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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 31.07.1896
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1896-07-31
- Sprache
- Deutsch
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-18960731025
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1896073102
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1896073102
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
Inhaltsverzeichnis
- ZeitungLeipziger Tageblatt und Anzeiger
- Jahr1896
- Monat1896-07
- Tag1896-07-31
- Monat1896-07
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Wie sich jetzt herauSstellt, haben die Anarchisten nicht nur einen moralischen Erfolg auf dein tnternatioualc» Doctaltsten-Eongretz davongetragen dadurch, daß die Hälfte der Congreßniitzlieder es ablehnte, gegen die Abweisung der Gegner der deutschen Socialdemokratie zu stimmen, und von dem Rest sich über ein Drittel ausdrücklich für deren Zu lassung erklärte, — sie haben an zwei Stellen auch in der Sache gesiegt und sind aus dem Congreß thatsächlich als anerkannte Glieder der socialistischen Partei vertreten. Die Delegieren der Gewerkschaften, unter denen sich zahlreiche Anarchisten befinden, sind, wie gemeldet, zugelassen worden, und ebenso der Holländer Domela Nieuwenhuis mit seinen Anhängern. Dadurch sind die deutschen Socialdemokraten in einer Weise desavouirt, wie sie empfindlicher gar nicht gedacht werden kann. Liebknecht hat Wochen lang vor dem Beginn des Congresses im „Vorwärts" gerade Nieuwenhuis, über haupt die böte uoirs der „Deutschen", auf das Heftigste und ohne Verzicht auf Schimpsworte angegriffen und die Zulassung des Mannes für ganz und gar unthunlich erklärt. Dem gegenüber will es nichts besagen, wenn der „Vorwärts" jetzt, nachdem man in London unterlegen, erzählt, die Man date von Nieuwenhuis und seiner Anhänger seien als „Mandate von antiparlamentarischen Socialisten" anerkannt worden. Eben den „Antiparlamentarismus" hatte das Organ der „deutschen" Führer mit Anarchismus idcntisicirt und dabei auf Nieuwenhuis als typischen Anarchisteu hingewiesen. Der internationale Socialistencongreß steht also nicht auf dem Standpunct, daß die theoretischen Abweichungen ihrer Lehren die Zusammengehörig keit beider socialrevolutionären Richtungen aus heben. Mit dieser Thatsache werden sich die Herren Liebknecht und Bebel künftighin umsoweniger mit den herkömmlichen Redensarten abfinden können, als ihre speciellen Gesinnungs genossen in Frankreich die Consequenz gezogen und ihr Aus scheiden aus dem Congreß für den Fall ankündigten, wenn sie nicht neben der, wie sie sagen, „unter anarchistischer Flagge marschirenden" Mehrheit der französischen Delegirten als besondere Section anerkannt worden wären. An die Stelle der Frage deS Verbleibens von Anarchisten auf dem Socialistencongreß war also die des Verbleibens von orthodox marxistischen Socialdemokraten getreten. Die Nieder lage der deutschen Socialdemokratie ist aber eine doppelte, weil die (außer den holländischen) zugelassenen Anarchisten in ihrer Eigenschaft als Gewerkschaftsvertreter als zur Theilnahme berechtigt anerkannt worden sind, mithin der von den Herren Bebel und Liebknecht als Concurrenten ge büßten und erst neuerdings höchst geringschätzig behandelten Vereinigungsform eine große Bedeutung vom Congreß zu gebilligt worden ist. DaS ist aber noch nicht Alles. Bisher war die „Unabhängige Arbeiterpartei" Englands als das getreueste Spiegelbild der deutschen Social demokratie auf englischem Boden „diesseits" anerkannt