II. Das gemalte Bild und sein Ursprung Natürlich gibt es nicht nur einen Zugang zum Wesen und zur Deutung gemalter Bilder, nicht nur eine Antwort auf die Frage, was Bilder eigentlich sind, welche Stellung sie im Reich des Geistes und der Kultur einehmen. Clemens Münster 1 ) — um nur einen der zahlreichen Versuche zu nennen — führt ihren geistigen Gehalt auf vier Begriffe zurück, nämlich auf die Begriffe der Ordnung, der Er kenntnis, der Neuschöpfung und der B a n n u n g. Unter suchen wir kurz, was er damit meint, und prüfen wir danach, ob und inwieweit wir diese vier Kategorien auch auf die Welt der fotografi schen Bilder anzuwenden vermögen: 1. Ordnung, Gliederung, Geschlossenheit, inneres Gleichgewicht sind Voraussetzungen für den Bestand eines jeden Kunstwerkes, möge es angehören, welcher Kunstgattung es will. Drama, Sinfonie, Tanz, Plastik, Gemälde — bei allen kommt dem Betrachter oder Hörer als erstes zum Bewußtsein, daß hier Einzeldinge zu einem Gebilde höherer Art geordnet oder komponiert worden sind. Ein gemaltes Bild ohne Komposition ist so unmöglich, wie ein Bau ohne Statik. Aber weisen Gebilde der Natur nicht ebenfalls eine derartige Ordnung oder Kom position auf? Ein Kristall, hinter dem wir sein Wachstumsgesetz ahnen, der Wunderbau eines Radiolars), die Filigranstruktur eines Farrenblattes, eine Orchideenblüte, eine Meduse, ein Schmetterling usw.? Die höchste Zweckmäßigkeit ihres Baues scheint uns sogar gleich bedeutend mit ihrer Schönheit zu sein. Wenn ein Gegenstand der Natur gemalt wird — eine Landschaft, ein Baum, ein Menschenantlitz — kann man dies trotz stärkster und ge wollter Änderungen, Vereinfachungen, Steigerungen, die man vor nimmt, nicht willkürlich tun. Auch das Malwerk muß das sich in jedem abbildenswerten Natur gegenstand offenbarende „Gesetz der Natur“ re spektieren, wenn es in ihm auch nicht unmittelbar, sondern verwandelt, transformiert zur Darstellung gelangt. Die Sinneseindrücke (Reize), die der Künstler empfängt, sind mannigfaltig, ja chaotisch. Aber er sichtet sie, klärt sie. Er erkennt und erfühlt die natürliche Ordnung, in der sie zueinander stehen, und prägt ihnen, bzw. dem gemalten Gegenstand, eine gleichsam verklärte, höhere Ordnung auf. In dieser höheren Ordnung ist alles enthalten, was ihm, dem gestaltenden Künst ler, sichtbar ward: Kräfte der Natur, Eigenschaften der Stoffe, Geheim nisse des Lebendigen und — wenn es sich um Personen handelt, die er malt — Gedanken, Empfindungen, die er nur ahnt und die der nicht sicht baren Innenwelt des Dargestellten angehören. So bekommt das Bild Fülle, es wird zum Kosmos (griechisch = Ordnung), zur geordneten Fülle. 1) Clemens Münster, Das Reich der Bilder, Herder, Freiburg 1940. •) Einzeller mit wundervoll gestaltetem Kieselsäureskelett.