4 Erfreulich ist, daß inzwischen weitgehende Übereinstimmung besteht, daß der Freistaat Sachsen eine Vollverfassung erhalten soll. Zuvor war immer wieder diskutiert worden, ob etwa durch einfache In korporierung der Grundrechte des Grundgesetztes eine juristisch einfachere Lösung gefunden werden sollte. Erstmalig in einer deutschen Verfassung soll in der sächsischen Verfassung dem Grundrecht steil ein eigenständiger Abschnitt zu den Staatszielen an die Seite gestellt werden. Im Zusammenhang mit der Diskussion über das Verhältnis von politischen und sozialen Grundrechten ist diese Lösung gefunden worden. Lebhaft diskutiert wurde auch die Frage der sogenannten basisdemokratischen Ele mente in der Verfassung. Inzwischen besteht weitgehende Übereinstimmung, daß ein dreistufiges Ver fahren der sogenannten Volksgesetzgebung (Volksantrag, Volksbegehren, Volksentscheid) Eingang in die Verfassung finden soll. Als Pendant hierzu hat der „Gohrischer Entwurf’ ein „qualifikatorisches” Element vorgeschlagen: Die Sachverständigenräte, die zu Grundfragen der gesellschaftlichen und poli tischen Entwicklung Stellung nehmen sollen. Es ist dies der Versuch, qualifizierten Sachverstand et was abseits der politischen Bühne für politische und gesellschaftliche Fragen fruchtbar zu machen und verfassungsmäßig zu verankern. Sollte dieses Element Aufnahme finden, wäre dies ein eigenstän diger sächsischer Beitrag zur deutschen Verfassungsentwicklung. Ein weiterer Schwerpunkt der Dis kussion ist das Verhältnis von Parlament, vor allem der Opposition, und der Regierung. Dabei wer den insbesondere Gedanken aus der neuen Schleswig-Holsteinschen Landesverfassung in die Diskus sion eingetragen. Hier soll die süddeutsche Orientierung eine Ergänzung durch norddeutsche Elemen te finden. Bei der Diskussion um die neue sächsische Verfassung wird allerdings auch sichtbar, daß die „soziali stische” Vergangenheit unseres Landes ihre tiefen Spuren im Denken der Menschen hinterlassen hat. Die Diskussion um die sogenannte Volksgesetzgebung wird sehr ideologiebeladen geführt. Oft liegt der Forderung nach der unmittelbaren Beteiligung des Volkes ein ideologisierter Volksbegriff zugrun de, der davon ausgeht, daß die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung politisch interessiert und po sitiv motiviert ist. Hier schwingt das falsche marxistische Menschenbild („Der Mensch ist gut, nur die Verhältnisse machen ihn schlecht”) mit, das sich als so verhängnisvoll erwiesen hat. Die Diskus sion um die sozialen Grundrechte zeigt die Nachwirkungen der Versorgungsideologie im realsoziahsti- schen Staat, der die Eigeninitiative der Menschen systematisch unterminiert hat. Diese Beispiele verdeutlichen, wie notwendig eine Relativierung heutiger Sichtweisen durch Beschäfti gung mit Geschichte ist. Ich hoffe sehr, daß die Beiträge in diesem Heft von vielen Menschen in un serem neu erstandenen Freistaat Sachsen gelesen werden und daß sie auf diese Weise fruchtbar wer den für die gegenwärtige Verfassungsdiskussion. Unabhängig von dieser aktuellen Lage ist jedoch ge schichtliche Detailforschung immer ein Gewinn. Möge die überhebliche und beschränkte Annahme, daß die wesentliche Geschichte 1917 bzw. 1945 beginne, für immer hinter uns liegen! F F C Dresden, am 15. April 1991 Steffen Heitmann Sächsischer Staatsminister der Justiz 0