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Leipziger Tageblatt und Handelszeitung : 04.08.1907
- Erscheinungsdatum
- 1907-08-04
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id84535308X-190708041
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id84535308X-19070804
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-84535308X-19070804
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- LDP: Zeitungen
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- Wahlperiode
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Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Handelszeitung
- Jahr1907
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Bezug--Preit für Ltipjia und Vororte durch nufer« Träger und Spediteure in» Hau« gebracht: Ausgabe t (nur morgen«) vierteljährlich 3 M., monatlich 1 M.; «utgabe » (morgen« und abend«) viertel, jährlich 1.50 M., monallich 1.50 M. Durch di« choA be,vaen: (2 mal täglich) innerhalb Deutschland« und der deutschen Kolonien vierteljährlich 5,25 M-, monatlich 1,75 M. auischl. Post, bestellgeld, für Oesterreich S U 66 5, Ungarn 8 L vierteljährlich. Abonnement^lnnahme: Augustu-Platz 8, bei unseren Trägern, Filialen, Spediteuren und Annahitteftellen. sowie Postämtern und Briefträgern. Die einzelne Nummer kostet Ist Pfg. «edaktion uud Expedition: JohauutLgassc 8. Telephon Nr. 14692, Nr. 14698, Nr. 146S4. Berliner «edabtton« -Bureau: - Berlin bl>V. 7, Prinz Loui« Ferdinand- Straße 1. Telephon I, Nr. 9275. Nr. 214. Morgen-Ausgabe 8. WpMtrTagMM Handelszeitung. Nmlsvlatt -es Rates und -es Nolizeiamtes -er Lta-t Leipzig. Anzeigen Preis fstr Inserate au« Leipzig und Umgebung di« 6gespalten« Petitzeile 25 Pi , stnanzielle Antigen 8Ü Pf., Reklamen 1 M. ; von au«wärt» 30 Pf., Reklamen 1.20 M. vom Au«land5OPs., stnanz. Anzeigen 75 Pf. Reklamen 1.50 M. Inserate v. Behörden im amtlichen Teil 40Pf Bcilagczebüdr 5 M. p. Tausend cxkl. Post gebühr. Geschlst.'anzeigen an bevorzugter Stelle im Preiie erhöht. Rabatt »ach Tarif. Festerteilte Aufträge können nicht zurück gezogen werden. Für du« Erscheinen an bestimmten Tagen und Plätzen wird keine Garantie übernommen. Anzeigen-Annahme: Pugustusplatz 8. bei säintliche» Filialen u. allen Annoncen- Expeditionen de« In- und Auslander. Haupt Filiale Berlin: Earl Duncks , Herzog!. Bahr. Hofbuch handlung, Lützowstratze 10. (Telephon VI, Nr. 4603). Sonntag 4. August 1907. .' . 101. Jahrgang. Dar wichtigst- vom Tage. * Der DeutscheKaiser hat, einem Wunsche des SultanS entsprechend, zum Oberschiedsrichter in dem Streite zwi schen der türkischen Regierung und den Orientalischen Bahnen den spanischen Staatsminister Sigismund Moret er nannt. * InMadrid herrscht große Besorgnis wegen des Aus gangs der marokkanischen Intervention, die nach dor tiger Auffassung zu einem Weltkonflikt führen könnte. Das gesamte spanische Geschwader wird in Cadiz bereit gehalten. IS. Ausl.) * Der Aus st and der Kohlenarbeiter in Belfast ist beigelegt worden. IS. AuSl.j * Das von den seismographischen Instituten in Potsdam und Leipzig verzeichnete Erdbeben hat in der Herzegowina stattgefunden. IS. Neues a. a. W.j * Der Staatsminister Dernburg ist mit dem „Feld marschall" in Dar eS Salam eingetroffen. IS. Dischs. R.j * Die Literarkonvention mit Frankreich ist