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Leipziger Tageblatt und Handelszeitung : 03.11.1907
- Erscheinungsdatum
- 1907-11-03
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id84535308X-190711033
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id84535308X-19071103
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-84535308X-19071103
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Handelszeitung
- Jahr1907
- Monat1907-11
- Tag1907-11-03
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Bezug--Preis Ur Sechzig u»d Vorort« durch »»je« Träger ui» Spediteur» in» Hau» gebracht: lutgabr L (nur morgen«) vierteljätzrUch 3 NT monatlich 1 M Lu «gäbe I» (morgen« und abend«) viertel, jährlich 4.S0 M. monatli» I.» «. Lurch di« Poft »rzoarn (2 mal «»glich) tnnerhaib Deutichland« und der deutschen Kolonien dierteijtbrlich 5,25 M. monatlich 1.75 M. au«schl Pok- brstellgeld >ür Oesterreich st L «6 o. Ungarn 8 L vierteljährlich. Lbonnement-Lnnabme. stlugustugplatz 8, bei unseren Lräaern, Ailtalen. Spediteure» and Snnahmestellen, sowie Postämtern ua» Briefträgern. Die einzelne Nummer kostet 1V Psg. Nebattto» »nd «xpedttch»: Johaunilgasse 8. relevbov Nr. 146S2 Nr. 146S3, Nr. 14SS4. verliurr Bebaktton» vureau Berlin dllV. / Prinz Loui« Ferdinand. Straße 1. Telephon I, Nr V275. Morgen Ausgabe 8. MWgcrTllgMaü Handelszeitung. Amtsblatt -es Rates «nd -es Nolizeiamles -er Lta-t Leipzig. Nuzeigeu.Preis M» Inserat« «»» Leip^g und Umgebung di« »gespaltene Petit,eil« 25 Pf., stnanzielle tlnzeigen 30 Pf., NeNamen 1 M.; von autwtrt« 30 Pf., Ucklamen 1.20 M. pomNuslaad bOPf., finanz. Anzeigen 75 Ps. NeNamen 1.50 M. Inserate ». Vehärden im amtlichen Teil «0 Pi. Beilagegebiibr 5 vl. -. lausend exy. Post gebühr. Sseschästtanzeigen an bevorzugtcr Stelle im Preise erhäht. Rabatt nach Toris. Aesterteilte klusträge künnen nicht zurück gezogen werben, gär da« Urschen en an bestimmten Tagen und Plägen wird keine Garantie übernommen. ««zeigen - Annahme i Augustusplatz 8 bei sämtlichen Filialen u. allen Annvi-cen- Sxpedltionen de« In- und Autlande«. Haupt - Filiale Berlin: Larl Dunckr , Herzogl. Bahr. Hofbuch. Handlung, Lüßowstraß« 10. lTelephon VI. Nr. 4603). Nr. 305. Das wichtigste vom Tage. * Der Kaiser wird sich auf der Rückreise von England von Amsterdam aus nach Kiel begeben und dort am 21. November der Rekrutenvereidigung beiwohnen. * Gestern abend konstituierte sich in Leipzig der „Verein säch sischer Richter und S t a a t s a n w ä l t e". (S. Lpzg. Ang.j * Das Befinden des Papstes soll zu einigen Bedenken Anlaß geben. sS. Ausl.j * Die englischen Kommunal Wahlen brachten abermals den Liberalen und Sozialisten eine schwere Niederlage. lS. Ausl.) Mystizismus und Christentum. Ter Mystizismus'hat seinen neuerlichen Formenreichtum im wesent lichen der Befruchtung durch den Hypnotismus zu verdanken. Tic zu nächst rein empirischen hypnotischen Experimente, wie sie in größerer Ausdehnung zuerst im Anfang des vorigen Jahrhunderts angcstellt wurden, lieferten die Grundlage für den Spiritismus und seine Theorien, die ihrerseits wieder merklich beeinflußt wurden durch die Borstcllungswelt des Buddhismus. Alle diese geistigen Bewegungen konnten aber so lange keinen irgendwie beachtenswerten Umfang an- uchmen, als sie nicht den Anschluß an das Christentum gesunden hatten. Sie waren wurzellos. Als aber die immer praktischen Amerikaner diesen „Mangel" behoben und die sogenannte christliche Wissenschaft