Suche löschen...
01-Frühausgabe Leipziger Tageblatt und Handelszeitung : 16.08.1907
- Titel
- 01-Frühausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1907-08-16
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id84535308X-19070816015
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id84535308X-1907081601
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-84535308X-1907081601
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Handelszeitung
- Jahr1907
- Monat1907-08
- Tag1907-08-16
- Monat1907-08
- Jahr1907
- Links
-
Downloads
- Einzelseite als Bild herunterladen (JPG)
-
Volltext Seite (XML)
Bezug»-Preis für Leipzig und Borort« durch unirr« Träg«r und Spediteur« in» Hau» gebracht: Lu»gab« 4 (nur morgen») viertrljLhrltch 3 M., monatlich I M.; Aukgab« L (morgen» und abend«) viertel» jährlich 4.50 M., monatlich 1.50 M. Durch di« Poft brzoarnt (2 mal tLglich) innerhalb Deutschland« und der deutschen Kolonien vierteljährlich 5,25 M., monatlich 1,75 M. aukschl. Post- bestellgeld, sür Oesterreich S X 66 n, Ungarn 8 L vierteljährlich. Abonnement-Annahme: Augustusvlatz 8, bei unseren Drägern, Filialen, Spediteuren und Annahmestellen, sowie Postämtern und Briefträgern. Die einzelne Nummer kostet 1V Pfg. Redaktion und Expedition: JohanniLgasse 8. Telephon Nr. IE, Nr. 14693, Nr. I4SS4. lverltner Redaktion».ivureau: Berlin I4^V. 7, Prinz Loui» Ferdtnand- Etrabe 1. Delephon I, Nr. 9275. Morgen-Ausgabe 8. rMger.TagMaü Handelszettung. Ämlsvlatt des Rates und des IMzeiamtes -er Ltadt Leipzig. Suzeigeu-Preis «, Snsigte au, Leipzig und Umgebung di, ««spalten, Netitzetle 25 Ps., ftnanzieüe -n»eig«, SO Ps., Reklamen I M.; von aulwärt» SO Pf., Reklamen t.20 M., vo««»»land50M., stnanz. Anzeigen75Ps ' Reklamen 1.50 M. Inserat« v. Betzärd«, tm amtlichen Deil 40 Pf. Betlag«g«»adr 5 vi. p. Tausend exkl. Post, «ebübr. «eichäfttanzetgen an bevorzugter Stelle im Preise «rhbht. Rabatt nach Taris. FefterteUt« Aufträg« kbnneu nicht zurück gezogen werden. Für da« Erscheinen an bestimmten Dagen und Plätzen wird keine ltzarantie übernommen. Anzeigen. Annahme: Lugustutplatz 8, bei sämtlichen Filialen u. allen Annoncen- «rpeditlonen de» In- und Auilande». Haupt --Male Derlin: Carl Duucke-, Herzog!. Bahr. Hofbuch. Handlung, Lützowstraße 10. (Delephon VI, Nr. 4603). Nr. 226. Freitag 16. August 1907. 161. Jahrgang. Das wichtigste vorn Tage. * Das neue deutsche Turbinentorpedoboot „x 187" er hielte, wie aus Kiel gemeldet wird, bei forcierter Probefahrt auf tiefem Wasser 33,9 Seemeilen, das ist die höchste je erreichte Ge- kchwindigkeit eines deutschen Kriegsfahrzeuges. * König Eduard ist in Ischl eingetroffen. sS. Leitart! * In Antwerpen steht die Aussperrung von 30 000 Hafenarbeitern bevor. lS. Ausl.j * Das venezolanische Gericht erster Instanz in Caracas hat die Bermudez Asphalt Company wegen Unterstützung des von Matos erregten Aufstandes zu fünf Millionen Dollars Strafe verurteilt. * Ueber das Dömitzer Dynamitunglück liegen ausführ- liche Mitteilungen vor. (S. d. des. Art., Neues a. a. W. u. Letzte Dep.j * Staatssekretär? Dernburg ist gestern mittag nach Muanza abgereist, wo er am 20. eintreffen wird. Ttonig Tdriavd und TLaiser Franz Joseph. lVon unserem Wiener I'.