Kirchliche Reaktion auf die großstädtische Entwicklung zwischen 1870 und 1914 mit ihren sozialen Problemen - dargestellt am Beispiel der Kirchgemeinde Dresden-Pieschen
26 Christian Burkhardt Kirchliche Reaktion auf die großstädtische Entwicklung zwischen 1870 und 1914 mit ihren sozialen Problemen — dargestellt am Beispiel der Kirchgemeinde Dresden-Pieschen „Die Entwicklung Pieschens erinnert beinahe an amerikanische Wachsthumsverhältnisse, es hat sich innerhalb weniger Jahrzehnte aus einem Dorfe mit ein paar Hundert Einwohnern ent wickelt zu einer Gemeinde von 11 000 Seelen und wird, wenn ein wirthschaftlicher Rück schlag nicht eintritt, sich noch eine ganze Reihe von Jahren in demselben Verhältnisse weiter entwickeln können. “ 1 Wie sehr diese Aussage aus einer Denkschrift, die 1890 im Auftrag des Schulvorstandes zu Pieschen erstellt wurde, zutrifft, sei durch folgende Übersicht über das Anwachsen der Einwohnerzahlen Pieschens belegt: 1880 6 573 1885 8 859 1890 12428 1905 30249 Dieses Bild fügt sich vortrefflich in die im Zuge der Industrialisierung in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts erfolgende Gesamtentwicklung Sachsens zum dichtbesiedelten Land der Erde ein. Zwischen 1880 und 1900 stieg die städtische Bevölkerung Sachsens um 71 Prozent. 2 „Eine so ausnahmsweise schnelle Entwicklung bedingte aber auch schwere Lasten und die Uebernahme hoher Verbindlichkeiten.“ 3 Während die Denkschrift, in der diese Sätze stehen, den finanziellen Problemen nachgeht, die sich aus dieser Entwicklung für eine Gemeinde mit einer wenig steuerkräftigen Bevölkerung ergaben, soll hier untersucht werden, wie die Kirche auf das rasante Bevölkerungswachstum reagierte. 1890 gehörten 95 Prozent der Pieschener Einwohner der evangelisch-lutherischen Kirche an (11 700). Den Rest bildeten 658 römische Katholiken, 9 Deutsch-Katholische, 22 Evangelisch-Reformierte, 15 Methodisten, 9 Apostolische und 6 Juden. Dissidenten, die überhaupt keiner Religionsgemeinschaft angehörten, gab es nur 9. 4 Vgl. dazu auch H. Nie mann in diesem Heft. Der Schwerpunkt dieser Untersuchung, die sich auf Quellen des Pfarr amtsarchivs der Markuskirche Dresden stützt, soll auf der Frage liegen, mit welcher Verbind lichkeit die evangelische Gemeinde ihr volkskirchliches Gewicht ins Spiel brachte, um die schweren sozialen Lasten mitzutragen, die sich aus dem überstürzten Bevölkerungswachstum ergaben. Organisation des kirchlichen Lebens 5 Kirchliche Neugliederung Die Bewohner des Dorfes Pieschen gehörten ebenso wie die von Trachau, Trachenberge, Mickten und Übigau kirchlich zur elbabwärts gelegenen Parochie Kaditz. Seit 1876 wurden