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Leipziger Tageblatt und Handelszeitung : 15.04.1923
- Erscheinungsdatum
- 1923-04-15
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Urheberrechtsschutz 1.0
- Nutzungshinweis
- Freier Zugang - Rechte vorbehalten 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id84535308X-192304155
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id84535308X-19230415
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- oai:de:slub-dresden:db:id-84535308X-19230415
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- Saxonica
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- Parlamentsperiode
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- Wahlperiode
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- ZeitungLeipziger Tageblatt und Handelszeitung
- Jahr1923
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Um die englische vundesgenossenschaft Pariser Presse Vermutungen Eigener Draht bericht de« Leipziger Tageblatte» Pari», 14. April. Die Teilnehmer an dem französisch-englischen Mei nungsaustausch haben nach der gestrigen Besprechung strengstes Schweigen bewahrt und sich auf die Aeuße- rung beschränkt, daß alles gut gehe. Die Morgenbliittcr heben hervor, daß zu dem heutigen Frühstück auf der belgischen Botschaft auch der Senator de Lubersac geladen ist. Allem An schein nach werden Frankreich und Belgien sich über eine Taktikänderung einigen, die eine Art von Kom promiß »wischen der Politik des Wartens und der des Verhandelns darstellt. In der gestrigen Mit teilung an die Presse ist ausdrücklich betont worden, daß die Nuhraktion fortgesetzt werden soll, bis Deutschland unmittelbare Vorschläge unterbreitet. Das Warten auf Deutschland» Vorschläge wird aber Frankreich und Belgien nicht abhalten, sich so rasch als möglich über ein gemeinsame» Pro gramm für die Gesamtregelung zu verständigen. Der ost gutunterrichtcte außenpolitische Mitarbei ter der Libre Parole versichert, daß Millerand und Poincars über die taktische Frage nicht einig seien und macht darauf folgende Bemerkung über die letzt vergangenen Wochen: Poincare und Millerand hätten sich am 27. März darüber verständigt, daß es nützlich wäre, wenn Loucheur seine längst geplante Oster- reise nach London zur Sondierung des dortigen Terrain» benutzen würde. Am 28. März habe Loucheur eine Unterredungmit Millerand im Nam- bouillet gehabt. Am 29. März sei er von PoincarL im Ministerium des Aeußeren empfangen worden. Loucheur habe dann in London gewisse Erwägungen über die Absichten Frankreichs getan, in der Hoff nung, die englischen Minister dadurch zum Neben zu bringen. Die Engländer hatten zuerst den Ein druck gehabt, daß Loucheur mit einer offiziellen Mission betraut sei und ihre Absicht zu erkennen gegeben, die — wie der extrem nationalistische Pu blizist sich ausdrückt — darauf hinauslaufen würde Frankreich aufs neue unter Dorherrschaft zu stellen. Sie hätten sich aber sofort zurückgezogen, als sie merkten, daß Loucheur gar nicht mit einer offiziellen Mission betraut sei. Millerand sei gegenwärtig der Ansicht, daß Frankreich sich mit Belgien über die in London besprochenen Pläne einigen müsse, um dann sofort offizielle Verhandlungen mit England aufzunehmen. Poincar 6 sei dagegen der Ansicht, daß es besser sei, vorläufig auf offizielle Derhandlunegn mit England zu verzichten. Philippe Millet führt im Leitartikel des heuti gen Hestcs der Zeitschritf- L'Europe Nouvelle aus, Loucheur habe in London feststellen können, daß zwei- fellos