ent- deckt hatten, als die Gesundbeterei begann, waren endlich die Vorbe dingungen für eine größere geistige Epidemie gegeben, und wir erlebten das greuliche Beispiel in der Nähe von Kassel, wo ganze Ortschaften sich besessen zeigten. Auch die Heilsarmee mit ihren suggestiven Nmnebe- lungspraktiken mag ihr gut Teil zu der Entwickelung beigrtragen haben. Es hat sich nun überall gezeigt, daß gerade die streng positiv ge richteten kirchlichen Kreise eine innere Verwandtschaft mit dem Mystizis mus haben und demgemäß seinen Einflüssen am ehesten zugänglich sind, während der Liberalismus seiner ganzen Veranlagung nach, wegen seiner Vergeistigung aller Prvdlemc, eine weit größere Widerstands kraft offenbaren mußte. Wir sehen denn auch den Mystizismus in schönster Blüte in jenen orthodoxen Hofkreisen, die sich in äußerer Fröm migkeit und in Verketzerung aller freieren Bekenner nicht genug tun können. Nebenbei: In dieser Betonung der äußeren Frömmigkeit soll durchaus nicht der Vorwurf der Heuchelei enthalten sein. Es will uns sogar scheinen, als sei die mystizistische Betätigung eher ein Beweis für das ehrliche religiöse Bedürfnis, das eben in der Orthodoxie nicht voll befriedigt werden kann und in der grob materialistischen Vorstellung religiöser Vorgänge für den Mystizismus nur zu gut vorbereitet worden ist. Es ist daher nicht verwunderlich, wenn mit Sicherheit und unwider sprochen verlautet, in der Potsdamer Hofgesellschaft gebe es große Zirkel, die sich allen Ernstes mit Experimentalmystik beschäftigen, die den Engel Gabriel und die Geister Verstorbener zitieren, die gesundbeten, die eine Liga christlicher Aerzte fördern, und das alles natürlich zu Ehren Christi. Auch der Prozeß des Grafen v. Moltke gegen Maximi lian Harden hat einige Streiflichter aus die geistige Verfassung eines Teils dieser höfischen Kreise geworfen. Und es ist überaus bezeichnend, daß von dieser Seite auch nicht ein Wort der Erwiderung auf die Publikationen erfolgt ist, daß die deutlich bezeichneten Herrschaften die Offenbarung ihrer mystizistischen Neigungen wohl als peinlich, aber sicher nicht als kompromittierend empfunden haben. Bei Betrachtung dieser Zustände ist von vornherein daran festzu halten, daß es vollkommen verkehrt ist, diese religiösen Mystiker etwa als geistig Minderwertige, als Dummköpfe, zu bezeichnen. Mit solchen abfälligen Urteilen, die man ja häufig genug hören kann, kommt man dem Wesen der Dinge nicht näher, wird auch nichts gebessert. Weder Aksakow, noch Hübbe-Schleiden, noch Zöllner, noch du Prel war ein Dummkopf. Und wie diesen Vorkämpfern der spiritistischen oder mcdiumistischen Bewegung würde man auch den Leuten Unrecht tun, deren mystischer Hang sie zur Teilnahme an „Seancen" treibt, wenn man sie zu den Minderbegabten schlechtweg zählen wollte. Das freilich ist richtig, daß sie meist eine stark ausgeprägte Phantasie, auch häufig ein reiches Gemütsleben, aber auch merkwürdig geringe kritische Be gabung, mangelhaftes Verständnis für die Realitäten zeigen, ja daß sie nur zu oft schließlich jeglichen Kontakt mit dem wirklichen Leben ver lieren und in geistiger Umnachtung enden. Es sind also in den aller meisten Fällen nicht unbegabte, sondern einseitig begabte Menschen, die sich dem Mystizismus ergeben, Menschen, denen es an der Harmonie der Geisteskräfte fehlt, wobei es sehr oft nur schwer festzustellen ist, ob Veranlagung oder Erziehung und Milieu für die Verirrung verantwort- lich zu