6 Der aus Genf nach Hellerau berufene Choreograph Emile Jaques Dalcroze leitete die von ihm entwickelte Kunstform allerdings aus anderen Quellen her. Er war, wie sein Lands mann Hodler, von Steiners Naturphilosophie beeinflußt, speziell vom Prinzip der Eurhyth- mie, und verband dies mit volksbildnerisch-sozialistischen Ideen, parallel zur Reformpäd agogik. Er begann seinen Unterricht mit Kindern und Jugendlichen aus Hellerauer Arbeiter und Bürgerfamilien noch 1911, um so in »sozial-künstlerischem Geist« Festspiele zu ent wickeln, die »einheitliche Volksspiele« sein sollten, in denen »der Rhythmus zur Höhe einer sozialen Institution erhoben« wird. Vor dem Ersten Weltkrieg strömten Schriftsteller, Musiker und Choreographen aus der ganzen Welt herbei, um dieses Wunder von Schön heit, Licht und Rhythmus zu bestaunen. 1914 verlosch es für immer. Daß es keine Wie derbelebung gab, bezeugt, daß jener hochgemute Idealismus eine Spätblüte des 19. Jahrhun derts gewesen war. Klaus-Peter Arnold referiert in seinem gründlich recherchierten Buch »Vom Sofakissen zum Städtebau« (Dresden 1993) Bedenken eines Sozialdemokraten gegen dieses Modell zur Lösung sozialer Konflikte durch Kunst. Es ist das, was Christian Mor genstern von anderer Warte in seinen »Galgenliedern« ironisch bezeichnet als »das Kunst handwerk als Religion«. Das Hellerauer Reformwerk war janusköpfig, rück- und vorwärtsgewandt zugleich. Die berühmte III. Deutsche Kunstgewerbeausstellung, die 1906 in Dresden veranstaltet wurde und ein Vorbote der Hellerauer Bewegung war, ebenso wie der Werkbund und der Dürer bund, trachteten nach neuen, schlüssigen Raumkunstwerken, einem verbindlichen Stil nach dem Vorbild des Barock, und zwar für alle sozialen Schichten. Es gab dabei aber Villen und Interieurs, Ausstattungsgegenstände wie die von Riemerschmid entworfenen Meißner Porzellanservice oder Metallarbeiten aus der Hellerauer Mendelssohn-Werkstatt, die ent schieden elitär ausgerichtet waren und in engem Formzusammenhang stehen mit den edel melancholischen Werken Sascha Schneiders, Hans Ungers und Oskar Zwintschers - mehr fin de siecle als Aufbruch, dennoch dem Reformstil gemäß. Andererseits aber waren Reihenhäuser von vorbildlicher Architektur, die Idee der Garten stadt, Maschinenmöbel nach Künstlerentwürfen in höchster Qualität, der Ausdruckstanz überhaupt, künstlerisch-soziale Errungenschaften und visionäre Antizipationen von zivilisa torischen Grundsätzen, die für die Industriegesellschaft bis heute gültig sein sollte. Anmerkungen H Vergl. Menzhausen, J.: Kliniksanatorium Bad Gott leuba. - ln: Zeitschrift fiir Physiotherapie, Jg. 42 (1990) S. 279 2 > Löffler, Fritz: Das alte Dresden. - Leipzig 1982. — S. 441