94 Die Entdeckung des Nachbarn Gespräch der Dresdner Hefte mit Karl Johann Fürst von Schwarzenberg Liihr: Fürst Schwarzenberg, Sie haben sich freundlicherweise zu einem Gespräch bereit erklärt über die Beziehungen zwischen Tschechien und Deutschland, über die Nachbarschaft Sachsen- Böhmen. Sie gehören zu denen, die das Thema von beiden Seiten kennen, Sie urteilen aus einer großen Familientradition und einer zweijährigen Arbeit als Kanzleichef bei Vaclav Havel. Beginnen wir mit einem Blick in die Historie. Bis zur Jahrhundertwende gehörte die böhmisch sächsische Grenze zu den stabilsten in Europa — war sie auch die friedlichste? v. Schwarzenberg: Es war natürlich in Jahrhunderten verschieden. Die Grenze war mit mini malen Veränderungen seit dem 18. Jahrhundert stabil. Die letzte große Veränderung gab es unter Friedrich II. nach den Schlesischen Kriegen. Schlesien und die Grafschaft Glatz gingen von Böhmen an Preußen. Beides ist heute polnisch. Für Sachsen gab es großen Zuwachs im 17. Jahrhundert mit den beiden Lausitzen. Danach waren die Beziehungen Böhmens zu Sach sen immer die positivsten - familiär, kulturell, meist auch in den wechselnden politischen Bündnissen. Noch 1866 kämpften sächsische und böhmische Regimenter gemeinsam gegen Preußen, was sich heute kaum noch jemand vorstellen kann. Dialekte haben sich beeinflußt, seit dem Mittelalter gab es auch engste familiäre Beziehungen im Grenzbereich und schließ lich verbinden auch gerade heute Böhmen und Sachsen die stärksten, sehr handfesten mate riellen Interessen. Beide sind interessiert an einer funktionierenden Nord-Süd-Verkehrsverbin dung Dresden-Prag-Wien. Beide haben eine ähnlich strukturierte Industrie, beide sind gleich betroffen von der Entwicklung der letzten 40 Jahre, beide haben ihren früheren Rang verloren in Europa und müssen ihn mühsam zurückerobern. Lühr: Noch einmal zurück zur Jahrhundertwende. In das gute Nebeneinander mischten sich um 1900 chauvinistische Töne, in Dresden beispielsweise trat der Alldeutsche Verband betont antitschechisch auf. Dann in den zwanziger Jahren gab es aber noch einmal starke Gemein samkeit durch die Künste - Theater, Literatur, Film, Malerei waren verbindende Momente. Hatte dieses intellektuelle Klima Resonanz in der Bevölkerung? v. Schwarzenberg: Damals hatte dies eine starke Resonanz. Aber man muß wissen, daß um 1900 die beiden Kulturgemeinschaften in Böhmen doch schon stark getrennt waren. D.h., das, was in der deutschsprachigen Gemeinschaft faszinierend und aktuell war, hat nur im begrenzten Ausmaß Ausstrahlung ins tschechische gehabt - und umgekehrt ebenso. Das