62 Emile Jaques-Dalcroze Der Rhythmus als Erzieher Schon seit etwa zwanzig Jahren hat die Wissenschaft genauer beobachtet, welche Bedeutung rhythmische Bewegungen der Glieder für die intellektuelle Entwicklung anormaler Kinder haben. Die Muskelempfmdungen bereichern das Gehirn mit Gedächtnisbildern der Bewe gung, die Harmonisierung gegensätzlicher Muskelbewegungen gibt dem Geiste Ruhe zum Nachdenken, sie schafft außerdem unmittelbare Verbindungen zwischen dem Zentralnerven system, das seine Weisungen gibt, und dem Körper, der diese Weisungen auszuführen hat. Wenn nun dergestalt eine Übung der nervösen Zentren eine glückliche Wirkung auf die gei stige Entwicklung anormaler Kinder ausübt - warum nicht eine ähnliche auf die Entwick lung normaler? Wenn einfache rhythmisch geordnete Turnübungen in dem Organismus nor maler Menschen Ordnung und Klarheit schaffen - ist es nicht vorauszusehen, daß eine voll kommene und feiner ausgearbeitete rhythmische Gymnastik einen wohltätigen Einfluß auf die ganze Geistesart eines normal begabten Kindes hat? Das Übel ist nur, daß es eine solche Gymnastik nicht gibt (oder gab); denn man darf sie nicht mit dem üblichen Turnen ver wechseln, auch nicht mit einem Turnen oder Reigenspiel unter Musikbegleitung, was besten falls ein metrisches, nicht aber ein rhythmisches Turnen sein kann. Zweifellos wird durch ein Turnsystem, das körperliche Übungen in bestimmtem Zeitmaß ausführen läßt, der Sinn für Ordnung und Genauigkeit geschult. Darauf beruht z. B. das Exerzieren des Militärs. Aber der Takt ist noch nicht der Rhythmus, so sehr er sich mit ihm verbindet. Rhythmus ist im Vergleich zum Takt die Mannigfaltigkeit in der Einheit, wäh rend der Takt die Einheit in der Mannigfaltigkeit gewährleistet. Der Rhythmus ist individu ell, der Takt disziplinierend. Wollen wir eine Gymnastik schaffen, die im besonderen Sinne rhythmisch ist, also ein System, das die Glieder in den Stand setzt, mit Leichtigkeit die natürlichen Rhythmen zu realisieren, so wird es sich nicht nur darum handeln, die Glieder zu gewöhnen, sich in bestimmten Zeitmaßen zu bewegen, sondern auch die Zeitdauer wirk lich zu verändern, jeden Muskel in den Stand zu setzen, sich schnell oder langsam zusam menzuziehen oder auszudehnen und die langsame Reaktion des einen mit der schnellen des anderen zu verbinden. Man wird weiterhin danach streben, den Intensitätsgrad solcher Mus kelkontraktionen willkürlich zu verändern, jeden Teil des Körpers daran gewöhnen, mit einem Minimum von Kraft jedes Crescendo oder Decrescendo einer Bewegung zu innervie- ren und schließlich das Crescendo in der Bewegung eines Gliedes mit dem Decrescendo eines ändern zu vereinigen. Man wird alle Glieder befähigen, entgegengesetzte Bewegungen auszuführen, und wird auch durch eine besondere Übung der Hemmungsinnervationen es dahin bringen, jede Bewegung willkürlich unterbrechen und verändern zu können. Indem