzen und über die weite Ebene hinüber nach Quedlin burg zu schauen. Und natürlich überträgt sich diese Stimmung gern auf die künstlerische Empfänglichkeit. Aber sie ist auch von äußerster Empfindlichkeit. Jeder Windhauch, jeder vorüberschwirrendc Vogel kann sic schon beeinträchtigen. Ein in der Ferne vorübcrrollendcr Wagen, ein Ruf in den Bergen, ein ferner Gesang, ein fernes Gebell, das alles wird als Störung empfunden. Diese unkontrollierbaren und unvermeidlichen Geräusche stören die andächtige Stimmung nicht minder als ein vom Balkon herabflatternder Zettel, ein Knistern der Beleuchtung, ein knarrender Sitz im geschlossenen Raum. Sie sind aber zahlreicher. Ob man Dr. Ernst Wachlers Ideen folgen kann oder nicht, ergibt sich aus der künstlerischen Vorbildung des Zuschauers. Ich hätte das früher nicht so scharf zu formulieren gewagt. Aber gerade in diesen Tagen, da ich von neuem das Bergtheater in Thale be suchte, drängte sich mir diese Auslegung auf. Der weitaus größte Teil des Publikums im Harzer Bergtoeater rekrutiert sich aus der Kleinstadt oder doch wenigstens aus Städtern, die ein intensives Theaterleben und ein künstlerisch hochgebildetes Ensemble nicht kennen. Es ist natürlich, daß Leute, die selten ins Theater gehen, und deren künstlerisches Beobachtungsvermögen nicht sehr fein ist, dem Naturtheater Weik mehr naives Kunstempfinden entgegenbringen, als jemand, der raffinierte Tbeaterkost gewöhnt ist. Sie sind dementsprechend auch weniger kritisch veranlagt. All diese Besucher des Bergtheaters werden, einmal gepackt von der gewaltigen Gesamtstimmung, künstlerische Ge nüsse erster Ordnung erleben. Anders der, dessen Kunstempfinden auf feinste Anreize zu reagieren gewöhnt ist oder zu reagieren wenigstens öfters Gelegenheit fand. Er wird sich nach dem geschlossenen Raum mit all seinem Raffinement zurücksedncn und die Wachlersche Forderung „Zurück zur Natur!" als sfür ihift innerlich unwahr empfinden. Nein, durchaus nicht zurück zur Natur, im Gegenteil, immer mehr hinein in die Kultur, wird er sagen. Der prinzipielle Standpunkt hat also bindende Kraft. Und im Grunde gilt hier für das Kunstgenicßsn, was für das Kunstschaffen entscheidend ist: gibt es oder soll es eine Volkskunst geben, ober ist der I'»rt pour I'art-Standpunkt der richtige'? Diese Frage wird nie reinlich entschieden werden können, da sie von den persönlichen Kunstcrfahrungen >edeS Einzelnen abhängig ist. ES ist lin diekem Zusammenhang gesehen) kein Zufall, daß sich gerade die Berliner Kritik für Dr. Wachlers Ideen nicht erwärmen kann. Man kann unmöglich für die Aufführungen bei Reinhardt schwärmen und daS künstlerische Theater aus Moskau loben und dennoch für die Sache der Naturtheater eintreten. Die Ziele, die Reinhardt verfolgt, stehen in striktem Gegensatz zu denen des Dr. Wachler. Da wir in der Großstadt aber nun einmal in der steten Verfeinerung der Kunstmittel einen Fortschritt erblicken. Io würden wir unsere eigenen Ideale leugnen müssen, wollten wir plötzlich die ganze Entwicklung auf diesem Gebiet negieren und zu jenem szenischen Puritanertum zurückkchren, das zu Shakespeares Zeiten üblich war. Immerhin: auch in der Sache der Freilufttheater ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Es ist nicht einmal abzusehen, ob es sich um eine vorübergehende Mode handelt oder ob sich die Wachlerschen Ideen auf ein allgemeineres Bedürfnis werden stützen dürfen. Wachler selbst arbeitet nur mit arg begrenzten Mitteln. Er hat an der Kur verwaltung in Thale keinen Rückhalt, im Gegenteil: die örtlichen Machthaber dort, die in der Kunst nur die melkende Kuh sehen, er blicken in Dr. Wachler eher einen Konkurrenten und gehen ihm aus bem Wege, anstatt sich mit ihm zu verbünden. In rücksichtsloser Weise ist die spielenbe Kurkapelle so postiert, daß ihr nichts weniger als an mutiges Konzert bei gutem Winb sich bis in den Zuschauerraum des Bergtheaters hinein verflüchtigt. Ich gehöre nicht zu den Anhängern, sondern zu den unbedingten Gegnern Dr. Wachlers, in dessen Ideen ich einen künstlerischen Fortschritt nicht sehen kann, aber ich zolle ihm meine aufrichtige Bewunderung für die aufrechte Haltung und die ehr liche Energie, dis er unter widrigen Verhältnissen bewahrt. Sein Unternehmer^ das sich nur geringer finanzieller Förderung von wahl verwandter Seite zu erfreuen hat, arbeitet nicht nur nicht mit Unter bilanz, sondern erzielt sogar einen kleinen Ueberschuß. Das will etwa- heißen, wenn man auf der anderen Seite konstatieren darf, daß Wachler streng an seinen Ideen festhält, daß er weder nach rechts noch nach links Konzessionen macht und alles andere als ein Kompromißler ist. Auch in diesem Sommer ist sein Programm wieder künstlerisch: man spielt Shakespeares Komödie „Wie es euch gefällt", Goethes „Iphigenie", Fritz Lienhards „Münchhausen" und Chruiens „Johannis- zauber". Und man spielt, wenn nicht hervorragend, so doch annehmbar. Es ist fast verwunderlich, daß ein Mann wie Dr. Wachler, der viel mehr von einem Dichter als von einem Theaterdirektor an sich hat, sich so sicher behauptet. Denn die Leitung seines Unternehmens -r- fordert viel Umsicht und praktischen Blick. Und da Wachler schon au- eigner Kraft so weit gekommen ist, wäre dringend zu wünschen, daß ihm die Mittel zur Verfügung stünden, sein Bergtheater auf ein« breitere Basis zu stellen. Man spricht in Thale davon, den „Sieg fried" Wagners einmal aufzuführen. Um das ins Werk zu sehen, dazu bedarf cs natürlich erheblicher Mittel. Auch wer dem geplanten Ver such skeptUch gegenüberstcht, muß wünschen, daß er einmal gewagt werde. In Frankreich beabsichtigt man in diesem Sommer ähnliches: di« Ausführung von Beethovens Neunter im Freien. Erst wenn die Ideen Dr. Wachlers einmal in großem Maßstabe zur Ausführung gelangen, wird sich ein entscheidendes Urteil in diesen Lingen sollen lassen, erst dann wird man mit Gewißheit feststellen können, waS etwa zurzeit noch aus den Mangel an künstlerischer Bewegungsfreiheit und an finanziellen Mitteln zurückzuführen ist. Im kommenden Sommer soll auch in Eisenach ein Naturtheater entstehen. Ein Komitee hat sich bereits gebildet. Auch dort wird vor-
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