7 Victor Klemperer Zelle 89 (23. Juni bis 1. Juli 1941) O Im Juni kam meine lang schwebende Polizeistrafe zur Vollstreckung: Ich hatte geglaubt, es würde wieder etwas Halbes werden wie die meisten meiner Erlebnisse, aber es wurde etwas grauenhaft Ganzes. Am 10. Februar war das Fenster neben dem Schreibtisch unverdunkelt geblieben. Bis dahin, also durch 17 Kriegsmonate, hatten wir immer mit größter Sorgfalt verdunkelt und uns immer über die zahllosen Nachlässigkeiten geärgert, denen wir bei anderen Leuten in die sem Punkt begegneten, erst bei den Nachbarn in Dölzschen, dann auf unsern Rückwegen vom Abendbrot in der Stadt zum Judenhaus. »Die haben einen Sonderfrieden geschlos sen«, pflegte E. zu sagen, wenn wir an einem erleuchteten Fenster vorbei kamen. In der Zeitung und in Bekanntmachungen wurde wieder und wieder gewarnt und gedroht, die Geldstrafen stiegen, bei mehrfacher Wiederholung oder besonderer Böswilligkeit sollten Haftstrafen erfolgen - aber die vielen halb oder ganz hellen Fenster blieben, zumal es vor dem Herbst und dem November 40 keinen einzigen Fliegeralarm bei uns gab. Wir hatten die feste Gewohnheit, noch vor dem Eintritt der Dämmerung und bevor wir zum Nach mittagsspaziergang ausgingen, unsere beiden Zimmer zu verdunkeln. Am 10. Februar aber kam ein Besuch, als wir gerade aufbrechen wollten, und blieb lange. Es wurde spät, um 8 mußten wir zurück sein, auf dem Bahnhof pflegten uralte Kellner im Schneckentempo zu bedienen: so eilten wir fort. Als wir um 8 zurückkamen, stand die Nacht wie eine schwarze Mauer vor dem Fenster, und wir schalteten gewohnheitsmäßig das Licht ein. Eine halbe Stunde später klingelte ein Schutzmann, einer der biederen und durchaus freundlichen Leute von unserm Revier, die die Judenkontrolle sehr höflich ausübten. Hier sei ein Fen ster hell. »Bei uns bestimmt nicht«, sagte ich mit bestem Gewissen. Erst als der Mann die Scheiben öffnete, fiel mir die Unterlassung ein. Ich fragte ihn, ob er es nicht beim Verwar nen belassen könnte, mit meiner J-Karte würde ich sonst besonders hoch zahlen müssen. Er könne die Anzeige nicht unterlassen, antwortete er, weil man ihn auf das Fenster auf merksam gemacht hatte (weil also eine Denunziation vorlag). Ich mußte die Höhe meines Einkommens und Vermögens angeben, denn danach richte sich die Höhe der Geldstrafe. »Sie werden 200 M zahlen müssen«, prophezeite Kätchen. Sara, »ein armes jüdisches Mäd chen ist neulich im gleichen Fall zu 180 verurteilt worden. Sie hätten Ihre arische Frau vor schieben sollen, dann kämen Sie billiger davon«. Aber am nächsten Tag kam sie von ihren vielen Besuchsgängen mit günstigeren Nachrichten heim: Durchschnitt der Geldstrafen sei bei Jud und Christ 20 Mark. Es vergingen dann Wochen, ohne daß ein Strafmandat ein-