2 Vorbemerkung 1866 hatte Sachsen wieder einmal auf der Seite der Verlierer gestanden. Bei Königgrätz schlug die preußische Armee mit den österreichischen auch die sächsischen Truppen. Bismarck gliederte das beiläufig besiegte Königreich seinem Norddeutschen Bund an, so daß die Reichsgründung vier Jahre danach ftir Sachsen nur die Festschreibung einer ohne hin verlorenen politischen Eigenständigkeit brachte. Doch da hatte der notorisch Unter legene schon längst andere Kraftfelder für sich entwickelt. Schon zu Beginn des 19. Jahr hunderts war Sachsen Vorreiter der deutschen Industriealisierung (und damit Schauplatz elementarer sozialer Umbrüche). Der Prozeß setzte sich im Gefolge der bürgerlichen Libe ralisierung von 1831 mit einer Urbanisierung des ganzen Landes fort. In der politisch so restriktiven Ära Beust (Staatsminister von 1850-1866) entfaltete sich staunenswerte Wirt schaftskraft. 1871 besaß Sachsen das dichteste Eisenbahnnetz Deutschlands und ein hoch- entwickeltes Post- und Telegraphensystem. Es war führend in der Textilindustrie und konkurrierte im Maschinenbau erfolgreich mit dem Marktführer England (in nur 15 Jah ren hatte sich die Zahl der alles bewegenden Dampfmaschinen verdreifacht). Die Land wirtschaft Sachsens war bei der Reichsgründung den anderen deutschen Ländern in ihren Erträgen um 20 Jahre voraus. So wurde es möglich, einen rapiden Bevölkerungszuwachs aufzunehmen, denn mit 170 Einwohnern pro Quadratkilometer hatte das kleine Sachsen mit die größte Bevölkerungsdichte auf dem Kontinent. Derart gerüstet trat Sachsen in die berühmten Gründerjahre ein und fieberte mit. Allein 1871/72 wurden hier 150 Aktiengesellschaften gegründet (in den drei Jahrzehnten zuvor waren es 90), wobei sich schon damals der Löwenanteil des Kapitals bei den Banken kon zentrierte. Nach Gründerkrach und neuer Konsolidierung waren in Sachsen 1895 schließ lich fast 60 Prozent aller Erwerbstätigen in Industrie und Handwerk beschäftigt, im Reichsdurchschnitt waren es noch immer nur 40 Prozent. Der Begriff vom „Roten König reich” macht die Runde, denn mit der besonderen industriellen Expansion eskalierten die sozialen Widersprüche. Auch das sozialdemokratische Gegengewicht zu einem ungebrem sten deutschen Unternehmertum kam zunächst aus Sachsen, aus Leipzig. Bebel wurde zum großen Antipoden des Reichskanzlers. Bei den letzten Wahlen unter dem Sozialisten gesetz erhielt die SDAP in Sachsen 42 Prozent der Stimmen, das waren doppelt so viel wie im Reich. Mit dem Geld machte sehr bald die Angst die Runde. „Die Hungrigen ... werden uns fressen ” orakelte Bismarck schon 1884. Richard Wagner und Friedrich Nietzsche, zwei sächsische Landeskinder, wurden - letzterer erst für die Nachwelt - mit ihren Visionen von Gefährdung zu den großen prophetischen Geistern der Zeit. So lebte die gerade erst erwachte Bürgerwelt von Anfang an aus einer gespaltenen Wurzel. Sie blieb allgegenwärtig - vor allem in der Kunst. Die sächsische Hauptstadt lag freilich etwas abseits von diesem Strudel. Dresden war so etwas wie königliche Großstadt. Seit 1830 hatte sich die Bevölkerung auf 300 000 Ein wohner verdreifacht. Neben einer leistungsstarken, sehr differenzierten Industrie (Nah rungsmittel und Zigaretten, Pharmazie, Feinmechanik/Optik, Elektromaschinenbau, Kera-