6 Martin Flämig Rudolf Mauersbergers 40jähriges Kreuzkantorat - Fundament der Entwicklung des Dresdner Kreuzchores ab 1971 Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Freunde! Ich habe in meinem Leben nur wenige persönliche Begegnungen mit Rudolf Mauersberger gehabt. Sie waren aber trotz der geringen Zahl wegweisend und hilfreich. Als ich 1934 durch Vermittlung des Evangelisch-Lutherischen Landeskirchenamtes meine Studien bei dem damals neu ernannten Landeskirchenmusikdirektor Alfred Stier aufnahm, empfahl er mir, die Kreuzchorvespern so oft wie möglich zu besuchen. Die Empfehlung des unvergessenen Singmeisters, dem ich sehr viel verdanke, zeugte von menschlicher Größe. Denn Alfred Stier war 1930 Mitbewerber um das Kreuzkantorat. Ich habe diesen Rat befolgt und bin reich belohnt worden. Mich beeindruckten vor allem folgende Dinge: 1. Die Programmgestaltung. Es wurden nicht wahllos Werke gesungen, die der Kreuzchor gerade studiert hatte, sondern es wurden so oft wie möglich Werke musiziert, die in den Ablauf des Kirchenjahres eingegliedert werden konnten und die Vesper dadurch eine litur gische De-tempore-Prägung erhielt. 2. Die vorbildliche Stoffbeherrschung durch den Kreuzkantor. Er hat sich so intensiv mit allen auf geführten Stücken beschäftigt, daß er sie - ich gebrauche nicht gern den ungenü genden Ausdruck „auswendig“, sondern lieber die umfassenderen Bezeichnungen im Französischen und Englischen, nämlich - „par coeur“ bzw. „by heart“, das heißt „durchs Herz“, dirigieren konnte. 3. Die Einbeziehung der Gemeinde. Er hat in den frühen 30er Jahren mit der Aktivierung der Gemeinde begonnen und sie bis an sein Lebensende fortgesetzt. Das spiegelt sich vor allem in seinen Kompositionen wider, in denen die Gemeinde bis hin zum „Dresdner Requiem“ beteiligt wird. 4. Die bis dahin kaum erfolgte Berücksichtigung der zeitgenössischen Musik. Meine ersten Begegnungen mit den Kompositionen von Hugo Distier und Ernst Pepping erfolgten in den Kreuzchorvespern. Intensive Begegnungen mit Rudolf Mauersberger hatte ich in den Jahren 1948 bis 1959. Er besuchte oft, zusammen mit Fräulein Hofmann, Konzerte von mir, an die sich fruchtbare Aus sprachen anschlossen. Als ich 1951/52 mit dem Chor der Kirchenmusikschule die zeitgenössi schen Werke „Dein Reich komme“ von Johannes Drießler und „Das Gesicht des Jesaja“ von Willy Burkhard zur Erstaufführung brachte, wurde ich neben begeisterter Zustimmung aus der Öffentlichkeit von der Kirchenbehörde und auch von Kollegen heftig angegriffen. Rudolf Mau ersberger dagegen sprach mir Mut zu und bestärkte mich, auf diesem Weg fortzuschreiten. In den Jahren, in denen ich ausschließlich in der Schweiz wirkte, das war von 1960 bis 1970, habe