rati fiziert. IS. Dtschs R.s * Der deutsche Dampfer „Teutonia" ist im Persischen Golf an der arabischen Küste gestrandet. Das Schiff ist verloren, ein Teil der Besatzung soll gerettet sein. (S. Neues a. a. W.) Lasablanca. Nachdem die Algeciraökonferenz getagt und die Mächte Europas sich mehr schiedlich als friedlich über die Zukunft Marokkos geeinigt, erwartete die Welt von dem Gölte uud Reiche, dem daS offizielle Protektorat trotz des guten Willens Frankreichs erspart blieb, zum mindesten ein ruhiges und gesittetes Betragen als Voraussetzung sür eine weitere Schonung seiner nationalen Selbständigkeit. In Frankreich allerdings gab cs genug tatenlüsterne Politiker^ denen ein marokkanischer Zwischenfall sehr gelegen gekommen wäre. Sie bofften nicht nur auf eine Auffrischung der Gloire, sondern auch auf sehr greifbare und finanziell sehr gut zu verwertende Objekte, die der Spekulation neue Felder eröffneten. Es lag also im Interesse deS SultanS, der, trotz der Zurückhaltung Eng lands und Deutschlands Eintreten für das Prinzip der offenen Tur und die Selbständigkeit des ScherifenlandeS, sehr wohl die Absichten seiner Nachbarn und die Gefahren für seine Herrlichkeit kennt, alles zu vermeiden, was Frankreich und Spanien neue Handhaben zur Intervention bieten könnte. Die Wegnahme Udjdas, die Entsendung französischer und spanischer Schiffe au die marokkanische Küste bewiesen ihm deutlich, dah die Zeiten vorüber seien, in denen Mohammed el Torres uud andere m Kniffen uud Pfiffen erfahrene Unterhändler mit diplomatischen Instrumenten einen schützenden Wall gegen das lüsterne Abendland um Marokko bauten, und daS AuSspielen einer europäischen Macht gegen die andere geht nicht mehr an in eiuer Zeit, in der die Mächte deS Abendlandes Frankreich und Spanien das Amt der Ruhestiftuug wenn auch stillschweigend, so doch tatsächlich übertragen haben. Jeder ernste Zwischenfall mußte daher der Macht deS Sultans verhängnisvoller werden als alle Prätendenten vom Schlage Bu HamaraS. Frankreichs Bataillone und Kreuzer sind gefährlicher als di« Horde«, welche das .Kriegführen* als gute Gelegenheit zum Hammelsteblen und Leuteschinden benutzen, schließlich aber doch in dem Oberhauvte aller Gläubigen deS Mahreb, trotz aller seiner menschlichen Schwächen und unklugen Verstöße gegen geheiligte Traditionen, noch immer den Nachfolger des Propheten respektieren. Und Frankreich sieht in Marokko trotz des Kaiserbesuchs in Tanger, trotz der Konferenz noch immer ein Gebiet, daS dem Schicksal Algiers und Tunis' verfallen ist. Das weiß man auch im Maghzen ganz genau, uud wenn auch der Sultan selbst über eiue stattliche Dosis Größenwahn verfügt, so ist er dennoch von der Gefahr überzeugt, die ihm gerade von Frankreich her droht. Mau haßt in der rechtgläubigen Welt Afrikas den Franzosen als Militär seit den Tagen Abd el Kaders glühend, aber man fürchtet ihn auch, mehr als alle anderen Un gläubige«. Die blutigen Lektionen, welche die algerischen Truppen den Marokkanern von Zeit zn Zeit gegeben, find unvergessen. Den Spanier sürchtet man durchaus nicht, ma« verachtet ihn, und trotz des Vertrages von Tetuau, der der Krone Kastilien einige Millionen Entschädigung und den Hafen Santa Cruz de Mar Pequeüa bei Agadir — den leider eine Kommission spanischer