-Korrespondenten.s Daß der Besuch, den König Eduard VII. von England dem Kaiser Franz Joseph in Bad Ischl abstattet, mehr darstellt, als eine Höflich- keitsvisite, und selbst mehr, als was er bei den persönlich herzlichen Be ziehungen der beiden Monarchen ist, als ein Akt verehrungsvoller Re verenz des Britenkönigs vor dem greisen Friedenskaiser, daß er ein be deutsames Glied in der Kette diplomatischer Aktionen dieses Sommers ist, wird in den hiesigen politischen Kreisen übereinstimmend konstatiert, und dessen Tragweite nach allen Richtungen hin sondiert und geprüft und gewürdigt. Ehe man aber daran geht, die Trace ins Auge zu fassen, die die Entrevue von Bad Ischl in der auswärtigen Politik zieht, muß der historischen Genauigkeit wegen verzeichnet werden, daß es hier all gemein als ein wertvolles Präludium gilt, daß König Eduard über Wil- Helmshöhe die Fahrt zum Kaiser von Oesterreich-Ungarn angetreten hat. Ohne selbstverständlich irgendwie an den Beziehungen des Deutschen Reiches und Englands Kritik zu üben, da es der Takt des Bundesgenossen gebietet, nur mit guten, heimlichen Wünschen die internationalen Rela tionen Deutschlands zu betrachten, darf es doch gesagt werden, daß die Begegnung des Deutschen Kaisers mit König Eduard vom österreichisch ungarischen Standpunkte aus mit um so größerer Genugtuung begrüßt wird, als diese Entrevue sich vollzog, ohne daß eine auch nur kleine Wunde vernarben mußte. Dem gesunden Egoismus der österreichisch-ungarischen Politik entspricht es aber gewiß, daß der Erörterung der Themen, die in Bad Ischl erfolgen wird, eine freundschaftliche Konversation des sach lich uninteressierten Deutschen Kaisers mit König Eduard vorausge gangen ist. Es hieße Kannegießern und Bierbankpolitik treiben, wollte man das Terrain der internationalen Politik abgrenzen oder abstecken, das in Bad Ischl zur Diskussion stehen wird; gewiß aber ist es, daß die Balkanfragen einen breiten Raum einnehmen werden. Selbstverständ lich nach der allgemeinen Revidierung der neugeordneten diplomatischen Beziehungen aller europäischen Staaten, da in den letzten zwei Jahren bei voller Aufrechthaltung des Status quo, bei strikter Wahrung der großen Grundlagen der internationalen Politik, der Bündnis-Piloten und Allianz-Pivots eine Reihe interessant konstruierter Entente- Pavillons und Einvernehmens-Veranden das Friedens-Bauwerk der europäischen Staaten ausgestattet und ergänzt hat; oder, um ein anderes Bild zu gebrauchen, da cine Reihe von Nebenstrecken und Lokallinien, die zwischen den Haupt bahnen, auf denen die internationale Politik fährt, durchgeführt und in Gang gesetzt worden ist. Oesterreich-Ungarn sieht nun, abgesehen von seiner Stellung im Dreibunde und von seiner Mission als Friedens staat und Mittlermacht, abseits von gar vielen aktuellen Fragen, sowohl im Westen Europas als auch im äußersten Osten; es hat aber eine gro^.e Aufgabe auf der Balkanhalbinsel zu erfüllen, getreu der Kulturtradition der alten Ostmark, und hier greift nun die Entrevue zu Bad Ischl in das große diplomatische Räderwerk ein, das sich in diesem Sommer so lebhaft dreht. Den Beratungen, die der italienische Minister der aus wärtigen Angelegenheiten Herr Tittoni mit seinem österreichisch-ungari schen Kollegen Freiherrn von Aehrenthal in Tesio gepflogen hat, soll nun in Bad Ischl — man gebraucht dieses Wort in den hiesigen unterrich teten Kreisen seit der Ankündigung der Reise König Eduards zu Kaiser Franz Joseph — das englische Sigillum aufgedrückt wer- den; auf dem Semmering bei Wien wird dann die letzte erläuternde Aus sprache zwischen Tittoni und Aehrenthal folgen. Die Abmachungen zwischen Oesterreich-Ungarn und Rußland in bslouniois erfahren keine Schwächung. Nur eine Ergänzung. Die Balkanstaaten rangieren nicht wie etwa Marokko oder Persien; die Abgrenzung der Interessensphären läßt sich auf der Balkanhalbinsel nicht mit dem Lineal durchführen; die an der Ruhe und der kulturellen Entwicklung der Balkanstaaten inter essierten