4 des Widerstandes der Gedankenlosigkeit der Mitläufer und der Arroganz der herrschenden Macht gegenübertraten. Dies ist vielleicht das Erstaunlichste an diesem im Tagebuchdiskurs verfaßten »Dictionnaire« der Unmenschen: Aus Enge und Isolierung einer Gettosituation, bei Verlust der Arbeitsmittel, Bibliotheksverbot, in Mangel, Depressionen und Hunger, neben Zwangsarbeit und ständiger Existenzbedrohung hat Klemperer jene andere - eigentliche - Enge und Armut beschrieben, die Geist und Wort seiner Widersacher charakterisiert. — Wie eng der Zusammenhang von Sprache und Macht ist, blieb ihm auch nach Ende des Krieges nicht verschlossen. In seinen Notizen findet sich ein Vermerk: »LTI = LQI« - die Sprache der neuen Machthaber als »Lingua Quartii Imperii« gleicht jener der alten ... Auch Ilse Frischmann geriet aus dem ersten Höllenkreis in den neunten. Er hieß für sie Auschwitz. Wie Klemperer kam das junge Mädchen aus der Normalität eines Lebens, die von keinem Gegensatz zwischen Juden und Nichtjuden wußte. Wie er, wurde sie isoliert, mit dem gelben Stern gebrandmarkt, ihr Lebensweg zerbrochen. Sie war keine Widerstands kämpferin in jenem oft klischeehaft heroisierten Sinne; sie tat nichts, als ganz naiv und ele mentar ihre Menschenwürde zu bewahren. Das freilich war viel in dieser Zeit. Noch bei schwerer Zwangsarbeit konnte sie fröhlich sein und damit den Zorn ihres Aufsehers erre gen. Als sie sowjetischen Kriegsgefangenen ein wenig Zuversicht geben wollte, wagte sie ihr Leben, und sie hätte es beinahe hingeben müssen. — Wann haben wir, die wir nicht unser Leben für die anderen eingesetzt haben, begonnen, über eine Schuld nachzudenken, die auf uns gekommen ist? Warum ist dieses Mädchen aus der Gemeinschaft dieser Stadt ausgesto ßen worden - und noch etwa 6 000 dazu? Gegen 4 000 davon wurden ermordet, die ande ren konnten emigrieren. Wer hat geweint am Morgen des 10. November 1938; wer hat sich geschämt, als die Juden seit 1941 auf Nebenstraßen der Altstadt mit dem gelben Stern zu sehen waren? Anlagen und Hauptstraßen waren ihnen längst verschlossen. Und wo standen wir in jenen 12 Jahren? Irgendwo in einer Zwischenwelt aus Alltagsnorma lität und Barbarei, aus Naivität und Verführung, zwischen einem ständig suggerierten Anti semitismus und ursprünglichem Mitleiden. Später kamen weitere Feindbilder hinzu. - Grüßten wir im April 1933 schon mit »Heil Hitler«, während daheim die Zuckertüte noch nicht leer war? Auf jeden Fall beteten wir vor der ersten Schulstunde. Einige Verse sind mir in Erinnerung geblieben: »Du straftest unseres Volkes Verrat und segnest der Heimat befreiende Tat. Für den herrlichen Führer danken wir Dir. Segne ihn und das Vaterland für und für. Amen.« - Das klingt fast wie bei Karl Valentin. Wer mag der Dichter dieser Verse gewesen sein? Er suchte den Sechsjährigen ein neues Geschichtsverständnis zu vermit teln, das bis 1918 zurückgriff. Erst später haben wir erfahren, daß Juden und Kommuni sten damals dem kämpfenden Heer den Dolch in den Rücken gestoßen hätten und daß sie nun dafür bestraft würden. Als »Konzertlager« pflegte unser Geschichtslehrer Einrichtungen zu bezeichnen, in denen jene Unbelehrbaren einmal richtig arbeiten lernten. - Eine geord nete Welt also, in die wir hineinwuchsen. Dresden war eine saubere Stadt. Die Fassaden aus der Gründerzeit waren intakt, Fußwege und Straßen wurden stets gekehrt, die Parks gepflegt. Niemand warf Straßenbahnfahrscheine mit ihren vom Schaffner gelochten kleinen Stadtplänen achtlos weg; auch später, als die niedrigen Eisenzäune mit ihren doppelten