machen sind. Das ist jedenfalls als erwiesen zu betrachten, daß beide Ursachen, einzeln oder vereint, wirksam sein können. Ist das aber der Fall, so wird auch klar, wie man die Krankheit zu bekämpfen hat. Man hat di« Verstandeskräste systematisch zu ent wickeln, hat daS Selbstbewußtsein zu steigern, hat den Sinn auf prak tische Betätigung zu lenken. Es muß ethisches Gemeingut werden, daß ein ohne praktisches Wirken verbrachtes Leben Vergeudung ist, daß die Kalkulation mit außerhalb des Individuums liegenden Offenbarungen die ärgste Herabsetzung der Selbstachtung bedeutet, daß uns der Ver stand gegeben worden ist, um ihn anzuwenden und nicht, um ihn zu unterdrücken. Noch immer haben wir die Erfahrung machen müssen, daß der Mystizismus, im Bunde mit der Orthodoxie, beim Versuch poli tischer Betätigung auf reaktionäre Bahnen einlenkt. DaS war bei der Umgebung Friedrich Wilhelms IV. so, und eS ist genau so bei den Kreisen, die wir neuerdings in der kaiserlichen Hofgesellschaft am Werke lehen. DaS aber legt auch dem politischen Liberalismus die Pflick- auf, sich mit diesen Dingen zu beschäftigen und den Mystizismus mit allen Kräften zu bekämpfen. Allen diesen Mystikern ist die eine Vor stellung eigen, daß sie im absolutistischen Regime daS Heil sehen und den Träger deS Absolutismus als einen vom Jenseits inspirierten Aus erwählten betrachten. Solch« Gedanken aber sind gefährlich. Und sie sind absolut unvereinbar mit dem ehrlichen und überzeugten Fest balten au unseren konstitutionellen Einrichtungen. Also heißt eS, sie bekämpfen. Dieser Kampf wird ganz außerordentlich erschwert durch die In stitutionen, die sich daS StaatSkirchentum geschaffen hat. Noch heut« 101. Jahrgang. Sonntag 3. November 1907. ist die Gewalt der Kirche fast unbegrenzt. Kommt es doch noch im heutigen Preußen vor, daß ein Lehrer wegen Ketzerei seines Amtes ent setzt wird, wenn er die „Wunder" der Bibel nicht als tatsächlich erfolgte übernatürliche Geschehnisse, sondern als Gleichnisse behandelt, wenn er das grob Sinnliche zu vergeistigen bestrebt ist. Von ihrem Stand punkt aus swir nehmen hier immer ehrliche Ueberzeugung als Voraus setzung ans hat die Orthodoxie ganz recht, so zu handeln. Sie würde gegen ihr Gewissen verstoßen, wollte sic die Toleranz üben. Denn die Orthodoxie kann ihrem Wesen nach gar nicht tolerant sein, wie es die katholische Kirche nicht kann. Aus dieser Erkenntnis heraus muß der Liberalismus den Weg suchen, der ihn vorwärts führt. Und er muß eines Tages alle Halbheiten überwinden und als sein oolerum osnsso erkennen: Trennung von Kirche und Staat. Ast eine Reform -es Velei-igunas- prozesses rvniischenswert? Ter Prozeß Moltke wider Harden hat viele veranlaßt, den Be- leidigungsprozeß in seiner jetzigen Gestalt einer kritischen Würdigung zu unterziehen. Das Ergebnis der Kritik war zumeist, daß der Beleidi- gvngsprozeß in seiner dermaligen Form als unzulänglich befunden wurde. Während man sonst immer für die Beteiligung des Laien elements in der Rechtspflege eintritt und das gesunde Urteil des schlichten Mannes aus dem Volke preist, - sollen mit einem Male ein Milchböndler und ein Schlächtermeister nicht geeignet sein, den Ehren- handel eines gräflichen Generals mit einem geistig überaus gewandten Journalisten zu entscheiden. Der arg verpönte grüne Tisch, von dem aus die Fachjuristen bekanntlich alles aburteilen, kam in den Spalten vieler Zeitungen plötzlich zu ungeahnten Ehren. Es ist nicht zu