europäischen Mächte haben aus Rücksicht auf sich selbst vorzu sorgen, daß nicht in Makedonien, in Albanien oder sonstwo falsche, sach lich unbegründete Aspirationen üppig werden und Komplikationen er- zeugen, die von den Gendarmerieinstitutionen nicht gebändigt werden könnten. Fürst Ferdinand von Bulgarien, besten Familienbeziehungen ihn stets gut unterrichten, hat im Hinblick auf die neue Konstellation, die im Zeichen des Einvernehmens mit der besten oller am Balkan interejsierten Großmächte steht, auS den jungen Verhältnissen schon eine gute praktische Nutzanwendung gezogen, und Oesterreich-Ungarn ist ihm in liebenswür diger Weise entgegengekommen, als er nach Bad Ischl fuhr und höfische und diplomatische Auszeichnungen erfuhr. Man kann sagen, daß in diesem Sommer gute Politik gemacht wird. Der herzliche Willkomm, der König Eduard in Oesterreich-Ungarn begrüßt, wird mit Recht ein sympathisches Echo auch im Auslande, in Rußland wie in Italien und gewiß auch im Deutschen Reiche finden. * Zur Monarchenbegegnung in Ischl erhalten wir noch folgende Telegramme unseres Korrespondenten: X. Ischl, 15. August. König Eduard wurde von Kaiser Franz Josef auf dem Bahnhofe Gmunden erwartet, wo sich die Monarchen auf das herzlichste begrüßten. Tie Ankunft in Ischl erfolgte 11 Uhr 47 Min. vormittags. Die Monarchen fuhren unter den be geisterten Kundgebungen des Publikums durch die geschmückten Straßen zum Hotel Elisabeth, wo König Eduard von den Mitgliedern des Kaiserhauses begrüßt wurde. Ir. Ischl, 15. August. Die Entrevue zwischen Kaiser Franz Josef und König Eduard trägt einen hervorragend freund schaftlichen Charakter. Die Begrüßung beider Monarchen war herzlichst. Tie Bevölkerung bereitete ihnen unausgesetzt lebhafteste Ovationen. Der «inständigen Konferenz Aehrenthals, Hardinges und der längeren Unterredung König Eduards mit dem Baron Aehrenthal wird große politische Bedeutung beigemesten. Staatssekre tär Hardinge äußerte sich zu einem hier weilenden englischen Freunde, König Eduard sei vom Verlaufe der Entrevue von Wil- helmshöhesehr befriedigt. Es sei alles invollster Ord nung gegangen. Ir. Wien. 15. August. Wie das „Neue Wiener Tagblatt" meldet, beziehen sich die Konferenzen bei der heutigen Entrevue in Ischl auf die makedonische und marokkanische Frage. Oesterreich wünscht aus Rücksicht auf den Sultan die langsame Durchfüh rung der I u st i z r e f o r m in Makedonien, England fordert dagegen Beschleunigung. Bezüglich Marokkos wünscht England, daß Frank reich und Spanien allein die Pazifikation besorgen. Baron Aehrenthal und Staatssekretär Hardinge hatten nachmittags noch eine zweite zweistündigeKonferenz. Sittlichkeitsverbrechen nn Atindern. Im neuesten Hefte der Breslauer Zeitschrift „Gesetz und Recht" erörtert Staatsanwalt Dr. Wulfsen in Dresden die moderne Pest der Unzuchtsverbrechen an Kindern. Wir entnehmen dem Artikel fol gende bemerkenswerte Ausführungen: Es vergeht kein Tag, an dem wir nicht von Sittlichkeitsverbrechen hören. Schlagen wir dic Reichskriminalstatistik nach, so finden wir, daß wegen Sittlichkcitsverbrechen während des Jahrzehntes 1882/91 absolut jährlich 3030 Personen, d. h. auf je 100 000 der gesamten strafmündigen Bevölkerung 9,3, während des Jahrzehntes 1892/1901 aber absolut jähr lich 4319 Personen, d. h. auf je 100 000 12 verurteilt worden sind. Im Jahre 1904 betrug die Zahl der wegen Sittlichkeitsverbrechen überhaupt Verurteilten bereits 5384, die der Jugendlichen 1064. Jugendliche im Alter von 12 bis 14 Jahren, also Kinder, wurden während der Jahr« 1899 bis 1901 wegen Sittlichkeitsverbrechen verurteilt