2 Günter Jäckel Eine verurteilte Stadt Wie kann man heute das Dresden jener 12 Jahre beschreiben, die Gesicht und Klima der Stadt veränderten wie nichts zuvor in ihrer fast achthundertjährigen Geschichte? Als Hitler zur Macht kam, leuchtete über Türmen und Brücken und Strom noch die Aura jener alten Schönheit, die das augusteische Barock an den Himmel geschrieben hatte. Als das »Tau sendjährige Reich« zu Ende ging, war aus einer der bekanntesten Städte Europas eine apo kalyptische Ruinenlandschaft geworden. »Dresden ist nicht mehr ganz vorhanden«, schrieb nach der Beschießung vom 19. und 20. Juli 1760 ein unbekannter Berichterstatter. »Sein Schönstes und Bestes liegt in Asche. Seine größten Paläste und Straßen, wo Kunst und Pracht miteinander um den Vorzug stritten, sind Steinhaufen ... Wer diese Residenz ehe dem in ihrer Zierde und ihrem Flor gesehen und selbige nun betrachtet, müßte kein mensch liches Herz haben, wenn er bei ihrem jetzigen bejammernswerten Zustande nicht auf die äußerste Art gerührt und zu mitleidigen Tränen bewegt werden sollte.« Zum Mythos der Stadt — jener Bilder und Sinnbilder, die über die Wirklichkeit hinausweisen — gehören seitdem nicht mehr allein die Kunstschönheit und jene faszinierende Synthese aus Strom landschaft und urbanem Raum, sondern ebenso das Leid. - Damals, 1760, kam es über die 63 000 Einwohner wie ein Verhängnis; seit 1933 wuchs das Unheil, das die Stadt zer stören sollte, auch in ihren Mauern heran. Niemand wußte es am Anfang; wenige haben es geahnt, zuletzt haben es nahezu alle erlitten. Es kann nicht Aufgabe dieses Heftes sein, die »Kalenderzeit« dieser dunklen Jahre zu be schreiben: jenen gnadenlosen Ablauf der äußeren Wirklichkeit, auf dessen Trümmer der »Engel der Geschichte« (Walter Benjamin) blickt; jene 12 Jahre, die wir nun in einer Art rückwärtsgewandter Prophetie nachvollziehen können. Wenn es eine Botschaft vermitteln will, dann die der Betroffenheit. Das Wissen um jene europäische Katastrophe, die von Deutschland ausging und in deren Sog auch Dresden gerissen wurde, möge ein wenig Weisheit stiften; es kann, um Alexander und Margarete Mitscherlichs berühmtes Essay zu variieren, die »Fähigkeit zu trauern« befördern, indem wir über Möglichkeiten und Grenzen unserer humanen Existenz nachsinnen. Skepsis und Toleranz sind Haltungen, die dabei angemessen sind. — Oder, wie es Max Frisch 1958 in seiner Büchner-Rede gesagt hat: »Es ist eine Resignation, aber eine kombattante Resignation, was uns verbindet, ein individuel les Engagement an die Wahrhaftigkeit ..., ein immer wieder zu leistender Bann gegen die Abstraktion, gegen die Ideologie und ihre tödlichen Fronten, die nicht bekämpft werden können mit dem I odesmut des einzelnen; sie können nur zersetzt werden durch die Arbeit jedes einzelnen an seinem Ort.«