jetzt bereits eine durchaus annehmbare Grund- läge für Verhandlungen vorhanden sei. England scheine bereit zu sein, der staffelweisen Räu mung des Ruhrgebietcs und auch der Schaffung einer dauernden internationalen Kontrolle im Nhein lande zuzustimmen. E» handele sich also nur noch um Fragen der Reparationszahlungen: Frankreich sei mit etwa 30 Milliarden für seinen Wiederaufbau zu begnügen. England desavouirt Dorten Stgener Drahtbericht de» Lelpztser Tageblattes Köln, 14. April. Der kölnische britische Delegierte der Interalliier te» Rheinlandkommission ermächtigt die Presse zu der Feststellung, daß die Behauptung Dr. Dortens gegenüber dem Vertreter des New Pork Herald, laut der in der Zeit des Kapp-Putschcs Dr. Dorten und die Leiter der rheinischen Bewegung nach Köln zu Colonel Ryan von der britischen Besatzung berufen worden seien und ihnew 30 Millionen Pfund Ster ling angcbotcn seien für den Fall, daß sie die rhei- Nische Republik unmittelbar ausricfen, jeder Begrün- düng entbehrt. Colonel Ryan hat weder direkt noch indirekt irgendwelche Beziehungen zu Dr. Dorten oder zu seiner Partei unterhalten, Dr. Dorten ist ihm persönlich unbekannt. Der Aderlaß an Deutschland Berlin, 14. April. Der Berliner Korrespondent der Svcnsk Großtfttidning, des offiziellen Organ» des schwedischen Grossistenverbandes, hatte dieser Tage eine Unterredung mit dem Reichswirtschofts- Minister Dr. Becker über den Stand der deutsche« Wirtschaft vor und nach dem französischen Ruhrein bruch. Der Reichsminister führte darüber an»: „Es würde tadelnswerter Optimismus sein, wenn ich irgendwie leugnen wollte, daß der Ruhrembruch der Franzosen und Belgier der deutschen Wirt,^ast schweren Schaden gebracht hat und jeden Tag weiter bringt. Eins aber scheint mir nach den vorliegenden Berichten aus Deutschland und Frankreich festzu stehen: der Schaden, den Frankreich durch den Ruhr einbruch in seiner eigenen Wirtschaft angerichtet hat, ist größer als der Deuts^land zugefügte Verlust. Es ist in diesen drei Monaten der unumstößliche Beweis erbracht, daß man sich die erträumten wold- milliarden mit Gewalt nicht holen kann, und daß e» des besten Willens Deutschlands bedurfte, um das zu leisten, was es tatsächlich geleistet hat. Ich weiß sehr wohl, daß im Ausland, und zwar selbst in Kreisen, die uns Wohlwollen, vielfach die Ansicht verbreitet ist, die potenten Kreise der deut sch en Wirtschaft hätten zur Befriedigung der feindlichen Forderungen nicht das beigetragen, was bei größerer Anstrengung möglich gewesen wäee. Demgegenüber ist zu betonen, daß Deutschland vom 11. November 191Z bi» 30. September 1922 Lei- stungen in Höbe von 5V Goldmilliarden ge macht hat; einschließlich des Werte» der deutschen Kolonien und Elfaß-Lothringens erhöhte sich diese Summe sogar auf über I»00 Milliarden Goldmark. Was heißt das? Der Wert unserer Eisenbahnen beträgt 20 bis 26 Doldmtlliarden. Deutschland gab also an Sach- und Barleistungen an die Entente bis September 1922 über das Doppelte solcher Ricsenwerte her, und einschließlich Elsaß- Lothringens und der Kolonien über das Vierfache. Eine weitere Fahl: Der volle Goldwert (nicht etwa der geringere Nominalwert) der gesamten Aktiengesellschaften des »unverkleinerten Deutschlands der ffriedenszeit betrug am 31. De zember 1913 31,2 Milliarden Goldmark. Mehr als das Dreifache dieses gesamten Vermögens aller deutschen Aktiengesellschaften der Vorkriegszeit hat Deutschland allein bis Ende September 1922 her gegeben. Jedem, der sehen will, zeigen diese Jedem, der