29 Christian Eramrich ASPEKTE LITERARISCHEN LEBENS IM DRESDNER RAUM ZWISCHEN 1950,UND 1960 In ihrer Rede auf dem II. Deutschen Schriftstellerkongreß im Mai 1950 be- zeichnete Anna Seghers "die grandiose Aufbauarbeit", die sich in der DDR vollzog, als den "größte(n) Prozeß, der vielleicht je da war ..." Er sei um so größer, weil er auf dem Boden geschehe, der früher das Versuchsfeld des Hitler-Faschismus gewesen ist. Er sei ein großartiger und einmalig in der Weltgeschichte sich vollziehender Aufbau. Im gleichen Atemzug warnte die lebens- und kampferfahrene Kommunistin jedoch davor, den Umwälzungsprozeß in der sozialökonomischen und politischen Sphäre gleichermaßen auch im Be wußtsein der Menschen zu erwarten. "... aber was in der Planwirtschaft ... geschieht, das geschieht wahrscheinlich nicht nach denselben Gesetzen und mit demselben Tempo im Innern eines Menschen ..." , Anna Seghers stützte sich auf die im Exil gewonnenen Erfahrungen der antifaschistischen Schrift steller , daß Literatur nur in sehr vermittelter Weise weltanschauliche Ver änderungen bewirkt und damit zur Herausbildung von Geschichtsverständnis und humanistischen Wertvorstellungen beiträgt. Das kulturpolitische Konzept der Partei der Arbeiterklasse war deshalb in den fünfziger Jahren darauf gerichtet, diesen Widerspruch produktiv aufzu— lösen. Alle Kunst— und Literaturschaffenden wurden dazu aufgerufen, in un serem Lande ein geistiges Klima schaffen zu helfen, das jungen und älteren Bürgern, Abwartenden und Entschlossenen jenen historischen Optimismus ver leihen sollte, ohne den der Aufbau des Sozialismus nicht zu bewältigen war. Auf einer Arbeitsberatung mit Schriftstellern, bildenden Künstlern und Mu sikern im Oktober 194-8 betonte Anton Ackermann den untrennbaren Zusammenhang von Politik, Ökonomie und Kultur: "Dieser Plan (d.i. der Zwei jahrplan, d.V.) ist deshalb von einem neuen Kulturethos durchdrungen, weil er sich zur Aufgabe macht, sowohl den physischen als auch den geistigen Hunger der Massen zu stillen und das Niveau des materiellen Lebens zu heben. Eine derartige Wirkungsstrategie war nur über die aufklärerische Funktion von Literatur und Kunst zu verwirklichen. Es ging in erster Linie um die demokratische Bewußtseinsbildung aller Klassen und Schichten unseres Volkes. Die historische Wahrheit über den "Irrweg einer Nation" (Alexander Abusch) mußte erkennbar gemacht werden. Sonst wäre die Veränderung unserer Gesell schaft von Grund auf nicht möglich gewesen. Ein neues Verhältnis der Auto ren zu den Lesern zu schaffen, war nach zwölfjähriger faschistischer Massen manipulierung kulturpolitisch unabdingbar. Wenige Wissende mußten damals den vielen Unwissenden helfen, sich weltanschaulich zurechtzufinden. Anna Seghers sprach von der notwendigen Erziehungsarbeit der Schriftsteller, die auf die Grundfragen "Was ist geschehen? Wodurch geschah es? ... Was muß geschehen?" zu antworten hätten, um "ihr Volk zum Begreifen seiner selbst-