verkennen, daß mehr die Stimmung des Augenblicks, als die ruhige Ueberlegung in den abfälligen Ausiprüchen über das Schöffengericht vorwalten. Trotzdem ist nicht zu verkennen, daß dieses und jenes im deutschen Bcleidigungsprozesie verbessert werden kann. Es sei daran erinnert, daß in früheren Zeiten Beleidigungen und Körper verletzungen vielfach im Wege des Zivilprozesses verfolgt wurden. In derartigen Nügevrozessen konnte sogar zugunsten des Angeklagten aus Neinigungseide erkannt werden. Durch 8 11 des Einsührungsgesetzes zur Strasprozeßordnung ist all das endgültig abgeschafft worden. Jetzt ist dem Beleidigten zur Verfolgung der angetanen Ehrver letzung in der Strasprozeßordnung die Pxipatklage beim Schöffengerichte gegeben worden. Der Klageerhebung soll ein Sühneversuch vorausgeben, wenn die Parteien in demselben Gemeindebezirke wohnen. Vergleichs- , behördc ist in Sachsen der Frieden,rich^r, i» Preußen der Schiedsmann. Der Friedensrichter wie die Scho.jcn gehöre» zumeist dem er werbenden Mittelstände an. In den großen Städten besteht insbeson dere für Schöffen ein großer Bedarf. Die Großkaufleute sind zumeist Handelsrichter oder stehen mit den Rittergutsbesitzern des Gerichts- bezirks auf der Vorschlagsliste der Geschworenen. Ärbeiterschöfsen sind ja schon jetzt nach dem Gcrichtsversassunqsgesetze möglich, werden aber tatsächlich nur in ganz verschwindenden Ausnahmesällen gewählt. Von akademisch Gebildeten erscheinen hier und da die Gymnasiallehrer auf der Schösfenbank. Die Aerzte können das Amt ablehnen. Die Reli gionsdiener und die Volksschullehrer sollen nicht berufen werden. Offiziere im Ruhestand sind zum Schöfsendienste fähig, auch recht gut geeignet: man findet sie im allgemeinen aber selten auf der Liste. Man kann überhaupt nicht sagen, daß sich die Leute zum Schöffen- und Ge schworenendienste drängten. Der Schössendienst in Privatklagesachen ist nun gewiß im allge meinen furchtbar öde. Was wird da alles verhandelt. Wenn Frau Müller in der Dieskaustraße beim Treppenreinigen nicht unter dem Abtreter von Schulzes Tür gekehrt hat, gibt's einen Wortwechsel. Beide Frauen lausen zum Friedensrichter. Äon dort geht's nach dem erfolglosen Sühneversuch aufs Gericht. Das ist der Grundtypus des Ehrenhandels, von dem es verschiedene Abwandlungen gibt. Statt des Trcppenkehrens ist das Waschhaus, der Trockenboden, der Kellerschlüsscl oder sonst etwas die Quelle des Zwistes und der reichlich sprudelnben Schmähreden. Auf derartige Dinge ist das Verfahren zugeschnitten. Für solche Streitsachen ist das Gerichtspersonal eigentlich zumeist zu kostspielig und zu reichlich. Man kann schon aus finanziellen Gründen nicht verlangen, daß die Schöffengerichte dauernd und überall so ein- gerickstei seien, daß sie den Ausnahmeansorderungen, die ein Prozeß, wie der Moltkes wider Harden, stellt, spielend genügten. Das würde auf eine unnütze Kraftvergeudung hinauslausen. Die Justiz ist so schon in hohem Maße Zw'chußverwaltung. Es erhebt sich aber die Frage, ob nicht die Zusammensetzung des Schöffengerichts elastischer gemacht werden könnte. Die Geschäftsver teilung könnte vielleicht etwas Helsen. Es gibt gewisse Grundtupen von Beleidignngsfällen. Diese könnten bestimmten Abteilungen des Schöffen gerichts zugeteilt werden. Bei der Feststellung der Reihenfolge der L-chöfteneinberufung könnte Rücksicht auf ihre Eignung für diese oder jene Abteilung genommen werden. Nm das zu ermöglichen, wäre eine Aenderung