28 Neue Kräfte innerhalb der bürgerlichen Schichten begannen sich zu artikulieren mit dem Ziel, eine neue Gegenstands- und Geisteskultur hervorzubringen, die nicht nur ein moder nes Bild gegenständlicher Umwelt entwirft und realisiert, sondern auch den Gesellschafts körper in diesen Veränderungswillen einbezieht. John Ruskin sowie die von William Morris geführte englische Reformbewegung Arts and Crafis leiteten die neue Phase der europäischen Reformbewegung ein. Neben der Suche nach neuen Gestaltungsideen, die sich durch Übersichtlichkeit, Klarheit, Funktionalität und Schönheit handwerklicher Arbeit auszeichneten, war Arts and Crafis eine eminent poli tische Bewegung, die die Schaffung einer Massenkultur für eine von Entfremdung befreite Gesellschaft anstrebte. Das Morrissche Ziel einer Versöhnung von Kunst und Leben zielte aber nicht auf eine Erneuerung industrieller Produktkultur, sondern seine Vorstellungen orientierten sich auf die Aufhebung der in der Epoche des Historismus fortgeschrittenen Trennung von Zweck und Schönheit, Form und Konstruktion am handwerklich produ zierten Gegenstand. Dieser für die englische Reformbewegung fruchtbaren Verbindung von Geist und Form konnte sich auch die kontinentale >neue Bewegung< nicht verschließen. Die Kunde von einer epochalen gestalterischen Wende in der kunstgewerblichen und architektonischen Gestaltungspraxis erreichte die Großstädte des Kontinents nach 1890, zu einer Zeit, als z. B. in Deutschland Industrieproduktion und Nationaleinkommen rasch anwuchsen, Eng land aber seine ökonomische und kulturelle Führungsposition weitgehend verloren hatte. Vor allem über Zeitschriften und Ausstellungen wurden die neuen Wege englischer Gestal ter publik gemacht und von den schon aufkeimenden Kunstgewerbebewegungen in Brüssel, Paris, Wien, Berlin, München mit Euphorie aufgenommen. Den räumlich-gegenständlichen Eindruck einer ganz von Arts and Crafis inspirierten Innenraumgestaltung in Deutschland zu vermitteln, gelang Baillie-Scott in Darmstadt, der 1897/98 auf Wunsch des hessischen Großherzogs Ernst Ludwig ein Frühstücks- und Empfangszimmer im Neuen Palais ausstat tete. Zum anderen leistete Hermann Muthesius einen wichtigen Beitrag zur Vermittlung englischer Gestaltungskultur. Er reiste 1896 im Aufträge Wilhelms II. als Kulturattache nach London, um die neue Bewegung zu studieren und in Deutschland zu popularisieren. Neben den Anregungen aus der malerischen und textilen Kultur von Arts and Crafis mün deten in die europäische Stilkunst auch Einflüsse aus der japanischen Farbgrafik und Raum kunst. Alle diese Erscheinungen korrespondierten mit einem wirtschaftspolitisch dringlich gewordenen Bedürfnis nach abgeklärter, technisch reproduzierbarer Formensprache. Der deutsche Jugendstil zeigte sich in seiner formalen Erscheinung nicht als homogene Stil- Einheit, wie bisher angestrebt, er war es aber hinsichtlich der Einbindung von Raum, Gegenstand und Mensch zu einem übergreifenden expressiv-künstlerischen Gestaltaus druck. Die verschlungene Bewegtheit floraler Motive oder die geometrisierenden Varianten deuteten auf Naturnähe hin, auf Bezüge, die im Historismus vollkommen verlorengegan gen waren. Die Ästhetik des Organischen in der Stilkunst wollte Trennungen zwischen Mensch und Natur, zwischen Bewußtsein und Realität in der Gestaltung von Räumen und Gegenständen aufheben.