worden. Deren Vertreter hat sich nun für die Zulassung der Anarchisten erklärt! Zu erwähnen bleibt, daß die Darstellung des „Vorwärts", wonach vom ersten Tage an die Anarchisten begonnen hätten, die Rübe der Verhandlungen durch nichtparlamentarisches Verhalten zu stören, falsch ist. Die Socialisten h»ben angefangen. Nach dem Bericht eines Augenzeugen, den die „Voss. Ztg." veröffentlicht, waren die Marxisten von vornherein entschlossen, ihre Gegner nicht zum Worte kommen zu lassen. Als der Holländer Cornellisen sich der Tribüne näherte, versuchte man ibn „niederzubrüllen". Der Mann ließ sich nicht ein schüchtern und drang bis zum Podium vor. Dort aber wurde er von einem jungen Franzosen empfangen und unter dem Gelächter seiner Gegner mit Gewalt auf seinen Platz zurückgedrängt. Als er hier zu sprechen begann, tobte und schrie man unausgesetzt. Der erwähnte junge Franzose trat noch einmal in Action. Er batte die Argumente eines zweiten Redners durch Hinabstoßen von der Tribüne zu widerlegen und erledigte sich dieser Aufgabe „mit aller Körperkrafl". Die Geschichte wird diesem Jüngling den Ehrennamen eines Hausknechtes des Londoner socialistischen VerbrüderungScongresses nicht vorenthaltcn. Ein betrübendes Zeugniß für die ral>w8 tlwologorum liegt heute in einem Angriff des „RcichSbotcn" gegen den Evangelischen Bund vor. „Möchte. . vor Allem die heutige deutsch-evangelische Kirche, belehrt durch so viele und ver- bängnißvolle Irrwege vergangener Zeiten, ihren höchsten Beruf für diese Zeit erfassen: unter Hinwegsetzung über theo logischen und kirchlichen Zwist unser Volk im Lebens grunde deS Evangeliums zu sammeln, daß es Kraft und Ein- müthigkeit gewinne zu dem Kampf, an dessen Ausgang seine Zukunft hängt!" So heißt cs in der Einladung des Evangelischen Bundes zur bevorstehenden Generalversammlung. Der ortho doxe „Reichsbote" überantwortet hierauf unter Berufung auf theologischen und kirchlichen Zwist mit einer Absage an den Evangelischen Bund und einer Werbung für den von Herrn Stöcker geplanten „evangelischen Kirchentag". Der „Reicksbote" schreibt: „ . . . Was an dem Evangelischen Bunde auszusetzen ist und was uns eine Theilnahme an demselben unmöglich gemacht hat, das ist an sich nicht seine Frontstellung gegen Rom. Wir glauben immer gezeigt zu haben, daß auch wir ein offenes Auge für die zur Zeit mächtig gesteigerten Gefahren, die vom Papst und von seinen deutschen Leibschweizern im Centrum drohen, besitzen, daß der Kampf gegen denselben auch uns als ein unentbehrlicher Theil der evangelischen Selbsterhaltung dasteht. Es ist dein Bunde auch zuzugebeu, daß er in seiner Weise diese be rechtigte Ausgabe zu erfüllen gejucht und das Auge manches evangelischen Christen mit seiner Agitation offen gehalten hat. Aber er führt den Kumps gegen Rom falsch und deshalb haben wir in seine Reihen nicht einlreten können. Er führt ihn zunächst auf einem gebrochenen Glaubensgrunde und ist damit von vornherein zu einem Fehlschlag verurtheilt. Mögen in ihn: manche treue Christen auch positiver Richtung, wie sie uns versichern, wirken, der Bund selbst ist dem Glaubens- standpunct nach eine Mischung der verschiedensten Elemente, unter denen die links und mittelparteilich gerichteten sicher überragen. Er hat nur ein Band, die Abneigung gegen Rom, und das ist zu wenig, um selbst nur diesen Kampf zu führen. Die Einigkeit ist hier auf Kosten der inneren Wahrheit geschaffen und dadurch einseitig und unwirksam geworden. Im Kampf gegen den modernen Halb- und Unglauben im evangelischen Lager und darüber hinaus versagt der