56 Silvia Reif Wagner geht! Aufbruch und Krise 1848/49 Am 24. Mai 1849 verliert Deutschland für lange Jahre den universellsten Künstler seiner Zeit. Der kleine, schmale Mittdreißiger Übertritt die Grenze zur Schweiz mit dem abgelaufenen und von Franz Liszt besorgten Paß eines Jenaer Universitätsprofessors. Am 16. Mai hatte die Dresdner Stadt-Polizei-Deputation den Steckbrief herausgegeben: »... wegen wesentlicher I eilnahme an der in hiesiger Stadt stattgefundenen aufrührerischer Bewegung zur Unter suchung zu ziehen, ... im Bedarfsfälle zu verhaften ...« - Trotz eigener und fremder Vertuschungsversuche gibt es längst keinen Zweifel mehr an Richard Wagners ernst gemeinter Teilnahme am Dresdner Maiaufstand. Ebenfalls zweifellos formt sich beinahe zeitgleich seine jahrhundertübergreifende, revolutionierende Idee aus, die er selbst »Gesamtkunstwerk der Zukunft« nannte. Mit diesem (inzwischen inflationierten) Begriff hinterläßt er seiner Nachwelt eine Aufgabe: Das nicht weniger als alles in höchster Qualität enthaltende »Superkunstwerk«, das zudem noch das »Werk im Prozeß« sein muß ...! Und dieser kühne Seher, Schöpfer und Denker wirft sich - ganz körperlich - ins Rad der Geschichte!? Sagen wir mit objektivierendem historischem Abstand: Mit Wagner erscheint ein neuer Künstlertypus, der für sein Jahrhundert einzigartig Mythos, Zeitgenossenschaft und Zukunftsvision verband. Für den der künstlerische Schaffensprozeß gebunden war an seine eigene, höchstpersönliche Individuation. - Richard Wagner - einst in Dresden aufgewachsen - war im sechsten Dienstjahr einer »Lebens stellung« als Hofkapellmeister. Er hatte drei eigene Uraufführungen (»Rienzi«, »Der fliegende Holländer«, »Tannhäuser«) zustande gebracht, von denen der Erfolg der ersten epochal war. Er glänzte als Dirigent der Palmsonntag-Konzerte mit Beethovenschen Sinfonien, galt als Gluck- Spezialist, interpretierte deutsche Oper, die immer noch im Schatten der italienisch-französi schen stand, auf spannende, eigenwillige Art ... Er hatte Feinde und Kritiker (vor allem unter denen, die sich von Berufs wegen so nannten), doch kaum einer zweifelte an seiner Genialität; sogar der König hatte eine Schwäche für den »Hecht im Dresdner Karpfenteich«! Wagner verkehrte in einem inspirierten Kreis, zu dem Eduard Devrient, Gottfried Semper, Ernst Rietschel, Schnorr von Carolsfeld, Karl August Röckel, Gustav Adolf Kietz, Friedrich Pecht u.v.a. gehörten. Er war nicht nur Neuerer in Dresden, er war vor allem Provokateur! Dies mit einem Qualitätspurismus sondergleichen, der den eingefahrenen Theaterschlendrian scheuchte und das Mittelmaß erschreckte. Nicht nur an seinen eigenen Werken erlebte er, daß »das Gute nur in Gestalt des Mittelmäßigen« in die Öffentlichkeit zu treten in der Lage