3 So schmerzhaft wie die Scham über die deutsche Mittäterschaft (nach 1938) war das Ge heul in der Presse, das Geheul auf »propagandistischen Großveranstaltungen«, die den Ereignissen jeweils folgten. 160000 Teilnehmer gaben am 29. August 1961 auf dem Alt markt ihre »Zustimmung« zum Mauerbau; am 16. September folgte gleich noch so eine Mammutveranstaltung mit Kurt Hager. 2400 Rekruten wurden dabei öffentlich ver eidigt; die allgemeine Wehrpflicht sollte bald folgen. Die folgenden Wahlen wurden mit 99,9 Prozent Ja-Stimmen »gewonnen«, ein Ergebnis, an das man sich 28 Jahre lang ge wöhnen mußte. - Nun steigerte sich auch der Militarismus dieser streng kontrollierten und reglementierten Mai-Demonstrationen auf der Thälmannstraße: Das demütigende Ritual der Tribüne (das es den Dichtern leichtmachte, darüber zu spotten; Günter Grass, Volker Braun, Hans-Joachim Schädlich), die mühsam geordneten Vierundzwanzigerreihen der Demonstranten mit Fahnen, Transparenten, ikonenartigen Tafeln mit Ulbricht, Chruschtschow, dann Honecker und Breshnew, zuletzt mit Gorbatschow. - Auch diese Herrschaft schien unbesiegbar. Es kamen die nachhaltigen, oft folgenreichen Werbekampa gnen für die Partei, für die Kampfgruppen; es folgte die »bleierne Zeit« der Schulungen, Lehrgänge; einmal im Monat die marxistisch-leninistischen Weiterbildungen montags nach der Arbeitszeit (ein Philosophieprofessor der TU bewies hier die Weisheit von Ulb richts Wort: »Überholen ohne einzuholen« am Tafelmodell einer kybernetischen Schild kröte - es sollte nicht seine einzige wissenschaftliche Leistung bleiben). Wenn, zumal unter Intellektuellen, anfangs die Hoffnung bestehen mochte, daß mit dem Bau der Mauer auch das geistige Leben nun pluralistischer, zumindest differenzierter wer de, den ernüchterte Ende 1965 das 11. Plenum des ZK der SED mit seinen kulturpoliti schen Restriktionen. Diether Schmidt, Emil Ulischberger, Karl Knietzsch haben darüber gesprochen. »Der Weg der Roten Fahne« (mit Walter Ulbricht als vorläufiger Endstation) an der Westfassade des 1969 eröffneten Kulturpalastes darf als markanteste ikonographi- sche Bekundung künstlerischer Beflissenheit in Dresden angesehen werden. Angesichts der weltpolitischen Erstarrung und Konfrontation im Kalten Kriege sollte es nicht wundernehmen, wenn für sehr viele Menschen nur eine pragmatisch orientierte An passung stärker und bestimmender wurde als ein Widerstand. Öffentliches und privates Dasein verliefen getrennt. »Napoleon eroberte Preußen, und die Engländer bombardier ten Kopenhagen, und die Ackerleute säeten und schnitten. Der Müller mahlte und die Schmiede hämmerten ...« heißt es bei Johann Peter Hebel. Hier nun »kämpfte« man in den Gewerkschaftsgruppen um den Ehrentitel »Kollektiv der sozialistischen Arbeit« und meinte nicht zuletzt die Prämien, die es dafür gab. (Im September 1969 suchten in Dres den 5368 Kollektive mit zusammen 89 953 Mitgliedern, dieses hehre Ziel zum 20. Jahres tag der DDR zu erringen.) 98,15 Prozent der Wahlfähigen gaben ihre Stimme ab - nicht immer wohl aus patriotischem Herzensdrang. Man nahm - vor allem die Intelligenz - an unterschiedlichen »Willenskundgebungen« teil, stimmte (einstimmig) vorbereiteten Reso lutionen zu; man schickte seine Kinder zur sozialistischen Jugendweihe und kaum noch zur Konfirmation (weil die evangelische Kirche in Sachsen jetzt - anders als von 1940 bis 1944 - Widerstand zeigte und die Partei eine ihr willkommene Konfrontation herbei-