sehen will, zeigen diese Zahlen, daß, wie ich oben erwähnte, der deutschen Wirtschaft bereits viel zu viel Blut entzogen ist. Wie schwer unter dieser Gewaltpolitik Frankreichs aber auch die Neutralen leiden, davon weiß ja auch der schwedische Handel, und «vor allem der schwedische Erzbergbau, dessen Förderung zum allergrößten Teil seither in der ductschen Schwerindustrie einen willigen und gut gehenden Abnehmer fand, ein Lied zu singen. Ein englischer Anliegen Eigener Drabl»ertchtde»»r»p»tgerTage»latte» Loudon, 14. April. Von einflußreichen englischen Kreisen, die aus ob- jektiven Wtrtschaftsgründen sich für eine baldige und vernünftige Lösung der Reparation»- und der Ruhr frage interessieren, wurde unserem Sonderbericht erstatter erklärt, sie bedauerten es lebhaft, daß die deutsche Regierung bisher nicht in der Lage gewesen sei, den deutsch-englischen Konflikt über dir Frage der englischen Ein- und Ausfuhr nach dem besetzten Gebiet au» der Welt zu schaffen. Diese Angelegen heit errege in England mehr böse» Blut, al» man in Deutschland anzunehmen scheine. In einem Augen blick, in dem die englische Regierung sich lebhaft für eine Gesamtregelung interessiere, könne sie die bester- gewordene Verhandlungsatmosphäre zwischen London und Paris nicht durch handelspolitische Forderungen verderben, die von der äußerst mißtrauischen öffent lichen Meinung Frankreichs als eine indirekte Unter stützung der deutschen Abwehraktion auegelegt wer- den würde. Eia praktisches, in» Gewicht fallendes deutsches Entgegenkommen würde hier al» ein wich tiger Beweis gewertet werden, daß auch Berlin zur Schaffung einer für Verhandlungen günstigeren Atmosphäre etwas beizutragen bereit sei. In dem Konflikt im englischen Bau gewerbe ist nunmehr doch noch ein Abkommen erzielt worden. Die Lohnfrage wird durch Schiede- spruch geregelt. In der Frage der Arbeitsstunden wird eine Abstimmung unter den Arbeitern er folgen. Einstweilen wird die Arbeit unter den bisherigen Bedingungen fortgesetzt. Zurückweisung voreiliger Pariser Meldungen Eigener Drahibertcht de» Leipziger Tageblatt«» Loudou, 14. April. Der von den Londoner Abendblättern eingehend wiedergcgebene Pariser Reparationsplan, der im Matin veröffentlicht wurde, veranlaßt die hiesigen amtlichen Stellen zu der kategort- sehen Mitteilung, daß die Behauptung des französi schen Blattes, amtliche oder politische englische Per- sönlichkeiten hätten sich für den Vorschlag zustimmend geäußert, absolut unzutreffend sei. E» sei bereits wiederholt von englischer Seite offiziell darauf hin gewiesen worden, daß Loucheurs Anregungen nicht die Zustimmung Englands gesunden hätten. Irgendein konkreter Reparationeplan habe in London bisher nicht vorgelegen. Don amtlicher englischer Seite habe man bisher zu keinerlei fran- zösischen Neparatconsvorschlägen verbindlich Stellung genommen. Ein Druck auf die Negierung Drahtbrrtch« unterer Dresdner Tchristleitung Dresden, 14. April. Der Dresdner Bürgerrat hat dem säch sischen Staatsministerium schriftlich mitgeteilt, daß er in Dresden einen bürgerlichen Ordnungs dienst bilden werde, der sich ausschließlich aus Nichtsozialdemokraten und Nichtkommunisten zu- sammensetze. Bei der Aufstellung der Richtlinien für den Zweck und die Gliederung dieses Ordnungs- dienstes hat man sich genau an den Wortlaut der Grundlagen für den Leipziger sozialdemokratischen Ordnungsdienst gehalten und nur an die Stelle des Wortes sozialdemokratische Partei, Schutz sozialdemo- kratischcr Versammlungen usw. die Worte bürgerliche