insgesamt 58 Knaben und 8 Mädchen im Alter von 12 Jahren, 169 Knaben und 7 Mädchen im Alter von 14 Jahren. In der von der Kriminalstatistik für die erwähnten Sittlichkcitsverbrechen geführten Gesamtziffer nehmen bei weitem die erste Stelle die an Kindern, insbesondere an Mädchen un ter 14 Jahren verübten Sittlichkeitsverbrechen ein. Sie sind es, welche das verhältnismäßig starke Wachsen der Verurteiltenziffer bedingen. Es kommen hier hinzu die schuldigen Sittlichkeitsverbrecher, di« aus Mangel an genügendem Beweise freigesprochen werden, oder gegen welche eine Anklage gar nicht erhoben worden ist. Obschon die moderne Kriminalpsychologie mit Recht auf die Unzuverlässigkeit der Zeugenaus- sagen von Kindern aufmerksam macht, so lehrt doch die Erfahrung der Praxis, daß gerade bei Sittlichkeitsverbrechen die Glaubwürdigkeit von Kinderausfagen nicht so gering ist, als man allgemein annimmt. Eine psychologische Selbsttäuschung des Kindes, wie bei anderen Wahr nehmungen, liegt gerade bei Sittlichkeitsverbrechen fern, so daß nur für die Suggestion durch Dritte, für eine Verleitung zu falschen Angaben seitens anderer und für unwahre Aussagen aus eigenem Beweggründe Raum verbleibt. Fälle dieser Art sind oft genug vorgckomm«n. Mancher Sittlichkeitsverbrecher gelangt erst zur Anzeige, nachdem er eine Reihe Verbrechen unentdeckt verübt hat. Eine auf eine gewisse Neigung zurückzuführende Gewohnheitsmäßigkeit bildet sich hier sehr leicht heraus. Ueber den Umfang solcher manchmal unter Beihilfe ge wissenloser Frauenspersonen ermöglichter gewohnheitsmäßiger Ver- brechensverübung gibt der bekannte Berliner Prozeß Sternberg Aufschluß. Welches sind nun die Ursachen der so zahlreichen Sittlichkeitsver brechen an Kindern? Gerade in diesem so überaus wichtigen Punkte herrscht große Unklarheit in weiteren Kreisen. Man liest und hört von den vielen Sittlichkeitsverbrechern, man verdammt und verabscheut sie, aber man macht sich nicht klar, weshalb der Sittlichkeitsverbrechen so viele sind. Aber erst wenn man die Entstehungsfaktoren eines Ver brechens kennt, kann man ihm vorbeugen. Und Verbrechen zu verhüten, daS betone ich immer wieder, macht seliger — auch den Staat und seinen Anwalt — als Verbrechen zu bestrafen. In diesem wichtigen Punkte er bitte ich auch die Mitarbeit der Presse. Wir wollen die Entstehungs ursachen der Kinderschändung in dezenter Form, aber klar verständlich vor der Oeffentlichkeit feststellen. Dann erst werden wir den richtigen Standpunkt für die Beurteilung der Eigenart dieses Verbrechens gc- Winnen. Alles Menschliche, werden wir erkennen, ist menschlich erklär lich. Alle unsere statistischen Unterlagen bieten das übereinstimmende Ergebnis, daß. wie die allgemeine Kriminalität, so auch das Sittlich keitsverbrechen am meisten in den unteren Volksschichten auftritt. Weil sie tiefer im Lebenskämpfe stehen, verfallen sie leichter der Versuchung, ein Verbrechen gegen das Vermögen zu begehen; weil ihr geschlechtliches Schamgefühl weniger gefestigt ist und weniger geschont wird, sind sie weniger widerstandsfähig. Das geschlechtliche Schamgefühl ist ein Pro- dukt der angeborenen Veranlagung und der Erziehung. Man muß von vornherein im allgemeinen daraus verzichten, in den unteren Volks schichten ein Schamgefühl zu suchen, wie es — wieder im allgemeinen — in den wirtschaftlich besser gestellten Kreisen vorhanden ist. Wo die Eltern mit ihren Kindern oder diese mit dem „Logismann" in einem Raume, wo Bruder und Schwester vielleicht gar in einem Bett schlafen müssen, kann das Schamgefühl nicht genügend erstarken. Mit welcher Peinlichkeit dagegen