Bund. Wir haben dies bei den: Apostolicumstreit gesehen. Sollte es inzwischen besser geworden sein, so soll es uns freuen. Der Bund vergißt ferner über einer an sich berechtigten Polemik gegen die römische Propaganda, die übrigens auch sein Organ, die „Kirchl. Corresp.", ziemlich untergeordnet sührt, viel zu sehr die eigene aufbauende evangelische Thätigkeit, die gegen die Papstkirche die beste und nachhaltigste Waffe bildet. Er ist mit einem Wort nach Anlage und Thätigkeit zu negativ angelegt. Gerade das sucht die Idee des Kirchen tages, wie wir sie in großen Umrissen gezeichnet haben und wie sie sich durch die vielen und zum Theil recht klein ¬ lichen Mißverständnisse der Tagespresse im Lande immer freudiger und reiner durchzuringen scheint, zu vermeiden. Sie stellt in ihren Mittelpunct die eigene Buße, den Kamps mit dem eigenen Unglauben und die eigene positive Arbeit an der Volksseele. Sie giebt nicht um ihrer Zwecke willen die innere Wahrheit der gläubigen Genreinscüast preis, sie fordert vielmehr von jedem Theil- nehmer als erste Bedingung das freie, persönliche Bekenntnis) zum Apostolicum und d er Augustana, schasst also eine Grund lage, die von der des Evangelischen Bundes erheblich abweicht und durchaus positiv gerichtet ist. In diesen Nahmen kann man auch einen rechten und erfolgreichen Kampf gegen die römische Propaganda einfügen; daraus ausgeschiedeu, vereinseitigt und verflacht er. Wir möchten hoffen, daß sich die positiv gerichteten Mitglieder les Evangelischen Bundes diesen Erwägungen nicht ver schließen werden nnd darum in Zukunft lieber auf dem Kirchentage Len Ort für ihre Abwehr der römischen Uebergriffe suchen werden. Sie werden dort die beste Erfüllung ihrer Wünsche finden. Daß der Bund zehn Jahre be steht, während der Kirchentag jetzt erst in das Leben treten soll, ist nicht unsere Schuld; wir haben die Idee der Sammlung und Organisation der evangelischen Interessen schon lange Jahre ver treten, ehe noch der evangelische Bund bestand. Wie kann man also sagen, daß wir seine Kreise gestört hätten? Eher hat er unsere Cirkcl verwirrt(i), insofern er viele von dem positiven Ausbau dieser Idee ablenkte.f!)" Wir erblicken in der Thatsache, daß der Evangelische Bnnd die verschiedenen Richtungen in sich vereinigt, einen Vorzug und keinen Fehler; wir vermögen nicht abzusehen, wie eine auf dem Grunde evangelischer Freiheit ruhende Einigkeit „auf Kosten der inneren Wahrheit" geschaffen sein soll; wir bestreiten, daß die „links und inittelparteilich ge richteten Elemente" im Bunde überragen; und wir be haupten endlich, daß die „eigene ausbauende evangelische Thätigkeit", wie sie der „Rcichsbote" versteht, nicht die „beste und nachhaltigste Waffe gegen die Papstkirche" sei. Worin besteht denn zur Stunde die „aufbauende" Thätigkeit des „NeichSboten" gegen die Papstkirche? Doch in nichts Anderem als im Niederreißen, nämlich in dem Versuch, von einer bestehenden und bewährten Organisation Bestandtbeile abzubröckeln zu Gunsten eines erst geplanten, wegen seiner Veranstalter auf einen bestimmten kleinen Kreis beschränkten ConventikelS! Wir fürchten nicht, daß dieser Ver such einen ncnnenswerthen Erfolg hat. Schrieb doch schon neulich die durchaus positiv gerichtete „Westdeutsche Zeitung" anläßlich des Aufrufs zum Stöcker'schen „Kirchentage": „Warum schließen sich diese Herren denn nicht einer bereits bestehenden, lebenskräftigen Organisation, so z. B. dem „Evangelischen Bunde", an ? Uns will bedünken, als wenn dieses fortwährende Organisiren immer neuer Sondervereine dem Organismus