Parteien, Schutz bürgerlicher Versammlungen usw. eingesetzt. Der Zweck dieser Mitteilung an die Regie rung ist offenbar, die Regierung zu einer Stellung nahme zu derartigen Organisat'o ;u veranlassen. Ausgewiesen Daß der Mensch dem andern ein Bruder ist, das ist eine Utopie: von ihr sei an dieser Stelle, an der die Sprache der Tatsachen herrscht, geschwiegen. Aber daß der Paß, der stempel, aas Papier, der Bureaukratismus, der dünkelhafte Aktuar nicht nur über das Menschliche, sondern sogar über das Vernünftig - Zweckmäßige obsiegt, dies ist eine Tat- fache, die, an einem kleinen Beispiel, auch über dem Strich betrachtet werden darf. In Bauern fing es an. Dort haben einige Selbst herrscher der Ponzeistube hitlerscher Observanz den Ausweisungsapparat in Bewegung gesetzt. Harmlose Kaufleute, die jahrzehntelang in München ansässig waren, aber seinerzeit durch den Umschwung der Verhältnisse einen tschechoslowakischen Paß in die Hand gedrückt bekamen, sind über Nacht mit Frau und Kind und Gut an die Grenze abgeschoben wor den wie lästiges Gesindel. Und die Münchner Polizeistubenpolitiker glaubten, wer weiß was vollbracht zu haben, wenn ein paar Wohnungen in München frei wurden. Als aber die tschechoslowa kische Regierung zu Rrepressalien griff und aus Olmütz, Preßburg, Pilsen Reichsdeutsche auswics, erhob sich ein groß Geschrei. Nun müssen die beider- sritigen Regierungen den Schaden, den der pure Unfug angerichtet hat, in mühseligem Noten- wechsel wieder gut machen und Stück um Stück die Ausgewiesenen austauschen. In-Sachsen ist uns ein grotesker Fall von Ausweisung ^ines Auslanddeutschen bekannt ge- geworden, deren Sinnlosigkeit eigentlich mehr in das Gebiet des Humoristischen al» de» Politischen gehört. Ein Deutschbalte, der leit fünfund zwanzig Jahren in Leipzig lebt und jedem Leipziger bekannt ist wie, na wie ein scheckiger Hund, ejn einstmals hochgeschätzter Pianist, ein Mann, der zweihundert deutsche Lieder komponiert hat und als Mitbegründer des Wolzogenschen Uebcrbrettcle sich einer, wenn auch etwas verschollenen Berühmtheit erfreut, mit einem Wort Wolde mar Sacks hat von der A m t s h a u p t m a n n s ch a f t in Grimma die Weisung erhalten, als „lästiger Aus länder"' binnen acht Tagen seine Wohnung in Naun hof (Stube, Kammer, Küche) zu räumen. Eine solche Amtshandlung der Amtshauptmann- schäft Grimma könnte man als einen Streich des St. Bureaukratius in der Humorecke abtun, wenn sie nicht auch ihre tragischen Seiten hätte. Tragilcy erstens, weil solch ein gesiegeltes Papier ein ohne hin schwer bedrängtes armes Menschenleben in neue Bedrängnis und Sorgen stürzt. Mit einer unheil bar und lebenslänglich ans Bett gefesselten Frau, völlig mittellos, verläßt man nicht gern selbst die dürftigste Heimat, in der man ein Vierteljahr hundert harmlos gelebt hat und alt geworden ist. Zum anderen aber: Wie, wenn nun die littauischc Re gierung Gegenmaßnahmen ergriffe und sich er grimmte wie Grimma? Auch in Riga und Dorpat leben Reichsdeutsche, und zwar mehr als Balten in der Amtshauptmannschaft Grimma. Ist es übrigens der Amtshauptmannschaft in Grimma bekannt, daß die Deutsch-Balten mit zu den geistig wertvollsten Gliedern des Auvland- deutschtums gehören? Wir nennen nur, wie sie uns gerade einfallen: den Wirkl. Geheimen Rat Har- nack, den Philosophen Keyserling, den Politiker Rohrbach, die in Leivzig lebenden Geheimräte Prof. Strümpell, Prof. Stieda und Dr. Tornius. Wir wollen doch sehen, wer stärker ist: Vernunft und Menschlichkeit, oder die