Seeosfiziere und Geographen lange Zeit vergeblich zu ermitteln suchte — brachte, ist die Achtung vor dem spanischen Namen nicht höher gestiegen. England schied vermittels seiner völlig abwartenden Stellung aus dem Konzern der Mächte anscheinend aus — man sah und sieht in den Franzosen also die Feinde, denen der Haß und der Kampf der Rechtgläubigen zu gelten hat. Daß dieser Kampf aber kein theoretischer bleiben würde, konnte man aus verschiedenen Zeichen merken. Marokko ist die Heimat und das Staudlager der Sevufst, jener fanatischen Sekte, di« den Haß gegen Christen und Inden nicht einschlafe« läßt. An der Grenze von Tunis überfielt« ihre Anhänger französische Streifreiter, tief im Sudan, am Tschad, in Bagnun, am Kanem regte« sich die Gläubigen, und auf dem Bode«, wo einst mutige Eroberer wie Foureau-Lamy die Trikolore Frankreichs aufpslanzte«, knallten aufs neue die Hinter lader, die heute auch der Eingeborene deS Sudans statt der alten Kabyleufliutea führt. Der Haß gegen die Franzosen fraß weiter «m sich, und rS wär« ei« Wunder aewesen, wen» bei der völligen Ohnmacht des SultanS a« der Küste der Friede gehalten worde« wäre. Fürchtet ma« an der algerischen Grenze den Franzose« als Soldaten, so haßt man ihn m denKüstenplätzen darum, weil die französischen Konsulate mcht immer klng bei der Erteilung ihrer Schutzbriese ver fuhren, ja zum Teil sogar selbst von Leuten verwaltet wurden, die vou den Rechtgläubigen nicht immer ohne Grund aufs tiefste gehaßt wurden. Morde und Mordversuche in früheren Jahre« Ware« der Ausfluß dieser Stimmung. Ueber Nacht ist dieser Haß zum Ausbruch gekommen. Die Zeiten schienen den gewalttätigen Kabyleustämmen aa der ozeanischen Küste, in denen da« alte Piratenblut noch fließt, den ränkesüchtigen Beamten, dem verwegenen und fanatischen Pöbel günstig, seine wahre Gesinnung gegen die .Christenhunde* und die verachteten Ghetlo- jude« zu offenbaren. Die MafsakreS von Casablanca waren da- Resultat. Die Schuld daran trifft in erster Linie daS System, daS man in Marokko Regierung nennt. Der Sultan, der sich vor den Mächten Europas den Anschein gibt, wirklich Herr im Hause zu sein und von ihnen als ein wirklicher Souverän behandelt wird, hat jetzt klar bewiesen, daß seine Macht an der Küste tatsächlich gleich Null ist und er wohl die Zölle der wenigen Häfen gern nimmt, aber nichts für die Sicherheit der Küste tun imstande ist. Raisuli machte vor der Welt die Probe darauf. Diese RäuberhauptmannSkomödie, die sich vor den Augen der Welt abspielt und in der England klugerweise sich durchaus nicht für den Schotten Mac Lean ins Zeug zu legen scheint, ist eine böse Satire auf die Gewalt Sr. Majestät des Sultans. Raisuli behandelt den Sckerifen und seine Abgesandten ganz richtig, den» er weiß, daß dem Herrscher der Gläubigen bas fehlt, was nach Monte- cuculi die allererste Vorbedingung zum Kriegsühren ist: Geld. Alle Drohungen und das Aufgebot der edlen Schar Mac Leans nimmt Raisuli ganz richtig als unschädliche Demonstrationen einer brüchigen Regierung, der im Gründe genommen die Europäer im Lande genau so verhaßt sind als dem fanatisierten Pöbel, die aber aus dem Triebe der Selbsterhaltung wenigstens ein leidliches Verhältnis mit dem Auslande zu erhalten sucht. Die Unruhen im alten Hafen, den die Spanier