selbst nur schaden kann. „Immer strebe zum Ganzen und kannst du selber kein Ganzes Werden, als dienendes Glied schließ' an ein Ganzes dich an!"" Der Herrsch süchtige freilich verschmäht solchen An schluß — auf Kosten des Ganzen. lieber die Ursache der Tumulte in Zürich wird ziemlich übereinstimmend berichtet, daß dieselbe in der nach und nach auf einen hohen Grad gestiegenen Mißstimmung gegen die italienischen Arbeiter gesucht werden muß, welche bei ihren häufigen Raufhändeln sofort vom Messer Gebrauch zu machen pflegen. Als in der Nacht vom Sonnabend aus den Sonntag eine Bande Italiener den Eintritt in eine bereits geschlossene Wirtschaft des Arbeiterquartiers Außersihl erzwingen wollte und dabei auf Widerstand stieß, wurde ein junger Mann, ein Elsässer, der die Wirthsleute unterstützte, einfach niedergestochen. Diese Mordthat führte den Ausbruch herbei, der dann einen sehr schlimmen Charakter und einen Umfang annahm, welchem die polizeilichen Einrichtungen SO. Jahrgang. nicht gewachsen waren? Auch die Schweizer Blätter geben die gleiche Ursache an^ So sagen die „Baseler Nachrichten": „Es sei festgestellt, daß die Mißstimmung gegen die italienischen Arbeiter, welche unleugbar in weiten Schichten und nicht blos in Zürich besteht, zum größten Theile von den Italienern selbst ver- schuldet ist. Wir schätzen diese Leute hoch wegen ihres Fleißes, ihrer Geschicklichkeit in Bau- und Erdarbeiten, ihrer Nüchternheit und Sparsamkeit. Und soweit in den Kreisen der schweizerischen Arbeiter die Italiener wegen ihrer Bedürfnißlosigkeit schief angesehen werden, erblicken wir das Unrecht eher auf unserer Seite. Was aber ganz allgemein unser Volk gegen die Italiener einzunehmen geeignet ist, das ist die leidige Unsitte, daß sie stets das Messer bei sich tragen, daß dieses Messer in der Luft blinkt, ohne daß die Ueberlegung folgen kann, daß das beleidigende Wort und das Messer bei den Italienern einander stets begleiten. Wir dürfen aus fester Ueber- zeugung behaupten, daß ein Vorurtheil argen die Italiener bei uns nicht besteht, und daß unserem Volk das Gefühl des Hasses gegen die italienische Nationalität vollständig fremd ist. Nicht dem italienischen Concurrenten, nicht dem Arbeiter, der unfern Leuten die Arbeitsgelegenheit vorweg nimmt, nicht dem Italiener überhaupt galt die bedauerliche Demonstration, sondern dem h.eiß- blütigen, zornmüthigen Südländer, der um jeder Kieinig- keit willen das Messer zückt, der fremdes Leben frevelhaft an- tastet und schon so manchen Mord und Todtschlag verschuldet hat." — Die „Allgemeine Schweizer Zeitung" ist der Meinung es handle sich bei Len verabscheuungswnrdigen Austritten um den Aufschrei einer in ihrer Sicherheit bedrohten Bevölkerung. — Die Züricher „National-Zeitung" stellt fest, daß der größte Theü der Bevölkerung die Ausschreitungen lebhaft mißbillige. In den schärfsten Ausdrücken tadeln gleichzeitig die Basler Zeitungen die Polizeiverhältniffe, den Mangel an Voraussicht und die verlotterte Wirth- schafts- und Straßeupolizei. Da sei es Pflicht der sogenannten Großstadt, die solche Radau - Elemente in sich berge, unverzüglich und ausgiebig ihre Einrichtungen zu verbessern und namentlich die Fremdencontrole zu ver schärfen. — UebrigcnS bat es doch den Anschein, daß bei den Excessen auch dieBrodfrage eine Rolle gespielt bat. In Schweizer Arbeiterkreisen wenigstens hört man vielfach klagen, daß man die Einheimischen zu den Steuern streng heranziebe, die Italiener aber nicht besteuere, da ja gar keine Controce über sie auögeübt werde. Deshalb ist es durchaus wahr