Amtshauptmannschaft in Grimma! insndart Meine politische Nachrichten Der preußische Iustizminister hat eine allgcme'ne Verfügung herausgegebcn, die Angeklagten nur dann in eine umfriedigte Anklagebank zu verweisen, wenn sie sich in Haft befinden oder wenn es die Auf rechterhaltung der Ordnung und die Sicherheit der Verhandlung erfordert, im übrigen aber ihnen einen Platz vor dem Nichtertisch oder an einer anderen geeigneten Stelle im Derhandlungsraum anzuweisen. * Die im Vatikan anhesenden Kardinäle haben die Einleitung des Prozesses zur Heiligspre chung de» Papstes Pius X. erbeten. — Eine Gruppe polnischer Katholiken auß Ruß- land hat dem Papst eine Bittschrift überreicht, in welcher der Wunsch nach Heiligsprechung des Prä- laten Butkiewitsch, der von der Sowjet regierung hingerichtet worden ist, ausgesprochen PMÜ. * Das Generalsekretariat der Lausanner Kon ferenz hat die türkische Delegation davon in Kenntnis gesetzt, daß die Friedensverhandlungen am 2 3. April in Lausanne wieder aufgenom- men werden. Die Konferenz tritt an diesem Tage im Schloßhotel von Ouchy zusammen. Nach einer Reutermeldung aus Sofia bereitet der bulgarische Ministerpräsident Stambulinski einen Gesetzentwurf vor, in dem der kommuni stischen Propaganda entgegengetreten werden soll. In jeoem Dorfe, wo die Zahl der Kommunisten zehn überschreitet, sollen deren beweglichen und un beweglichen Güter konfisziert und in Gemeinschasts- güter umgewandelt werden, auf denen die Kommu nisten nun ihren Idealen gemäß -usammenleben können. Vie Schweigenden Von IA»nkr»«I „Herr Berndt, Zimmer 50, zweite Etage, möchten hinaufkommen!" Aus einer Ecke des Sie lär menden Hotelvestibllls erhebt sich aus einem Korb sessel ein nicht mehr junger Mann und eilt dem Ruf des Portiers folgend die Treppe hinauf. Er ist etwa fünfundvierzig Jahre, trägt trotz des milden Tages einen Lut, einen etwa» lächerlich steifen Hut und dunkle Handschuhe. Vorsichtig klopft er an Num mer 50 an. „Errein! zou tüs du^er? ^Vell, xo." Mister John Whistler aus Chicago ist samt Frau und zwei Töchtern fertig zum Shopping. Der Fahr- stuhl saust. Herr Berndt eilt rasch die Treppe hinunter. Verbindlich lächelnd öffnet er die Tür des Autos. Verbindlich lächelnd setzt er sich neben den Lenker. Sie besuchen die großen Kaufhäuser, die Wäsche läden, die Modegcschäfte. Herr Berndt fragt nach den Preisen, fragt zurück, bestellt, handelt, zahlt, überwacht das Verschnüren der Pakete. Miß Olivia, die ältere Schwester, hat Augen wie erdunkelte Sonnen, und ihr kurzes schwarzes Haar unter der Lederkappe quillt in schweren metallischen Locken au» dem Rand. Ihre Hände sind lang und gebräunt, an den Knochen springen hellblaue Aeder- chen aus der Haut. Ihre Mutter ist Texanerin. Herr Berndt sieht sie oft an, wenn er sie fragt, ob das Armband, der Schal, die Spitze ihr gefielen. Miß Olivia sieht ihn auch an. Wie ein große», drollige» Tier daheim im Zoological Garden. Dieder fahren sie Auto. Der hinten aufgeschnallte Riesenkoffer ist fast ganz voll von Ware. Herr Berndt freut sich. Ein ehemaliger Kamerad hat ihm den Tip gegeven, Einkäufer für Fremde zu werden. Dieser Vormittag brachte sicher 500 Mark. Guter Zuschuß zur Rente. Herr Berndt hat die Dorstel- lung von Fettigem auf Brot. Das Auto federt prächtig. Herr Berndt betrachtet sorgenvoll di« Nähte de» Cut. Und der Kragen glänzt auch schon. Nun muß er schon wieder husten: di« verdammt« Lunge. Scheu lugt er zurück. Mr. Whistler raucht behaglich die aeliebte Pfeife. Olivia knabbert ein Stückchen