9 Gerhard Arnhardt Antinomien in der Bildungsauffassung zur neuhumanistischen Reform der Kreuzschule Dresden Die deutsche Bildungslandschaft der siebziger und achtziger Jahre unseres Jahrhunderts ist beeinflußt von massiven Kritiken ihres Theoriebezuges. Im Westen wurden Emanzipation, Sozialisation oder Identitätsfindung vehement eingeklagt - allgemeine Menschenbildung beargwöhnt. Anonyme Bildungszwänge, so hörte man, seien nicht dazu angetan, die Würde des Menschen angesichts aktueller Sachzwänge zu befördern. Von seiten beruflich gebundener Bildung wurde die geisteswissenschaftliche Tradition als ursächlicher Entfrem dungsgrund in die Pflicht genommen, der despotischen Kräften unverantwortliche Freiräu me gewährt habe. . Im Osten hingegen trieben Kritiken an vermeintlichen Persönlichkeitsdefiziten - wie Dop- pelgesichtigkeit, Ungehorsam, Verweigerung, Resignation oder Widerspruch - zu einem staatlich verordneten zweckgerichteten Konzept der allgemeinen Bildung mit dem Ziel der Verinnerlichung einer bis ins Detail reglementierten Zwangssozialisation. Die Hinwendung zu »wahrer« Menschenbildung, die antike und klassische Intentionen einschloß, wurde auf beiden Seiten - wenn auch mit unterschiedlicher Motivation und Intensität - als überlebt oder gar gefährlich abgelehnt. Solche Bildung in »abstrakten Rau men« zeuge »Fachidioten« und Parteigänger, die in ihrer Begrenztheit und Lebensfremd heit das Ziel der Erziehung auf Anpassung reduzieren, Bildung am Status quo fortschrei ben und damit die geistige und sittliche Entwicklung begrenzen. Spätestens seit 1986, als die Pädagogen den »Proteus« Allgemeinbildung wieder zu ihrem Kongreßthema machten, steht diese im Sinne der praktischen Vernunft wieder zur Dispo sition. Seither werden Fragen nach dem Verhältnis von sachkundigem, mündigem Urteil, nach der sozialen Existenz im Verhältnis zu uneingeschränkt-aufgeklärter humanistischer Bildung und polytechnisch-technologischer Bildung, in der sich der »arbeitende Mensch« wiederfinde, diskutiert. In diese Vielfalt widerstrebender Meinungen waren im April 1991 die Veranstaltungen zum »775jährigen Jubiläum von Kreuzchor und Kreuzschule« gestellt. Hier soll nicht um mehr oder minder verbürgte Daten gestritten werden. Es bestand die Chance, überkom mene Klischees, weitergetragene Zweckinterpretationen und vordergründiges Huldigungs gehabe in Frage zu stellen. Der fruchtbare Zeitgeist sollte sich aus der Spekulation erhe-