scheinlich, daß die sog. Besserstellung der Italiener eine der Hauptqucllen ist, aus der die ganze Bewegung, wie sie sich eines großen Theils der Außersihler Bevölkerung bemächtigen konnte, Nahrung gezogen Hal. Es ist begreiflich, daß die französische Presse sich fort gesetzt mit der Möglichkeit beschäftigt, daß der Kaiser von Ruszland bei seiner bevorstehenden Reise ins Ausland auch Frankreich, sei es in Paris oder einer Hafenstadt, besuchen werde. Die Stimmung wird immer nervöser und immer deutlicher tritt die tactlose Absicht zu Tage, einen Druck auf die Entschließungen des russischen Kaisers anSzuübcn und die Art und Weise, wie dies manchmal zum Ausdruck komm:, zeigt deutlich die Verstimmung darüber, daß nach französischer Auffassung bisher Frankreich nur der gebende und Ruß land der empfangende Theil gewesen sei. Auch in fran zösischen Kreisen scheint man übrigens der Ansicht zuzuneigeu, daß, wenn es zu einem Kaiserbesuche kommt, dieser keines falls in Paris statlsinden wird. Es unterliegt ja in der Thal keinem Zweifel, daß der Empfang des Kaisers auch in Paris mehr als begeistert ausfallen würde; aber es ist doch nicht zu verkennen, baß seitens der socialistischen Elemente doch eine russenfeindliche Kundgebung stattfindcn könnte, die, wenn sie auch von einer Minderheit auSginge, doch einen unangenehmen und peinlichen Eindruck machen Feuilleton. Lim Pinkerton und ich. Roman von R. L. Stevenson und Lloyd Osbourne. 29j Autorisirte Bearbeitung von B. Kätscher. Nachdruck verboten. „Ich darf wohl sagen, leidenschaftlich, Herr Dodd!" Und dann citirte er: „Das große Wasser suchte mich heim wie eine Leidenschaft", worauf er fortfuhr: „DeS Meeres werd ich nimmer müde. Dies ist meine erste überseeische Reise und ich finde sie köstlich." Er schloß mit einer zweiten An führung „Roll immer zu, du tiefer blauer Ocean!" Er trug diese Byron'schen Zeilen ganz trefflich vor und ich mußte daran denken, wie sebr ich die Lectüre des großen Dichters seit Jahren vernachlässigt batte. „Sie lieben also auch die Poesie?" fragte ich. „O, ich lese sehr viel und batte mir einst bereits eine erlesene Bücherei zusammengestellt. Als sie verstreut werden mußte, gelang eS mir, einige Bände Gedichte, die fick zum Vortrag eignen, zurückzubehalten und diese pflege ich auf Reisen mitzuführen." Ich deutete auf da« Buch, das er in der Hand hatte: „Ist dies eins der betreffenden Werke?" „Nein, das ist ein Roman, der mir vor Kurzem in die Hände fiel", sagte er, mir den Band zeigend, in welchem ich eine Uebersetzung von „Werther's Leiden" erkannte. „Derselbe gefällt mir sebr gut, obgleich er leider unsittlich ist" „Unsittlich? Oho!" rief ich in meinem gewöhnlichen Un willen gegen jede Verquickung von Kunst und Ethik. „Wenn Sie das Buch gelesen haben, können Sie das nicht bestreiten. Werther's Leidenschaft ist zwar mit viel Pathos dargestellt und begründet, aber immerhin unstatthaft. Man kann diesen Roman keiner Dame in die Hand geben, waS ich lebhaft bcdaure, da er mir in mancher Beziehung sogar die Schöpfungen eines Scott, Dickens, Thackeray oder Hawthorne zu übertreffen scheint, namentlich was die Schilde rung de» Gefühls der Liebe betrifft." Da sprechen Sie eine Ansicht aus, die ziemlich allgemein gehegt wird," belehrte ich ihn. ^Wirklich- WaS Sie sagen! Ist da« Buch denn ein wohlbekanntes? Können Sie mir vielleicht sagen, wer Goethe war?" Er sprach den Namen in englischer Weise „Go-ith" aus. „Das interessirt mich schon deshalb, weil auf dem Titelblatt der Vorname des Verfassers weggelassen ist. War er vielleicht berühmt? Hat