Nußwnfekt. „Halt!" Der Wagen quietscht, zittert, steht. Der Pförtner de» Restaurant» eilt, die Kappe abgezogen, herbei. Mr. Whistler will essen. Ausstrigen. Gr besinnt sich «inen Augenblick, dann winkt er Herrn Berndt. Leicht beklommen trottet er hinterher. Es gibt herrliche Speisen. Der Wein duftet. Die Kellner stehen stramm. Der Tisch bricht fast unter Schüsseln und Schalen. Vier Menschen essen eifrig. Ihre starken Kiefer mahlen. In ihren Augen ist die gesunde Freude des Appetits. Herrn Berndts Blicke tanzen entzückt über die Hummern, über den Schmelz der gelben Tunken, die leisen Blasen des Weins. Unbeachtet nimmt er sich, ohne sich zu schämen, eine gute Portion. Und ißt. Itzr. Wie lange ist es her, daß er so gute Speisen vor sich hate. Oh, so lange —, na egal — nütze den Augenblick —. Herr Berndt ißt. Plötzlich wird er blaß. Legt Messer und Gabel bin. Eine Uebelkeit würgt ihn. Er erhobt sich, die Serviette vor dem Mund, verbeugt sich entschuldigend, stammelt: „Mein Magen — das gute Essen — nicht vertragen — Und eilt hinaus. Mister Whistler hat einen Augenblick zu essen aufgehört. All« vier sehen ihm nach. „?oor clo^, it's » pity." Und essen weiter. Auf der Heimfahrt sitzt Herr Berndt käsefarben neben dem Lenker. Schweigend nimmt er im Hotel die 5000 Mark. Schweigend verabschiedet er sich. Aber Miß Olivia wendet unwillig den Kopf von dem Schein, der in Herrn Berndt» Augen loht. Bet den Minenarbeitern zu Hause hat sie ihn oft gesehen. Eine Tanzdiele. Vorort. Der junge Kaufmann ist mit Katia da. Katia heißt sie seit einem ver unglückten Debüt in einem Variete. Der junge Kaufmann spekuliert nicht an der Börse, vermittelt keine Waren. Lr ist auch nicht mehr ganz jung. Kleine Fältchen sammeln sich in den Augenwinkeln. Er ist ein Mann an der Grenze seine» Schicksal». Katia und sein Gehalt entsprechen einander nicht. Die Jazzband dröhnt. Nebenan sitzt ein portu- giesischer Großhändler. Der junge Mann kennt ihn aus dem Geschäft, wo er am Vormittaq eine Stund« die beiden Inhaber und den Prokuristen in Atem hielt. Er trinkt seinen Mokka und steht Katia an. Der unge Monn liest jeden Gedanken ab. Der ander« enkt den Blick zum Kleide Katia». Sie errötet; e» st kein guter Stoff. Aber e» waren doch die Er- parniffe zweier Monate, die dafür draufgingen, >enkt der junge Kaufmann. Der Blick steigt weiter. Run ja, echt ist der Ring nicht und die Seide der Bluse. Kein Zweifel, sie kann ihre Gedanken nicht verbergen. „Komm', diesen Tanz!" Sie wehrt ab, erhobt sich: „Den nächsten." Sie hat den Portugiesen kam- men sehen. Sie tanzen. Die Jazzband kläfft wie eine Meute Hunde. Der junge Kaufmann sieht gar nicht auf. Er weiß, er ist überflüssig. Erhitzt kommt Katta zurück. Er schweigt sie an. Sie stutzt. Dann nimmt sie, fast verstohlen, seine Hand und flüstert: „Ich werde mich nicht oft treffen. Und dann — wir werden reich sein — später." Der junge Mann schweigt tief in sich hinein. Der Portugiese erhebt sich, nickt, gibt eine Unsumme Trinkgeld dem sich den Wirbel verkrümmenden Kellner und geht. Die Jazzband gellt wie tausend Lacher. „Verfluchtes Leben", brummt der junge Mann und rechnet mechanisch auf dem Heimweg alles Mögliche in Milreis um. ttongretz für Psychologie Die Gesellschaft für experimentelle Psychologie in Leipzig veranstaltet vom 17. bis 20. April den 8. Kongreß für Psychologie. Zahlreiche deutsche und culsländische Gelehrte sind mit Referenten ver treten; u. a. wird Prof. Krüger-Leipzig, der Nach- folger Wundts, über den Strukturbegriff in ver Psychologie