5 Volker Ruhland - Carl Gustav Carus und die bürgerlichen Revolutionen von 1830/31 und 1848/49 in Sachsen Leben, Wirken und Streben von Carl Gustav Carus waren geprägt von „Ehrfurcht und Liebe“ (F. Sauerbruch). Das Leben dieses universellen Geistes stand - wie bei vielen Großen der „Goethezeit“ - im Zeichen der Verwirklichung der von der deutschen Klassik vorgeformten bür gerlichen Humanitätsideale. Carus’ Tätigkeit als Leibarzt am Dresdner Hof, 1827 erfolgte die » Berufung beeinflußte seine von widersprüchlicher kleinbürgerlicher Labilität geprägte Haltung in politischen Fragen, vor allem gegenüber der kleinstaatlichen bürgerlichen Revolution von 1830/31 und der bürgerlich-demokratischen Revolution von 1848/49. Bis zum Jahre 1830 kümmerte sich Carus kaum um das politische Geschehen. Lediglich den Sieg des griechischen Volkes über die türkische Fremdherrschaft 1821 begrüßte er begeistert in einem Brief an seinen Freund Johann Gottlob Regis (1791-1854): „. . . ad vocem Menschheit. Griechenland soll leben: Hoch! frei! verjüngt! Wie das an allen Ecken wackelt und die alten Formen einrüttelt.“ 1 Zu einer wichtigen Zäsur im Leben von Carus - wie bei vielen Zeitgenossen auch - wurde das Jahr 1830. Es leitete insgesamt eine neue Welle im europäischen bürgerlichen Revolutionszyklus ein » Erneut ging hierfür der entscheidende Impuls von Frankreich und dessen Hauptstadt aus, dem bedeutendsten Kampfplatz in der Epoche des Sieges und der Festigung des Kapitalismus in den fortgeschrittenen Landern. Die Julirevolution 1830 in Frankreich wurde, wie auch die von 1789, zur Leitrevolution im europäischen Revolutionszyklus. Sie löste innerhalb der Epoche eine zweite Welle von Bewegungen aus, in denen die bürgerlich-demokratischen Kräfte im europäi schen Maßstab wieder in die Offensive gelangten, nun allerdings im Gegensatz zu 1789 unter fort geschritteneren gesellschaftlichen Verhältnissen. 2 In Deutschland war die bürgerliche Umwälzung, die unter dem Einfluß der Französischen Revo- lution von 1789 auf reformerischem Wege begonnen hatte, bis zum Ende der zwanziger Jahre des * 19 Jahrhunderts in den wichtigsten gesellschaftlichen Bereichen vorangeschritten, allerdings in o ge der territorialstaatlichen Zersplitterung in den einzelnen deutschen Staaten in sehr unter schiedlicher Intensität und Konsequenz. Übte der Adel noch weiterhin die politische Macht aus, so finden wir in der Ökonomie erste Ansätze der Industriellen Revolution. Die Lösung der Agrarfrage war, wenn auch auf einem undemokratischen Wege, eingeleitet. Die Vielstaaterei hatte s>ch von etwa 300 auf 38 Territorien verringert. Diese Staaten nahmen als halbfeudal-büro kratische Regimes eine Regierungsform an, die objektiv den Übergang zur konstitutionellen ■ Monarchie verkörperte. Bourgeoisie und werktätige Klassen hatten sich noch nicht zum Hege mon und als Triebkräfte des antifeudalen Kampfes formiert. Der Durchführung der gesellschaft- ichen Veränderungen durch die feudalbürokratischen Regimes entsprach das Vorhandensein von Ideologien, die dahin ausgerichtet waren, daß der Adel Zugeständnisse an die Bourgeoisie, die Bourgeoisie Kompromisse an den Adel machte. Revolutionärer Demokratismus wurde damals, ■