und mit ihnen die Europäer Casablanca uud die Eingeborenen Dar el Beida nennen, kommen ihr daher mehr als ungelegen. Einmal offenbaren sie der Welt aufs neue, daß die angebliche Macht der Regierung in Fez nur ein sehr schlecht gemaltes Prospekt ist, dann aber droht die Intervention Frankreichs, dem Sultan auf Jahre hinaus die bestell Einkünfte zu nehmen, die er überhaupt besitzt. Durch eine Politik engherzigen Eigen nutzes haben die Sultane von Marokko den gesamten Handelsverkehr der ozeanischen Küste und ihres weiten und reichen Hinterlandes auf die wenigen Häfen zu beschränken gewußt, die den Europäern offen stehen. An der langen Küste von Tanger südwärts bis zur Grenze des spanischen Rio de Oro giebt es freilich Buchten und Reeden genug, wenn sie auch alle gegen den plötzlich aufspringenden Norbwest ziemlich wenig Schutz bieten, aber der Eigennutz deS Sulians ist stark genug, um den Handel mit dem Sudan, den Ländern des Atlas und Anti-AtlaS, der nach der Küste geht, auf die wenigen Plätze zu beschränken, die er faktisch in der Gewalt hat. Larasch (El Araisch), das uuS der leider so früh verstorbene Dr. Genthe so anschaulich schildert, Mogador, Magazan und Cassablanca sind neben Tanger die wichtigsten Hasen Marokkos für den Verkehr mit der übrigen Welt. Alle Versuche europäischer Gesellschaften, weiter südlich Nieder lassungen zu gründer» wie -S die euzlijcke Mack-nziegesellschaft am Kap Iuby tat uud unsere leider verunglücke HandetSexpedition unter Dr. Iannasch 1888 am Wad Schivika beabsichtigte, hat die Re gierung in Fes durch Aufwiegelung der Kabylen zu vereiteln gewußt und duldet auch nicht, daß gute Häfen im Süden, wie Agadio und Asaka dem Verkehr eröffnet werden, lediglich, um den ganzen Verkehr in wenigen Häfen, in denen sür schwere Schiffsabgaben und Zölle nicht das Geringste für Leuchtfeuer und Betonnung der Küste geschieht, unter ibrer habgierigen Kontrolle zu haben, die weiter im Süden, wo die Oberhoheit deS Sultans über die Kabylen nur sehr fragwürdig ist, leicht illusorisch werden könnte. Legen Frankreich und Spanien also Hand auf Casablanca und seine Zölle, nehmen infolge der Entschädigungsansprüche und etwaigen ErpeditronSkosten auch die Einkünfte anderer Zollämter in Aufsicht unv Anspruch, so ist dem Sultan die beste Geldquelle unangenehm verstopft. Da aber Habgier neben blindwütigem Fanatismus die einzige Triebfeder aller marokkanischen Politik ist, so wird man irr Fes nunmehr alles aufbieten, um die ver haßten Abendländer nicht in die ergiebigen Häfen hineiuzulassen. Die Polizeiverwaltung war schon eine Konzession, die das Volk zwar er bitterte, aber der .Regierung* in FeS nicht allzusehr an die Selbst ständigkeit ging, eine Besetzung Casablanca- würde den Sultan und seine Ratgeber sehr lebendig machen. Die europäische Politik wird einstweilen wenig von den Ereignissen berührt. Höchsten- könnte man die Einladung an Italien, bei der Kriegsfahrt gegen Marokko mitzutun, als einen neuen Beweis dafür ansprechen, daß man in Paris und Madrid mit der lateinischen Allianz im Mittelmeer rechnet und auf Italien Erwartungen setzt. Deutschland hat — falls nicht auch Deutsche in Mitleidenschaft gezogen find — einst weilen gar keinen Grund, irgend welche Vorbereitungen zu einem Eingreifen zu treffen. Der