53 Simone Lässig Politische Radikalität und junge Kunst - zum Wirken von Otto Rühle in Dresden l/C Vorbemerkung der Redaktion Ein merkwürdiges Vakuum folgt auf den Zusammenbruch der alten Staats- und Parteidoktnn der gewese nen DDR. Mit einem Schlag scheinen alle gewohnten Weltbilder - nicht nur die des Staatskonformismus, auch die oppositionellen Denkens - in völlig neue Beleuchtung zu geraten. Die schlichte Frage nach Woher und Wohin gerät in den neuen Bundesländern Ende 1990 mitunter zu einer Provokation. Wurzellosigkeit macht kurzatmig aggressiv, zumindest nervös. War alles falsch? - Wie auch immer man sich heute emo tional zu den linken Utopien verhalten mag sie sind Produkt dieses Jahrhunderts, Ergebnis realer Lebens erfahrung und oft großer existentieller Not. Nur die neurotische Konfliktangst und Reinlichkeitswut der SED hat, wie sich zeigt, dem alten DDR-Volk das Empfinden für die humanen Anfänge der linken Be wegung weitgehend ausgetrieben. Widersprüche durften offiziell nicht sein (für Ahnvater Marx war die Polarität des Lebens noch Quelle aller Entwicklung), und wer an sich selbst den Widerspruch wahrnahm und artikulierte, wurde entfernt. Das betraf Gegenwart wie Vergangenheit. Gerade die Säuberung sprich Fälschung der eigenen Herkunft ging bei der „alten Garde" mitunter besonders rabiat vonstatten. Absurde Lebensangst. Es wird viel Arbeit brauchen, auch mit diesem „linken" Teil der deutschen Geschichte wieder unbefangen umzugehen. Dabei war er immer beglaubigt durch einprägsame Biographien kräftiger Persönlichkeiten, mutiger Charaktere, aber eben sie wurden bevorzugt aus den Geschichtsbüchern ausgebürgert. Nur in den Künsten, in Bildern und Texten, hat sich z. T. etwas erhalten von ihrer ursprünglichen Strahlkraft. Man betrachte die Bildnisse des deutschen Expressionismus. Ihre formsprengenden Köpfe sind uns selbstverständ lich „links"; wo werden wir auch einem Meidner, einem Grosz, einem Felixmüller, einem Dix die Sujets verargen. Die gemalten Utopien dieser Generation berühren uns noch immer ganz ursprünglich in ihrer Lebendigkeit, und selbst der heutige horrende Marktwert des deutschen Expressionismus mag als Signal verborgener Empfänglichkeit gelten für die große Aufbruchstimmung zu Beginn unseres Jahrhunderts. Nur die Kunst redet also unverstellt von der tatsächlichen Bewegung der Geschichte? Es gibt ein wichtiges Gemälde von Conrad Felixmüller aus seiner expressionistischen Phase: Otto Rühle spricht. Ein energischer, energiestrotzender Agitator, seine Gesten ein einziges Gleichnis für revolutionäres Tun. Das 1920 gemalte Bild taucht in der Literatur ziemlich häufig auf, und durch dieses und einige gra phische Varianten des gleichen Themas ist der Name Rühle überhaupt noch ein wenig im Gedächtnis. Das Bild rettet seinen Inhalt. Dabei ist Rühle selbst ein hochinteressanter, weil exemplarischer „Fall" der prole-