hüten die gebildeten Kreise die Kinder. Die Ver urteilung von 12- bis 14jährigen Kindern wegen Sittlichkeitsverbrechen an Kindern begegnet deshalb großen Bedenken. Sie haben noch keinen Begriff von der Geschlechtsehre, die sie verletzen; ihr geschlechtliches Schamgefühl ist nur etwas Angelerntes. Beobachtungen ihrer Um gebung lösen den in Kindern bekanntlich besonders lebhaften Nach ahmungstrieb aus. Solche Kinder gehören nicht ins Gefängnis, sondern höchstens in eine Besserungsanstalt. Aus demselben mangelhaft entwickelten Schamgefühl entspringt auch die Verderbtheit vieler Mädchen, die sich zur Duldung von Unsittlich keiten bereit finden, wenn nicht gar den Mann dazu anreizen. Hier sind die unglaublichsten Fälle vorgekommen. Die Leiter der niederen Volks schulen, insbesondere in größeren Städten, wissen davon zu erzählen. Das nicht zur vollen Entwicklung gelangte oder ganz mangelhaft ent- wickelte Schamgefühl setzt dem zum Sittlichkeitsverbrechen anregenden Geschlechtstriebe nur geringen oder keinen Widerstand entgegen. Bei einer großen Zahl von Sittlichkeitsverbrechern vermissen wir aber nicht nur die normale Entwicklung des geschlechtlichen Schamgefühls, wir treffen vielmehr bei ihnen auf eine so unzulängliche und vom Durch schnittsmenschen so abweichende Geistesbcschaffenheit, daß sie die Fähig keit. dem Antriebe oder der Gelegenheit zum Sittlichkeitsverbrechen zu widerstehen, überhaupt nicht besitzen. So konnte der bekannte Psychiater Professor Dr. Aschaffenburg von 200 verurteilten Sittlichkeitsver brechern, die er im Gefängnis untersucht hat, nur 99 — 49,5 Prozent für uneingeschränkt zurechnungsfähig erklären. Er fand 27 hochgradig Schwachsinnige und 46 einfach Schachsinnige, 12 an seniler Dementia (Altersschwachsinn) Erkrankte. Der Berliner Gerichtsarzt Leppmann- fand unter 60 Kinderschändern nachweislich 25, dringend wahrscheinlich 16 geistig vermindert Zurechnungsfähige. Der Breslauer Psychiater Professor Dr. Bonhösfer fand unter 100 Sittlichkeitsdelinguentcn nur 26 Normale. 22 litten an Alkoholismus, 16 an Epilepsie oder Hysterie und pathologischer Reizbarkeit, 12 an Schwachsinn, 10 an Arterio sklerose usw. Als Staatsanwalt, dazu bestellt, den Schuldigen der gerechten Be strafung zuzuführen, bestätige ich aus meiner eigenen langjährigen Er fahrung, wie viele vermindert Zurechnungsfähige unter den Sittlichkeits verbrechern an Kindern sich finden. Man erwäge nur, wie nach wissen schaftlicher Forschung häufig der Mangel von Licht und Sonne in Prole- tarierwohnungen, ihre Unsauberkeit und Ueberfüllung mit Menschen, die mangelnde Schonung der Mutter vor und nach der Niederkunft, schlechte Pflege und ungenügende Nahrung des Neugeborenen, Sturz des Kindes auf den Kopf usw., Ursachen zu den verschiedensten Graden des Schwachsinns geben. Gleich lehrreich ist das Kapitel der psychischen Entartung auf Grund erblicher Belastung. Es wäre aber falsch, zu glauben, daß SittlichkeitZverbrecher an Kin dern nur aus den unteren Volksschichten stammen. Wir finden sie auch in den höheren Gesellschaftskreisen zahlreich vor. Nur fällt hier häufig die Voraussetzung weg, daß das Verbrechen auf der Grundlage eines in seiner erzieherischen Entwicklung gehemmten Schamgefühls erwächst. Interessant sind noch die Ergebnisse der Statistik über das Verhält nis der unverheirateten und der verheirateten Sittlichkeitsverbrecher. Im Jahre 1904 wurden im Deutschen Reiche verurteilt im Alter von 21 bis 40 Jahren 1364 Ledige, Verwitwete und Geschiedene, 990 Ver- heiratete s!>; im Alter von 40 bis 60 Jahren 486 Ledige usw., 667 s!