des 8 45 des Gerichtsverfassungsgesetzes nötig. Wir würden dann in den großen Städten bei den Schöffengerichten etwa Abteilungen für Beleidigungen unter Hausmitbewohnern, für Beleidigungen in Lohnkämpfen, für Preßbeleidigungen, kür Beleidigungen bei Erb- streiten «sw. erhalten. Würde dann vielleicht noch den Schöffengerichten dieselbe Möglichkeit eröffnet, die den Gewerbegerichten schon gewährt ist, daß sie nämlich Beisitzer für bestimmt geartete Fälle äußer der Reibe einberufen könnten, fo ließe sich das Gericht seiner Aufgabe im einzelnen Falle schon besier anpassen. Man könnte auch den Parteien das Recht einräumen, auf die Zusammensetzung des Gerichts Einfluß zu nehmen. Jetzt bat nach 8 24 der Strasprozeßordnung der Privat kläger wie der Angeklagte nur daS Recht, vorher die Namen der zur Ent scheidung berufenen Richter z« erfahren und einzelne Gerichtspersonen wegen Besorgnis der Befangenheit abzulebnen. Man könnte nun den Parteien des BeleidigungSprozesies das Recht der Wahl unter den schösfenbaren Männern geben. Mit der Zufertigung der Klage oder des ErössnungsbeschlusseS könnte den Parteien eine Frist zur Ein reichung eines RichterbvrH1<Ves bestimmt werden. Der von der einen Partei Vorgeschlagene wtich der anderen Partei namhaft gemacht. Wenn auch unter den Bgpteiän im Beleidigungsvrozeß häufig Erbitte rung herrscht, so wird sich doch der Argwohn sicherlich nicht zu häufig auf den vorgeschlagenen Schöffen erstrecken. Befurchtet man bei dieser Sachgestaltung zu viele Ablehnungen, so soll man den Parteien we nigstens die Möglichkeit gewähren, sich über die Personen der Schöffen zu einigen. Die Person oe- Vorsitzenden ist ja noch wichtiger, wie die der Schöffen. Die voraeschlaaene Geschästsverteilung wird da manches nützen. In einzelnen lächsischen Gerichten batte man schon jetzt sog. fliegende Sektionen eingerichtet. DaS sind keine festen Abteilungen deS Schöffengerichts: ihnen ist nicht im Geschäftsplane eine bestimmte Arbeit von vornherein vorgeschrieben. Vielmehr geben die ständigen Ab teilungen an die fliegenden Sektionen einzelne Sachen zur Bearbeitung ab. Lausig werden auf diele Weise „große Sachen", die sich nicht gut in den überlasteten Terminkalender der festen Abteilungen eingliedern, an die fliegende Sektion gebracht. So ist es gekommen, daß z. B. in Leipzig einzelne politische Prozesse und Preßbeleidigungssachen vor jüngeren HilsSrichtern, und »war zur vollen Zufriedenheit der Oessent- lichtest, verbandelt wurde«. Ueberbaupt liegt es zumeist nicht so sehr am Alter deS Richters, wie an seiner Elastizität und der Tüchtigkeit, vor der jeder von selbst Achtung hat. Gar zu jung kann übrigens jener Berliner Amtsrichter nicht gewesen sein. In Berlin geht der Richter- ernennung eine mindestens siebenjährige Astessorenzeit voraus. Einen Schutz muß man auch dem Privatkläger dagegen gewähren, daß sein Privatleben und seine Vergangenheit ohne zwingende Not wendigkeit in die Öffentlichkeit gezerrt wird. In 8 244 Abs. 2 der Strasprozeßordnung ist dieser Schutz nicht enthalten. Die Stellung deS Verteidigers im Strafprozesse bedarf im allgemeinen der Verstärkung. Hardens Verteidiger bat diesen Bestrebungen nicht genützt. Berliner Tust. Berlin, 2. November. Die Schmutzflut ist noch lange nicht abgelaufen. Die Homofexuali- tät scheint Trumpf zu werden in dieser Saison. Denn kaum haben sich die Türen des Sitzungssaales geschlossen, in dem ein alter General vor allen Blicken entkleidet