sprechen; Spearmann-London über die Gründung der Psychologie auf Gesetze, Iaederholm- Göteborg über Prinzipfraaen der Itelligenz- forschung, Iuhasz-Dudapest über Wiedererkennung», versuche auf musikalischem Gebiete, Grünbaum- Amsterdam über zwei Methoden zur Untersuchung de» Willens, Nagy-Budapest über die Entwicklung des Gedächtnisses vom 7. bi» 19. Lebensjahr, Ett- linger-Münster über Werkzeuggebrauch bei Tieren, Iaensch-Mavburg zur differenziellen Völkerpsycyo- logie, Druhle-Heidelberg über Selbstbiograpyie und Persönlichkeitsforschung, Klemm-Leipzig über Untersuchung zur Arbettrpsychologie. Don Leipziger Referenten seien noch erwähnt: Dr. Wirth, Fri. Doigtländer (Zur Problematik der Geschlecht»unter- schied«), Privatdozent Sanität»rat Dr. Schütz, Lek tor Peters, Prof. Kirschmann, Dr. Sander. — Gleichzeitig findet in der wissenschaftlichen Buch- Handlung Wilhelm Heim» eine Ausstellung psycho- logischer Literatur statt, die einen Ueberblick üder die Entwicklung der Psychologie al» Wissenschaft gibt. Noch einer. Der berühmte Heidelberger Physiker und Raffenfanatiker Prof. Lenard, dir am Tag« der Beerdigung Rathenaus die allgemeine Arbeits ruhe in häßlichster Weise demonstrativ störte, ist bekanntlich freigesprochen worden. Hingegen wer- den der Student Mierendorff, Führer der Republi kanischen Studentenschaft in Heidelberg, und einige Arbeiter, die bei den von Prof. Lenard provozierten Vorgängen Ruhe stiften wollten, auf mehrere Mo nate in» Gefängnis geschickt. Und Prof. Lenard, der Nassengermane, der einzig Schuldige, tritt nicht für di« Verurteilten ein, sondern verhöhnt auch nocy an Gerichtsstelle den Gerichtshof. Dieser große Gelehrte, der nach einem Ausspruch des früheren Staatspräsidenten Hummel „deutschnatio nale Politik als Gegenstand der theoretischen Physik" betrachtet, hat erst kürzlich als Nobelpreis träger sich bei der schwedischen Akademie der Wissenschaften über die Verleihung des Nobelpreises an seinen Kollegen Einstein beschwert und sein Bedauern darüber ausgedrückt, daß die schwedische Akademie „nicht genügend klaren germa- nischen Geist hat aufbrinqen können, um der Täuschung der Einsteinschen Theorien zu entgehen." Dabei ist dieser Germane geborener Ungar und sein Vater Lenardi Südtiroler italienischen Ur sprung». — Wir sind gegen alle Rassenschnüffelei, können es uns aber nicht versagen, solche schreiende Ironien de» Rassenfanatismu» zu sammeln. Wer vor seinem eigenen Stammbaum* so viel zu kehren hat, täte besser, die Blutuntersuchung an anderen Bäumen zu unterlassen. Aber ein Gesetz wird im Fall Lenard allem Anschein nach deutlich: Je un- sicherer einer seine» germanischen Blute» ist, um so fanatischer untersucht er da« seines Nächsten. —K. Die erst« deutsch« Levi» - Biographie. Ctne Lenin-Biographie von Henri Guilbeaux, dem ver trautesten Freundes Lenin», wird in Kürze in deut scher Uebersetzung von Rudolf Leonhard im Ber- tiner Verlag „Die Schmiede" erscheinen und u. a. bisher unveröffentlichte Dokumente enthalten. Der Verlag kündigt diese Biographie al» „unpolitisch" an. Au» d«r Mufikwelt. Am 18. d. M. feiern zwei hochverdiente Lehrer am Leipziger Konser vatorium, die H«rren Professor Dr. Johannes Merke! und .Professor Fritz von Bos«, ihr 25jährige» Lehrerjubilaum an dieser Anstalt. Klei« Ktölstnotiz. Die Graphisch« Sammlung in München hat einen großen Teil des Holz- schnittwerke» de« Leipziger Künstler» Prof. Fran, Heia, darunter die Reih« drr farbigen Äaldbil- oer, erworben.
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