78 Matthias Griebel Ach, hätte ich doch ein Tagebuch geführt - Betrachtungen zur Alltagsgeschichte Die sechziger Jahre könnte man getrost als eine Epoche bezeichnen, wenn man bedenkt, daß zu deren Beginn die Berliner Mauer noch nicht existierte, Kennedy und Chruschtschow Weltpolitik bestimmten und man als DDR-Bürger sich bei der Polizei sogar eine Reise erlaubnis nach dem Westen besorgen konnte. Im Staate selbst begann sich ein bescheidener Wohlstand zu entwickeln, die Dinge des Alltags verbesserten sich, und auch in Dresden wurde mehr und mehr gebaut. Oft konnte man sogar die verheißungsvolle Formel von den »goldenen Sechzigern« verneh men. Aber vor dieser Zeit lagen der 17. Juni 1953, das Ende der Ungarischen Revolution von 1956, die erzwungene hundertzprozentige LPG-Mitgliedschaft der DDR-Bauern und eine kulminierende Fluchtbewegung nach dem Westen. Das Einmauern eines Volkes und Schießbefehl folgten, Militarisierung, politische Indok trination, Parolen und Aufbau sowie Proklamierung einer Scheinwelt füllten den Alltag. Längst gab es propagandistische Erfolgsmeldungen und traurige Realität nebeneinander, hatten die meisten Bewohner des Staates eine private und eine offizielle Meinung und ebensolche Verhaltensweisen für den Alltag. Wir wissen, wohin das alles führte und wir wissen auch, daß am Ende dieser sechziger Jahre der Einmarsch in die reformfreudige Tschechoslowakei erfolgte - wir wissen um die DDR-Beteiligung an dieser Strafaktion, um die Rolle Dresdens als Verhandlungsort der Ostblockführer, aber auch um die politische Ohnmacht der mit den gleichzeitigen Studentenkrawallen beschäftigten Westpolitiker. Und in dieser bewegten gesellschaftlichen Zeit gab es doch auch das gewöhnliche Alltags leben einer halben Million Dresdner. Es wurde gearbeitet, gelebt, gefeiert. Die Menschen mußten ja leben, Familien gründen, Kinder zeugen, ein Häuschen bauen. Aber sie woll ten auch etwas schaffen, verreisen, beruflich weiterkommen. Das tägliche Sich-Verstellen, die politische Lüge - auch die der Kinder in der Schule - gehörten zu diesem Circulus Vitiosus. Dies aufzuarbeiten, bleibt uns nun in den neunziger Jahren Vorbehalten, und wir müssen es bald tun, denn dreißig Jahre sind für die Erinnerung bereits eine lange Zeit. Vieles ist vergessen, dämmert langsam und nur bei intensiver Beschäftigung aus dem Gedächtnis herauf und ist den geschönten, offiziellen Zeitquellen ohnehin nicht zu entnehmen.