56 Michael Oehme Zu Fragen der Bach- und Schütz- Aufführungspraxis des Dresdner Kreuzchores unter Rudolf Mauersberger Bei diesem Thema hat man mit einem scheinbaren Widerspruch zu kämpfen. Zum einen erweist sich in diesen Tagen und auf dieser Konferenz, wie erstaunlich lebendig und nahe uns Persönlichkeit und Wirken Rudolf Mauersbergers geblieben sind. Zum anderen aber rücken uns beim Anhören Mauersbergerscher Tondokumente seine überlieferten akustischen Zeug nisse in vielem in beträchtliche historische Ferne. Es faszinieren uns an ihnen immer wieder die klangsinnlichen Seiten, der unverwechselbare herb-metallische Knabenchorklang - der erhoffte packende Zugang zu den Werken stellt sich nur teilweise ein. Hieran wird deutlich, daß es sich mit dem Lebenswerk von Rudolf Mauersberger tatsächlich um ein inzwischen historisches Phänomen handelt. Musik aber, auch aufführungspraktisch historisch-orien- tierte, lebt vom Wissen, Können und Fühlen der Gegenwart. Und zuvielfältig, stark und ent scheidend sind die Eindrücke, die gerade in den knapp zwei Jahrzehnten seit Mauersbergers Tod auf dem Gebiet der Bach-Interpretation und mit Abstand auch der Schütz-Pflege auf uns eingestürmt sind. Es wäre ungerechtfertigt, Mauersbergers Leistungen an ihnen zu messen. Seine Verdienste lassen sich nur aus den historischen Wurzeln und Bedingungen seiner Schaf fenszeit erklären. Denn: Mauersberger gehörte noch der Dirigentengeneration von Wilhelm Furtwängler, Hans Knappertsbusch und Fritz Busch an. Max Reger und Karl Straube waren nur 16 Jahre älter, der wesentlich „romantischer“ veranlagte Günther Ramin nur neun Jahre später geboren. Mauersbergers Wirken fällt in eine Zeit, in der das Wort Aufführungspraxis überhaupt erst thematisiert wurde und als Überwindung sogenannter „romantischer“ Auffassungen und meist als Annäherung an das historische Vorbild verstanden wurde. Zuvor entschied sich Auf führungspraxis im wesentlichen daran, ob Werke bestimmter Komponisten aufgeführt wur den oder nicht. Insofern hat Mauersberger ein wichtiges Stück Geschichte der Aufführungs praxis im 20. Jahrhundert mitgeschrieben. Daß Rudolf Mauersberger in Aachen und Eisenach die regelmäßige Aufführung der Werke Bachs zu einer damals keineswegs selbstverständli chen Selbstverständlichkeit werden ließ, daß er sich dafür geeignete Ensembles schuf oder aus prägte - dies sind aufführungspraktische Verdienste an sich gewesen. Die in der „Zeitschrift für Musik“ vorgenommene Apostrophierung Mauersbergers, einer der ersten deutschen Bach-Dirigenten zu sein 1 und die Rede von Eisenach als einem Bach-Bayreuth vermitteln etwas von der Ausstrahlungskraft und Wertschätzung, die Mauersberger bereits damals genoß. Daß er auch in Dresden mit den Großwerken, sämtlichen Motetten und ausgewählten Kantaten, vor nehmlich zu den hohen Festen, der Bach-Pflege lebenslange Kontinuität verlieh, daß er die Werke des Thomaskantors in der historisch verbürgten Besetzung mit Knaben- und jungen Männerstim men aufführte, daß er insgesamt einen sogenannten „modernen“ Bach-Stil praktizierte - unver fälscht, klar, durchsichtig und zügig - gehört zu seinen großen Lebensleistungen.