er noch andere Werke geschrieben ?" Bei allen Gesprächen, die wir nun täglich führten, zeigte er die gleichen anziehenden Vorzüge und Fehler. Sein literarischer Geschmack war natürlich und ungeheuchelt, seine etwas übertriebene und komisch wirkende Sentimentalität zweifellos ganz waschecht. Ich wußte recht gut, daß Homer zuweilen einnickte, daß Cäsar ein Scherzbuch zusammenstellte, Shelley Papierschiffchen machte und Wordsworth mit Vor liebe grüne Brillen trug; dennoch batte ich geglaubt, BellairS sei aus Einem Stück Holz geschnitzt, durch und durch Spion und nur Spion. Da ich sein Handwerk verabscheute, hatte ich erwartet, auch ihn selbst zu verabscheuen, und sieh da — er gefiel mir. Der arme Teufel war aus Empfindsamkeit und Angst zusammengesetzt. Er überfloß von billiger Poesie, aber an Muth fehlte es ihm gänzlich. Seine Kühnheit war die reine Verzweiflung. Er gehörte zu den Naturen, die eher einen Mord begehen, als den Diebstahl einer Briefmarke eingeslehen würden. Ich bin überzeugt, daß seine geplante Unterredung mit Carthew wie ein Alp auf feiner Einbildungskraft lastete. Aeußerlich ließ er freilich nichts davon merken, und ich wußte nicht, ob ich diesen „Heldenmuth zum Bösen" bewundern oder verachten sollte. DaS Gefühl, das ich im Friscoer Palasthotel nach seinem Besuch hatte, erwies sich als richtig: es hatte wirklich ein Lamm versucht, mir Stöße zu versetzen, und ich bezeichnete seine Lage im Stillen als „die Empörung eines Schafes". Er war in einem entlegenen Winkel des Staates New Aork als Sohn eines Landwirlhes geboren, der bald zu Grunde ging und sich westwärts wandte. Der wucherische Advocat, der die arme Familie ruinirt hatte, bekam später Gewissens bisse und erbot sich, für eines der Kinder zu sorgen. Der Vater überließ ihm den kränklichen Harry. Dieser machte sich im Bureau nützlich, eignete sich mancherlei Kenntnisse an, besuchte die Versammlungen des Christlichen IünglingSvereins und führte einen musterhaften Lebenswandel. Die Tochter seiner Wirtbin sollte ihm verhängnißvoll werden. Er zeigte mir ihr Bild. Sie war eine stattliche, hübsche, auffallend gekleidete, geist- und charakterlose Person ohne Gemülh und — wie sich später herausstellte — ohne Tugend. Sie be schäftigte sich viel mit ihm und er verliebte sich in sie. Um sie heirathen zu können, arbeitete er angestrengt; als er zum Bureauvorsteher ernannt wurde, bot er ihr Herz und Hand an, erhielt aber einen Korb. Nach einem Jahre war er Gesellschafter seines bisherigen Chefs und jetzt nahm sie ihn. Aber schon nach zwei Jahren brannte sie mit einem forschen Tambour durch und hinterließ ihrem Gatten eine beträchtliche Schuldenlast, die sie bis dahin geheim gehalten hatte. Dieser Scklag machte Bellairs, der inzwischen — nach dem Tode seines Compagnons — alleiniger Inhaber des Bureaus ge worden war, so arbeitsunfähig, daß er die Schulden nicht bezahlen konnte und daher in ConcurS kam. Nun floh er von Stadt zu Stadt, immer tiefer sinkend. Sein Pflegevater und Chef batte ihn in einem Gewerbe unterwiesen, dessen höchstes Verdienst cs ist, unbehag lichen Andeutungen der Gerichte zu entgehen: das Geschäft eines wucherischen Landadvocaten. War cs ein Wunder, baß in der Stadt nichts Gutes aus ihm werden konnte, umso weniger als er völlig mittellos war? „Haben Sie je wieder von Ibrer Frau gehört?" fragte ich. „Ich fürchte, Sie werden mich verachten, wenn ich Ihnen die Wahrheit mittheile", antwortete er in großer Aufregung. „Haben Sie sie etwa wieder zu sich genommen?" „Das nicht, dazu besitze ich zu viel Selbstachtung. Auch hat