Wolfgang Zimmer Leben am Neumarkt - eine sozialgeschichtliche Studie Steht man heute vor der Baustelle der Dresdner Frauenkirche, kann man sich beim Erkunden der Anlagen mit Ruine und Baufragmenten eine gewisse Vorstellung von der Dimension die ses Bauwerkes machen, das auf dem Neumarkt wieder erstehen wird. Vom Neumarkt selber, seinen Häusern und seinem früher regen Leben wird nur der eine Ahnung haben, der alte Stiche und Bilder betrachtet und in der Stadtgeschichte bewandert ist. Zusammen mit dem Jüdenhof und den anliegenden Straßen und Gassen bildete dieser Platz bis zum 13. Februar 1945 ein städtisches Ensemble, das für die Geschichtlichkeit unserer Stadt von großer Bedeutung ist. Der Neumarkt entstand, nachdem 1548 unter Kurfürst Moritz die trennende Stadtmauer zwischen der Stadt und dem Frauenkirchenviertel nieder gelegt wurde. An dieser Stelle begann nördlich die spätere Augustusstraße, südlich die Moritz straße. Zusammen mit der älteren Siedlung um die Frauen(Marien)kirche bildete der neue Platz das IV. Viertel der Stadt. Im Jahre 1546 wurden hier 128 Häuser gezählt. Berechnet man nach Otto Richter 1 * für das damalige Dresden eine durchschnittliche Bewohnerzahl je Haus von 8,5, dann dürfen wir für das Gebiet um den Neumarkt 1552 ca. 1000 Einwohner anneh men. Das war damals der vierte Teil der Stadtbevölkerung. Wenige Jahre später (1603) woh nen hier schon 1786 Menschen. Die Bebauung des Gebietes war zügig vorangekommen, es wurde ein bevorzugter Wohnort. An der Moritzstraße war ein viergeschossiges Wohnhaus errichtet worden, und mit dem 1586 bis 1591 von Hans Irmscher geschaffenen Stallgebäude und dem Großbau des Gewandhauses durch Paul Büchner (bis 1592) erhielt dieser städtische Raum Bauten, die Jahrhunderte lang maßstäblich waren. Bis zum Jahre 1772 wuchs die Bevölkerung auf 3 490 »Köpfe«. In 226 Jahren hatte sich in der Enge hinter den Wällen die Bewohnerzahl nahezu verdreifacht. 2 * Es ist heute mit wenigen Ausnahmen unmöglich festzustellen, wer damals in den Häusern wohnte und nach einem arbeitsreichen Leben auf dem nahen Todesacker der Frauenkirche den letzten Platz angewiesen bekam. Die gegenwärtigen archäologischen Untersuchungen werden dazu sicher aufschlußreiche Zeugnisse zutage fördern. Aus alten Hausbüchern können wir aber entnehmen, daß der größte Teil der hier Wohnenden einem Handwerk nachging. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts lebten hier ein Teil der Hofbeamten, einige Herren vom Adel, ein paar Kaufleute, Ärzte, Lehrer und Künstler. Man darf sicher schließen, daß sich diese Struktur aus einer vergleichbaren sozialen Zusammensetzung der Anwohner vom Anfang des 17. Jahrhunderts entwickelt hatte, als die Bebauung des Neumarktgebietes abgeschlossen