worden, da wird schon eine neue Sache aus gerufen: Brand kontra Bülow. Offiziell zwar ist auch in der für den Mittwoch angcsetzten Gerichtsverhandlung der Publizist der Angeklagte. Aber jedermann weiß, daß er es nur pro ckorniL ist. Der eigentlich Beschuldigte ist der Reichskanzler, wie es in dem Sensationsprozeß der vorigen Woche der klagende Graf war. Aber der kov""--be Prozeß wird wie ein Satyrspiel wirken nach dem pikanten Drama, das sich soeben abgespielt hat. Adolf Brand ist kein Maximilian Harden. Es ist jener ominöse Heißsporn, der einmal den Zentrumsabgeordneten Dr. Lieber vor dem Reichstagsgebäude mit der Hundepeitsche bedrohte, es ist der sattsam bekannte Herausgeber der 'narchistischen Zeitschrift „Der Eigene" die der Männerliebe verlogene Hymnen sang und nach kurzem Bestehen unter mancherlei Verwandlungen lautlos entschlief. Mit dem kleinen Finger seiner linken Hand wird der Reichskanzler sich dieses Gegners erwehren können. Berlin aber hat wieder sein Svek- takulum. Schon jetzt drängt sich, wer irgend über freie Zeit verfügt, zu der Verhandlung, von der man sich allerlei Erbauliches erwartet. Zur selben Zeit, als Harden und sein Rechtsanwalt das intellek tuelle Präsidium im Gerichtssaale führten, wurde im Wiederaufnahme verfahren gegen einen andern Berliner Publizisten verhandelt, der zwar an Bildung und Wissen weit hinter Harden zurücksteh., der aber in seiner Art ebenfalls einen ehrlichen Versuch gemacht hat, verdächtige Zustände im sittcnpolizeilichen Wesen aufzudecken. Karl Schneidt, der in Berlin immerhin eine Gefolgschaft hat, besitzt natürlich weder die taktische Ueberlegenhcit, noch die wertvollen Hilfsguellen, über die- ein Harden gebieten kann, er vermag nicht die ganze Mockitfülle einer starken und allbekannten Persönlichkeit iw die Wagschale zu werfen, er tritt seinem Richter nicht mit dem Nimbus gegenüber, ben ein klangvoller Name nun einmal verleiht. Karl Schneidt sah sich neuerdings verurteilt, da die Sittenschntzleute unter ihrem Eide das Gegenteil von dem für wahr erklärten, was der Angeklagte behauptet hatte. Diese Beweisführung ist natürlich unendlich viel schwieriger, ja sie wirb für den einzelnen mit unter zur Unmöglichkeit. Und Herrn Schneidt widerfuhr etwas viel Schlimmeres als Herrn Harden: seine Kollegen kümmerten sich über haupt nicht um seinen Prozeß. Harden batte keine „gute Presse", aber Schneidt hatte überhaupt keine. Etwas Peinlicheres kann es für einen Journalisten nicht geben. Eine glänzende Presse aber hatte Caruso. Das üble Abenteuer im Affenhaus, von dem vor gar nicht langer Zeit die Blätter berich teten, hat für den Künstler Caruso keinerlei nachteilige Folgen gei-abt. Ein Skandälchen, das einem Offizier die berufliche und gesellschaftliche Position kosten kann, wird dem Künstler viel milder gedeutet. Die Be- geisterung für Caruso nahm in Berlin fast fanatische Formen an: eine Tageszeitung schrieb, seine gesangliche Leistung „spotte jeder Befrei- bung", 40 000 Billetts waren im voraus bestellt worden! Und obwohl der Sänger an zwei Abenden merklich indisponiert war, übertraf er doch alle seine Kollegen vom hohen 0. Daß in diesem Taumel, der schlechterdings alle ergriffen hatte, einige absonderlich veranlagte Frauen gänzlich um ihren Verstand gekommen sind und sich dieser ver führerischen Kehle mit ihren Lippen ä tont prix bemächtigen wollten, das kann besonders in diesen erotisch parfümierten Tagen nicht weiter verwundern. Man