46 Günter Jäckel Himmel und Erde der Vorstadt Der vom Hochwasser stets bedrohte Raum zwischen Elbe und Weißeritz war kein Ort der Poesie, nur selten der Künste. Pragmatismus und Rationalismus standen an der Wiege des »Ostra Vorwerks« von 1568 und der neuen Vorstadt, die ab 1670 nach den Plänen des Ober landbaumeisters Wolfif Caspar von Klengel zögernd Gestalt annahm und seit 1730 nach dem sächsischen Kurprinzen »Friedrichstadt« genannt wurde. Nur eine Brücke bildete anfangs die labile Verbindung zwischen Vorstadt und Residenz. Deren etablierte Zünfte wachten eifer süchtig über die neue Konkurrenz der Wachsbleicher, Wollkämmer, Handschuhmacher oder Brauer, die hier heimisch wurden. Im Haus des Schuhmachers Hauck auf der Friedrichstraße wohnte im März 1768 der junge Goethe bei seinem ersten Dresdner Besuch. Doch nur die Gestalt des Vermieters ist 43 Jahre später dem Verfasser des 8. Buches von »Dichtung und Wahrheit« in Erinnerung geblieben; nicht das Ambiente der Vorstadt. Er hatte um des kauzigen Schusters willen das einfache Quartier gewählt. Nun wird er mit den Appellen des alten Christentums empfangen: »Es scheint, daß Ihre Absicht ist, eine fröhliche Botschaft den Armen und Niedrigen zu verkünden; das ist schön, und diese Nachahmung des Herrn ist löblich; Sie sollten aber dabei bedenken, daß er lieber bei wohl habenden und reichen Leuten zu Tische saß, wo es gut herging, und daß er selbst den Wohl geruch des Balsams nicht verschmähte, wovon Sie wohl bei mir das Gegenteil finden könnten.« 1 ’ - Heute ist das Haus, wie vieles in der Friedrichstadt, von Bomben zerstört. Man hat sie sich in der Vergangenheit - trotz jenes barocken Gestaltungswillens entlang der Ostraer Gasse (später Brückenstraße, dann Friedrichstraße) - als recht bescheiden und eher ländlich vorzustellen. Lud wig Richters »Lebenserinnerungen eines deutschen Malers« zeigen die Freuden eines genügsamen Lebens; dies freilich weniger in dem schlichten Häuschen auf der Friedrichstraße 44, wo er 1803 geboren wurde, sondern im Gartenhaus des »Großpapa Müller« auf der Schäferstraße. Hier fand er noch »die alte Zeit, das vorige Jahrhundert, und zwar in seiner kleinbürgerlichen Gestalt« - also jener für ihn bezeichnenden idyllischen Spiegelung, die in seinen späten Holzschnitten Armut und naive Frömmigkeit zu verklärten Szenen des deutschen Volkslebens vereinte. »Die Müller-Großeltern wurden oft besucht. Das kleine Kaufmannslädchen, durch welches man den Eingang in das noch kleinere und einzige Stübchen nehmen mußte, war ein höchst interessantes Heiligtum. Das Fenster außen garniert mit hölzernen, gelb und orange bemalten Kugeln, welche Zitronen und Apfelsinen vorstellten, die aber niemals in natura vorhanden waren und auch bei der armen Kundschaft keine Käufer gefunden haben würden; ...« 2) Armut ist auch die zentrale Botschaft in der »Selbstbiographie« des acht Jahre älteren Carl Gustav Nieritz. Er, der hochbegabte Sohn eines Dresdner Armenschullehrers, mußte sich als