2 Joachim Menzhausen Dresdner Reformbewegung nach 1900 Sachsens Einwohnerzahl hatte sich zwischen 1815 und 1900 annähernd vervierfacht. Es »hat unter allen europäischen Staaten die dichteste Bevölkerung«, vermerkt Meyers Kon versations-Lexikon von 1909. Migrationsbewegungen, die prozentual die heutigen über steigen, hatten innerhalb eines halben Jahrhunderts Leipzig und Dresden zu Großstädten anwachsen lassen mit annähernd ebenso vielen Einwohnern wie heute; ihre Zahl hatte sich etwa um das Zehnfache vermehrt. Sachsen, so das Lexikon, »ist eins der Hauptin dustrieländer der Erde«. Selbstverständlich zeitigte diese Entwicklung soziale Verwerfungen dramatischen Ausma ßes, weil sie alle historischen Erfahrungen überstieg. Beide Städte hatten gleichzeitig Stra ßen- und Verkehrsnetze, Be- und Entwässerungs- und Energieversorgungssysteme zu bauen, Gerichte, Verwaltungsgebäude, Theater, Museen, Krankenhäuser, Kirchen, Schu len, Hochschulen, Friedhöfe und Bahnhöfe in Dimensionen, die es bis dahin nicht gab. Selbst der Ausbau der deutschen Städte nach 1945 ist nicht zu vergleichen mit der Schubkraft dieser Industrialisierungsphase, ihrer Problematik und ihrem Innovationsbe darf. Die neuen Sozialstrukturen veränderten die historischen Städte rigoros. Wenn Deutschlands erster Denkmalpflegetag 1900 in Dresden stattfand, dann gewiß auch des halb, weil die schon damals berühmte Altstadt besonders bedroht war. Es war schon längst keine geschlossene Barockstadt mehr, die 1945 in Trümmer sank. Wer Fritz Löfflers »Das alte Dresden« unter diesem Gesichtspunkt durchsieht, wird erstaunt ge wahr, wie viel an erlauchter Bausubstanz um 1900 fiel. Gotthard Kuehl hat den inner städtischen Abbruch gemalt, und noch wir vermerken die gänzlich andere Beziehung jener Generation zum historischen Erbe, wenn wir das Bühnenhaus von 1913 über dem Kronentor des Zwingers sehen, das bis dahin frei stand, oder den Erlwein-Speicher gegen über dem Japanischen Palais. Der Innovationsdruck hatte nicht nur positive Folgen. Untersucht man, welche Bewegun gen am Ende des 19. Jahrhunderts den Begriff der Reform benutzten, so findet man die Partei der Antisemiten (»Deutsche Reformpartei«) neben jenen, die das alte Gymnasium nach den praktischen Erfordernissen der Industriegesellschaft umwandelten (»Reformgym nasien«); Naturheiler, die in Opposition zur Schulmedizin Kleidung und Nahrung verän dern wollten, neben Reformjuden und Reformkatholiken, die vergleichbare Anpassungen in ihren Bereichen erstrebten. Die neue Wissenschaft der Hygiene brachte auch den ver-