marokkanischen Regierung wäre allerdings ein Eintreten unsererseits sür sie sicherlich nichts Unerwünschtes, und auch bei uns werden Stimmen laut, welche die Ereignisse in Casablanca als Gelegen heit ansprechen, da- Ansehen Deutschlands in der mohammedauischrn Welt, daS bei der Akabaaffäre nicht unbeschädigt geblieben ist, durch kraftvolles Auftreten wieder auf den alten Stand zu bringen. In Wahrheit werden wir, so lange Frankreich und Spanien innerhalb des Algecirasabkommev« handeln, mit Gewehr bei Fuß zusehen. Völlig falsch wäre es, Sympathien sür die Marokkaner zu entwickeln, weil sie Feinde der Franzosen sind. Das würde einmal ganz falsche Vorstellungen von Charakter und Absichten der deutschen Politik überhaupt bei den Franzosen erwecken, dann aber Ansichten in Marokko bestärken, die nicht nur den französischen und spanischen An- gehörigen, sondern den Europäern überhaupt verhängnisvoll werden würden. Marokko hat heute für di« europäische Politik die Roll« über nommen, die bisher der Balkan und seine interessanten Völker kraft alter Gewohnheit spielten. Wir können jeden Taa Ueberraschungen erleben, die für die europäisch« Konstellation verhängnisvoll werden können. Sehr kaltblütig die Dinge verfolgen, ist einstweilen sür uns da- Programm. Aber eS ist die Frage, ob wir lange mit diesem aus- kommen. DaS hängt voa unseren Nachbarn im Westen ab. Der Adel nnd dir bürgerlich« Gentry in Sachs««. Wir sehen jetzt in Dresden das eigenartige Spiel einer Spaltung der Konservativen. ES aärt und kriselt ein wenig. Auf der einen Seite der LegationSrat v. Nostitz-Wallwitz und die in Sachsen ja seit alterS immer noch vorwiegend konservative Beamtenschaft, auf der anderen Seite die Herren Otzitz-Treue« und Mebnert-Medinaen mit ihrem An hang«. Die Gegensätze sind nicht von heute und gestern. Man werfe einen Blick rückwärts. Noch zu Zeiten deS Herrn v. Beust, unter König Johann und im Beginne der Regierungszeit des Königs Albert, nahm der Hof Einfluß auf die Staatsgeschäfte. Der Hofadel war politisch interessiert und politisch rege. Nach der Gründung des Reiches wurde Berlin das politische Hirn Deutschlands. Der Hof verlor das poli tische, auch daS innerpolitische Interesse. König Albert schenkte seine Hauptaufmerksamkeit dem Heerwesen. Während seiner langen Regie- rungSzeit verlor sich die Anteilnahme seiner Umgebung an den poü- tischen Dingen. Während der kurzen Reoierungszeit des Königs Georg, der in den Staatsgeschäften wohl bewandert war, konnten sich die Dinge unmöglich ändern. Jetzt haben wir das Ergebnis der Entwickelung der letzten drei oder vier Jahrzehnte vor uns. Der Hofadel, der durch die Person des Fürsten und seine in hohen Aemtern stehenden Mitglieder einen starken Einfluß auf die Staats geschäfte zu üben gewöhnt war, sieht sich abgedrängt. Die Ausschaltung ging allmählich vor sich: plötzlich wurde man ihrer gewahr. Jetzt will man den alten Einfluß zurückgewinnen. Man hat aber in der Zwischen- zeit vieles versäumt. Wer in den letzten Jahrzehnten in Leipzig die Rechte studiert und in Dresden die zweite juristische Staatsprüfung ab gelegt hat, wird wissen, dah ein sächsischer Adliger, der wirklich etwas gelernt hatte, als weißer Rabe galt. Man hatte es nicht nötig, etwas zu lernen. Das, was man brauchte, um ein