> Verheiratete; im Alter von 60 Jahren und darüber 165 Ledige usw., 140 s!j Verheiratete. So erkennen wir, wie die Sittlichkeitsverbrechen an Kindern zwar eine Seuche am Volkskörper darstellen, aber, wie jede andere Krankheit, aus dem körperlichen Organismus selbst heraus mit Notwendigkeit erwachsen. Nur die Erfüllung der großen sozialen For- derungen unserer Zeit, die Verbesserung der Wohnungs- und Erziehung?. Verhältnisse in den arbeitenden Kreisen, Mäßigkeit im Alkoholgenussc, wie überhaupt Verminderung der Entstehungsursachen von Entartung?- zuständen und Geisteskrankheiten können also wirksame Heilung bringen. Die bloße Bestrafung der entdeckten Verbrecher, darüber wollen wir uns klar sein, versagt als Heilmittel fast völlig. Verurteilte Sittlichkeits verbrecher werden sehr häufig rückfällig; die bloße Abschreckung bedeutet auch noch keine Heilung. Die Bestrafung kann nur als eine Notwehr maßregel der Gesellschaft in Betracht kommen; ebenso die Internierung gemeingefährlicher geisteskranker Sittlichkeitsverbrecher. Der Staat aber hat die Ausgabe, nicht nur abzuwehren, sondern zu heilen, soweit Heilung möglich ist. Deutsches Reich. Leipzig, 16. August. * Tentschland und Frankreich. „Petit Parisien" veröffentlicht ein Telegramm eines „gelegentlichen Korrespondenten" aus Norderney, welches folgenden Wortlaut hat: Nach Informationen, die ich hier gesammelt, soll Fürst Bülow sich neulich in Swinemünve lange mit Herrn Iswolsky über die französisch-deutschen Beziehungen und die Marokko-Frage unterhalten haben. Fürst Bülow soll dem russischen Minister erklärt haben, daß, wenn auch zurzeit eine Abänderung der AlgeciraS-Akte, deren Dauer übrigens begrenzt ist, nicht ins Auge gefaßt werken könnte, doch nichts im Wege stünde, daß die Politik Deutschlands in der marokkanischen Angelegenheit in einem für Frankreich günstigeren Sinne orientiert würde." — DaS merkte ein Pferd in den letzten Wochen, daß wieder einmal die deutsche Politik im Zickzack läuft und die Errungenschaften vonTanger undAlgeciraS einem gnädigen Nicken der Mme. La France geopfert werden sollen! * Noch immer der Fall Schell. Die Freiburger Universitäts professoren Finke, Hoberg, Krieg, Pfeilschifter und Sauer, die den Aufruf für das Schellvenkmal unterzeichneten, haben an den Erzbischof von Freiburg ein Schreiben gerichtet, in dem sie die Beschuldigung deS Mangels der katholischen Gesinnung und an Ehrfurcht gegen den Apo stolischen Stuhl „ebenso ehrerbietig wie entschieden zurückweisen und die Veröffentlichung des Schreibens aufs tiefste bedauern". * Tie Konservativen am Scheidewege. Aus Dresden wird uns geschrieben: In einer Polemik gegen daS „Berliner Tageblatt" schreibt der „Dresdner Anzeiger": Soweit wir unterrichtet sind, ist anzunehmen, daß die Leitsätze des Dresdner Konservativen Vereins die Billigung der Landesversammlung finden werden, da der Vorstand de» konservativen LanveSvereinS sie schon gebilligt hat. Auch in der sächsischen Wahlrechtsfrage steht eine Auseinandersetzung in ter konservativen LandeSversaminlung nahe bevor. Obwohl daS Tatsäch liche an der Notiz des „Dresdner Anzeigers" durchaus der Wahrheit entspricht, ist die ganze Notiz in hohem Grade geeignet, diejenigen, die über die Verhältnisse in der konservativen Partei nicht besonders gckt unterrichtet sind, irrezuführen. Wenn das genannte Blatt schreibt: „Soweit wir unterrichtet sind," — so kann man sich renken, woher diese Erleuchtung stammt, da daS Blatt gerade denjenigen Kreisen,
- Aktuelle Seite (TXT)
- METS Datei (XML)
- IIIF Manifest (JSON)
- Doppelseitenansicht
- Vorschaubilder
Erste Seite
10 Seiten zurück
Vorherige Seite