wundert sich in Berlin überhaupt über nichts mehr. Dem deutschen Kleinstädter mögen sich die Haare vor Entsetzen sträuben, wenn er von den sexuellen Absonderlichkeiten hört, die einige Tage hindurch das ständige Flüsterthema gewesen sind, ein echter Berliner Junge läßt sich dadurch keineswegs aus dem Gleichgewicht bringen. Diverse Ber liner Buchhandlungen haben längst für die nötige Vorbildung gesorgt. Man braucht sich nur die Auslagen hinter den Ladenfcnstern flüchtig anzusehen, man braucht nur einen Blick auf das Gewimmel ftrueller Literatur zu werfen, das sich dort unter der Flagge wissenschaftlicher Forschung breit macht, und man braucht nur von ungefähr zu beobach ten, wie sich die Jugend völlig ungeniert um diese Auslagen drängt. Knirpse, die keinen deutschen Satz fehlerfrei zu schreiben imstande sind, liebäugeln mit dieser Literatur und verlangen stotternd einen oder den andern dieser interessanten Bände; junge Mädchen, die eben erst von der Schule ins Geschäft übergegangen sind, „bilden" sich aus diese Weile. In einer kleinen Stadt, wo einer dem andern auf die Finger sieht, geniert sich mancher, solch eine Lektüre zu verlangen, aber in Berlin.... da handelt es sich höchstens um die Ueberwindung einer peinlichen Minute, da wirb der Mut, solche Bücher zu kaufen, schon durch bas Bewußtsein gestärkt, daß man nicht der einzige Käufer ist. Der Mann, der diese Dinge verkauft, ist diskret, er fragt nicht und bringt seinen Kunden nicht in Verlegenheit, er ist ja außerdem daran gewöbnt, daß ein Bengel, der eben erst die langen Holen angezogen hat, ein Buch über das „dritte Geschlecht" oder über die „Lasterhöhlen der Groß stadt" verlangt. Geschäft ist Geschäft, und wo es auf der Friedrich- straße fünf Groschen zu verdienen gibt, da gerät die Moral ins Hinter treffen. Der jungen Generation in Berlin konnte also der Moltke- Harden-Prozeß bei weitem nicht so imponieren, wie dem harmlosen Kleinstädter. Die Saison steht im Zeichen der Homolerualität. Ick, sagte es schon. Männer empfinden wie Weiber und Weiber aeberden sich wie Männer. Es wird immer lieblicher. Die Vertauschung macht auch im beruflichen Leben weitere Fortschritte. Jetzt haben wir die erste weibliche Droschkenchausfeuse. Eine Adlige natürlich. Wun dert Sie das? Berlin ist darin nicht einmal originell, denn Paris hat seinen weiblichen Droichenkutscher schon lange. Eine Frau von Pavv, die Witwe eines ungarischen Rechtsanwalts und Gutsbesitzers, bat so eben ihr Cbaufseusenexamen bestanden und fuhr am Donnerstag nach mittag durch die erstaunte Menge. Der Berliner Witz stürzte sich mit Heißhunger aus die resolute Wagenlenkerin. „Kiek mal, det iS ja en Mächen!" war noch einer der gelindesten Ausrufe. Aber es wird nicht lange dauern, so wird auch diele Erscheinung im Berliner Straßen leben nicht mehr auffallen. Der „fliegenden Wurst", dem lenkbaren Luftschiff, bas über den Straßen Berlin? fast täglich manövriert, 'chenkt man schon kaum mehr einen Blick. Auch die Chauffeuse wird sehr bald eine normale Erscheinung sein. Nur vor einem Beruf scheinen die Frauen eine merkwürdige Scheu zu haben: eS gibt noch keine weiblichen Barbiere. Warum eigentlich nicht? Ich kann mir daS sehr nett denken. Welche Perspektiven ergeben sich da! Und ich ftbe wirklich nicht ein. warum haben wir nur Masseusen und keine Raseusen? Wer würde sich nicht gern einseifen lasten von — einer schönen ^rau? I». 2.
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