Amt auszufüllen, das brachte man aus der Kinderstube, dem Milieu, dem man entsprossen war, mit, wenn's nicht gar angeboren war. Wer einmal durch die Prüfung fiel holte die bürgerlichen Altersgenossen, bereits bei der Ernennung zum Bezirksassessor wieder ein. Die Mehrzahl der Adligen des Landes widmete sich noch dem Heeresdienste. Aber auch hier kamen ihnen bei der stetigen Stellenvermehrung die Bürgerlichen bedenklich voran. Zahlreiche höhere Stellen wurden auch mit tüchtigen Welfen besetzt. In >er Landwirtschaft verlor der Landadel schließlich die Führung gänz- ich. Viele Adelsfamilien hatten ihre Güter verpachtet. Die Pächter, amilien saßen bisweilen zwei oder drei Generationen hindurch auf der- clben Scholle: dann kauften sie sich Güter. Diese Entwickelung ist bei einer ganzen Reihe von Familien zu beobachten: sie bilden den Stamm unserer bürgerlichen Gentry. Dazu kommen dann noch einige andere, deren Grundbesitz mit Mitteln erworben wurde, die nicht auf der Scholle, sondern in den Stödten, im Handel verdient sind: aber auch diese Familien sitzen schon seit mehreren Geschlechtern auf ihren Gütern-, einzelne errichteten sogar Familienfideikommisse. Die Familien der bürgerlichen Gentry sind bereits ziemlich verzweigt und miteinander verschwägert. Ihre jüngeren Söhne dienen dem Staate als Beamte und Offiziere. Wir nennen: die Steiger, Gadegast, Eulitz, Garten, Roßberg. Kasten, Schubart, Knäbel Häynel, Uhlemann, Krafft, Platz mann u. a. m. Ihre Söhne gelten bereits als fähig, Kommandeure von Kavallerieregimentern zu werden. Ja sogar in den Hofdienst wurde ihrer einer berufen: man adelte ihn freilich dann. In der Ersten Kammer erlangte die bürgerliche Gentry starken Ein- fluß. In der Zweiten Kammer hat sie die politische Führung. Der Landadel ging notgedrungen mit ihr. Von der Umgebung des Königs, der Hofgesellschaft, ging eben kaum irgend welcher politischer Einfluß aus. So mußte es zu dem kommen, was man in Sachsen die Neben regierung nennt. Es ist verschieden von dem, was man jetzt in Preußen io nannte. Dort wurde durch unverantwortliche Ratgeber angeblich oer Monarch beeinflußt. Hier bestand die Nebenregicrung darin, daß das Haupt der bürgerlichen Gentry seinen Willen bei den Ministern unmittelbar zur Geltung brachte. Man sprach deshalb ganz treffend von einem Shogunat, indem man an die japanischen Verhältnisse vor 1868 erinnerte. Der Adel, dessen Hauptaufgabe einst im Dienste fürS Gemeinwesen bestanden hatte, der vermöge seiner gesellschaftlich unb wirtschaftlich be vorzugten Stellung sich zu den Führerrollen im Staatsleben und in einzelnen Gebieten des Wirtschaftslebens geboren fühlte, hatte die Führung seinen Händen entwinden lassen. Anfänglich hatte er es nicht gemerkt. Es hatte sich um Neubildungen gehandelt, von denen sich der am Alten hängende zurückhielt. Der Landwirtschaftliche Kreditverein, die Land- und Forstwirtschaftliche Berufsgenossenschaft, die Haftpflicht versicherung wuchsen zu bedeutsamen Einrichtungen empor, die ihrer, seits wieder zu Mächten wurden und di« Stellung dessen festigen, der darüber gebietet. Die bürgerliche Gentry hat der sächsischen Bauern schaft tüchtige Führer gestellt und hat es verstanden, auch dem kleinen Landwirt etwas zu sein. So ist der sächsische Bauer noch dankbar