92 Roland Ostertag Das Ostragehege - ein Schritt in die Zukunft Dresdens Städte sind Lesebücher, Lektüren, sind hochkomplexe vernetzte Strukturen als Ergebnis und Abbild von Geschichte, wirtschaftlichem Tätigsein, menschlichem Leben und Leiden - auch Zerstören. Ergebnis der Dialektik zwischen Elementen des Naturraumes und Elementen anthropogenen Ursprungs, »des räumlichen Zusammenspiels der natürlichen geographischen Gestalten und der historischen Überprägung durch die Kulturarbeit von Generationen« (Ernst Neef)- Dresden ist ein einmaliger Fall einer solchen Überprägung, trotz seiner mehr fachen Zerstörung durch Kriege und Planungen ist sein Charakter, ist diese spezifische Dres den-Mixtur, die »atmosphärische Mixtur« noch vorhanden, liegt vor uns wie ein aufgeschla genes Lesebuch. In hohem Maße beteiligt das Ostragehege, jenes Gebiet nordwestlich der Innenstadt, um das die Elbe einen großen Bogen schlägt, das so groß und so weit ist wie die Neustadt nebenan, eine auch heute noch weithin unbebaute Auenlandschaft mit Elbwiesen, die von Zeit zu Zeit bei Hochwasser überschwemmt sind, mit zwei zerzausten ehrwürdigen Alleen, der Pieschener und der Übigauer Allee. Mitten darin der unter Denkmalschutz ste hende, gutshofähnliche Schlachthof von Hans Erlwein, dem Stadtbaumeister Dresdens nach der Jahrhundertwende, auch etwas Kleingewerbe und ein paar Schrebergärten. Das Ostragehege gehört zu Dresdens Charakter so wie der Große Garten, wie die breiten Auen, die F.lbwiesen der Uferlandschaft, wie die nördlich steiler, südlich sanfter ansteigenden Hänge. Es ist ein konstituierendes Element Dresdens, der grünen Stadt mit ihrer Einheit von Landschaft und Stadt. Dafür empfängliche und empfindliche Menschen waren schon immer von diesem widersprüchlichen Zusammengehörigen fasziniert und haben versucht, es mit ihrer jeweiligen Sprache einzufangen: Maler wie Caspar David Friedrich, Canaletto, Otto Dix; Literaten wie Fjodor Dostojewskij, Honore de Balzac, Dorothea Tieck; Musiker wie Carl Maria von Weber, Richard Wagner; Architekten wie Francois de Cuvilliös. Wem dies noch nicht genügt: Das Ostragehege Dreh- und Angelpunkt, Treffpunkt Dresden-konstituierender Elemente, der Friedrichstadt, des Elbhafens, Blickbeziehungen, wesentlicher Teil des Land schaftsgrundes, vor dem und mit dem sich die Stadt abbildet. Wem dies immer noch nicht genügt zur Achtung und Einschätzung des Ostrageheges, sollte mindestens auch dies wissen: Die Qualität des Klimas Dresdens, das Grund- und damit das Irinkwasser, der natürliche Sandfilter, die Qualität der Erde, der Luftwechsel von Westen her hängen von der Unversehrt heit und der Regenerationsfähigkeit dieses Gehegeareals ab. Keine Stadt von der Größe Dresdens besitzt einen derartigen Schatz. Doch erkennen wir dies?