meine Frau eS nie verlangt. Hätte ich ihr den Antrag gestellt, sie würde ihn abgelchnt haben, denn sie hat eine starke Abneigung gegen mich, obwohl ich mich ihr gegenüber sehr nachsichtig zeige." „Sie stehen also mit ihr in Verbindung?" „Beurtheilen Sie mich nickt zu hart. Aber wenn schon ich selbst es furchtbar schwer finde, mich durchzubringen, uke schwer muß dies erst einem Weib fallen, daS sich durch ihre schlechte Aufführung in eine schlimme Lage gebracht hat! Die Welt ist ja so bart und grausam!" „Mit einem Wort, Sie erkalten sie?" „Ich kann nicht leugnen. Es ist für mich wie ein Mühl stein um den Hals, aber ich glaube, daß sie wenigstens dank bar ist. Da, lesen Sie einmal ihren letzten Bries!" DaS Schreiben wies auf eine sehr ungeübte Hand hin, war aber auf schönem, rosigem Monogrammpapier geschrieben. Der Inhalt dünkte mir, mit Ausnahme einiger offenbar un aufrichtiger Schmeicheleien, herzlos und habsüchtig. Man mußte recht naiv sein, um die Schreiberin für eine dankbare Person zu halten. „Hat sie denn irgend welche berechtigte Ansprüche auf Ihre Unterstützung«"' fragte ich. „O nein, mein Herr! Ich ließ mich damals sofort von ihr scheiden — schon aus Selbstachtung." „Was treibt sie denn jetzt eigentlich?" „Das weiß ich nicht und ich wills nicht einmal wissen. Ich glaube dies meiner Würde schuldig zu sein." Es überraschte mich bei reiflichen Nachdenken nicht wenig, zu finden, daß ich mit dem Manne, dessen Pläne zu durch kreuzen der Zweck meiner Reise war, schmählich intim ge worden war. Ich bemitleidete ihn, er bewunderte mich, meine Gesellschaft bereitete ihm sichtlich ein lebhaftes Ver gnügen, er interessirte mich als Studien-Object, — dies die Gründe unseres stundenlangen täglichen Beisammenseins. Ich steckte daher fast ebenso viel auf dem Vorderdeck als in der ersten Classe. Aber ich hielt mir immer vor Augen, daß BellairS doch nur ein schmutziger Ränkeschmied sei, der gerade einer niedrigen Geschäftsangelegenheit nachging. Ich versuchte zwar mir ciuzurcden, daß meine nähere Bekanntschaft mit ihm dem ge suchten Carthew nützen müsse; aber eS wollte mir nicht gelingen, dies zu glauben. Ich war einfach wieder einmal ein Opfer meiner beiden Hauptfehler: Unbeholfenheit und Aufschiebungs sucht. Ich errölhe noch jetzt, wenn ich daran denke, zu welch' lächerlicher Handlungswelse mich diese Untugenden nach unserer Ankunft in England verleiteten. Neunzehntes Capitel. Bei strömendem Dauerregen erreichten wir eines Vor mittags das schmutzige Liverpool. Der einzige Plan, den ich damals hatte, war, meinen Winkeladvocaten nicht aus dem Auge zu verlieren. So stiegen wir denn in einem und dem selben Gasthof ab, speisten zusammen, gingen in den nassen Straßen umher und besuchten schließlich ein Pennytbeater, wo wir uns daS altehrwürdige Stück „Der beurlaubte Sträfling" ansahen. Da BellairS ein starkes Vorurtheil gegen das Theater hatte und demgemäß sehr selten in einem solchen gewesen war, fübrte er höchst naive Redensarten. Diese, sowie seine seltsamen Citate und seine harmlose Ver ehrung für den Titelhelden gewährten mir eine außerordent lich köstliche Unterhaltung. Das kann freilich nicht die That sache entschuldigen, daß ich zu Bette ging, ohne dem Schwindler gegenüber auch nur ein Wort über Carthew ge sprochen zu haben. Wohl aber hatte ich mit ihm für den nächsten Tag einen Ausflug nach Chester verabredet. Dort besichtigten wir die berühmte Domkirche und die übrigen Sehenswürdig keiten und sprachen über Literatur, Musik u. s. w, Carthew
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