für die lex-Mehnert. das Landesgeseh vom 18. August 1902, und bas Statut der Sächsischen Landwirtschaftlichen Berussgenossenschaft, wo nach die kleinen landwirtschaftlichen Betriebsunternehmer an den Vor teilen der Unfallversicherung teilnehmen. Der Rentenhunger ist nun zwar auch über die Kleinbauern gekommen: die großen Betriebe tragen schwer an der Beitragslast: man hat aber treue Wähler. Das land wirtschaftliche Vereinswesen, das Kreditwesen, das Bildungswesen, das Genossenschaftswesen nahm unter der Führung der bürgerlichen Gentry einen Hohen Aufschwung. Alles hatte zur Folge, daß die bürgerlichen Ayrarierführer, die wirkliche wirtschaftliche und politische Arbeit leisteten, ihre Stellung befestigten und die Vorherrschaft sicherten, so daß sie sogar einen Minister wie Watzdorf stürzen konnten. Gerade die Person Watzdorfs zeigt den Umschwung ber Zeiten. Früher war der Hofadel so stark, daß er einen Mann von der Geschäftsunkunde Watz dorfs in ein wichtiges Staatsamt bringen konnte. Als Watzdorf gehen mußte, waren seine Adelsgenossen nicht mehr di« politischen Drahtzieher, sondern die bürgerliche Gentry. Jetzt rafft sich der Hofadel wieder auf. Sein Auftreten zeigt libe. rale Velleitäten. Er muß sich schon so gebärden. Wenn er Aussicht auf Erfolg haben will, kann er sich mcht gut konservativer geben, als der Medinger Jagdklub. Er muß sich von dem alten Autoritätsgedanken lossagen. Es ist richtig, daß er damit keinen Hund mehr binterm Ofen vorlocken kann. Die blasse Furcht vor dem roten Gespenst ist in unseren Zeiten zur Sache der politischen Greise geworden. Es ist ganz geschickt, wie der Herr v. Nostitz-Wallwitz die Sache beginnt. Er erweckt den Anschein, als wolle unser sächsischer Adel nach der langen Lethargie zeigen, daß er doch etwas lernen könne, und daß einzelne Vitzthume, Nostitze und Welcke nicht bloß weiße Raben sind. Bei allem Wohlgefallen, daS man an diesen Anfängen hat, soll man aber scharf acht behalten auf den weiteren Verlauf der cingeleiteten Entwickelung. Löst unser Landadel nur die bürgerliche Gentry in der Herrschaft ab, und bleibt daS Regiment agrarisch, so ist uns nicht gedient. Man muß genau zusehen, was die Herren gelernt und vergessen haben. Trau — schau — wem! * Wie dem „Berl. Tagebl." ein Privattelegramm aus Dresden mel- det, verlautet in dortigen konservativen Kreisen, der Präsident der Zwei ten sächsischen Kammer, Mehnert, werde nach Ablauf seines Man- dats im Jahre 1909 eine Wiederwahl in den Landtag ablehnen. Betrachtung«« -«> der kaktiire der Instr-statist» im neuesten Statistischen Jahrbuch Die Zahl der Amtsgerichte hat sich seit 1905 um 9 vermehrt, die der Landgerichte um 3, so daß von ersteren jetzt 1942, von letzteren 176 vor handen sind. Die ObcrlandeSaerichte l29j haben sich nicht vermehrt. DaS Oberlandesgericht Braunschweig hat nur ein Landgericht unter sich, das OberlandeSaericht Lreslgu 14. Die Vermehrung der Richterzahl ist außerordentlich groß. Statt 8703 im Jahre 1905 gab eS am 1. Januar 1907 9289 Richter, wozu noch die 120 Richter beim Reichsgericht und beim bayrischen Obersten Landesgericht kommen. Die Zahl der Richter verhält sich zu der der Rechtsanwälte wie 94 : 86. Die Zeit dürfte nicht mehr allzu fern sein,
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